zurück zur Startseite

Herr Luft sorgt vor

Andreas Altmann hat als Autor von Reisebüchern die halbe Welt gesehen. Jetzt auch Innsbruck. Fragestellung: Macht Sesshaftigkeit intolerant? Eine Polemik

Tatort Manhattan. Nur ein leises Wimmern war zu hören. Es war George F., der hinter seiner Wohnungstür seufzte. Undenkbar für ihn, sie zu erreichen. Der Weg zu ihr war verbarrikadiert, wie die fünf Meter zum Telefon, zum Fenster, zum Balkon.

Das Röcheln rettete ihm das Leben, ein Passant kam vorbei und verständigte die Feuerwehr. Mit schwerem Gerät musste George ins Freie gehievt werden. Die Diagnose war ein Kinderspiel, die Krankheit schien weit verbreitet: Der Dicke hortete. Er konnte von nichts lassen, seine Wohnung glich einer Müllhalde, er war ein Weltmeister der Sesshaften geworden, er saß fest, sogar der Katzensprung zur Tür – und hinter jeder Tür wartet die Welt – war ihm verschlossen. Er siechte in der eigenen Unbeweglichkeit.

Tage nach der Evakuierung besuchte ihn ein Reporter. Beim Interview erwies sich George, der Anhäufer und Weltverweigerer, als Flachkopf. Millionen Blatt Papier lagen bei ihm herum, alle gelesen und nichts verstanden. Seltsame Sätze über Nicht-Weiße und Nicht-Amerikaner kamen dem Fettfleck über die Lippen. Ganz offensichtlich, auch sein Geist verwitterte. George roch. Nach kleinem Leben, nach immer dem eigenen Bauchnabel.

Tatort Innsbruck. Ich besuche das Wüstenrot-Büro. Ich nenne mich ab sofort Thomas Luft und mache mir Sorgen um meinen 14-jährigen Sohn Ferdinand, ich will ihn versorgt wissen. Die liebe Bernadette K.* bittet mich, Platz zu nehmen. Sie sorgt sich gleich mit und lässt seitenweise Versorgungspläne ausdrucken, legt einen Trumpf nach dem anderen vor: Dynamisches Bausparen, 80%-Jubiläums-Bonus, VorsorgeSparenPlus, CleverBausparen, 4%-Prämiengarantie, Effektivverzinsung, Maximales Guthaben. Lauter Wörter, die Ferdinand die blaueste Zukunft versprechen. Leider spricht Bernadette nie die Wörter Jetzt oder Heute oder Gegenwart aus. Alles, was sie hier verkaufen, ist Zukunft. Für sie sollen wir uns „rüsten“. Für das augenblickliche Leben trainiert hier niemand.

Ich frage Bernadette, was ich tun soll. Dem Sohn zum 18. Geburtstag – nach Bestehen der Matura – eine Weltreise schenken oder ihm einen Grundstock legen zur finanziellen Absicherung? Jetzt schwankt Bernadette, Weltreise klingt schon sexy. Sie schwankt, fällt aber nicht, bleibt allen Ängsten treu: „Nein, unbedingt Sicherheit!“ Okay, nach den ersten sieben Jahren Sparen könne neu über die Welt verhandelt werden, Bernadette, wunderbar kryptisch: „Denn dann hat das Geld einen Wert.“

Die Wüstenrot-Menschen gehören in die umtriebige Berufsgruppe der „Fessler“. Die uns fesseln, anbinden, festzurren, uns zum Sitzen und Sitzenbleiben verführen, verführen suchen. Nun denn: Gebiert Sesshaftigkeit tatsächlich Intoleranz? Nicht unbedingt, aber es schafft das nötige Biotop, die bleierne Temperatur, das muffige Klima. Denn wer sich bewegt, fortbewegt Richtung Fremde, Richtung Fremder, der riskiert, dass seine Urteile und Vorurteile auf der Strecke bleiben und Erfahrungen über ihn kommen, die ihn reicher machen, geistreicher, ja ihn irgendwann dazu überreden, den anderen – was für ein Scheißwort – zu „tolerieren“, zu dulden. Dennoch, angesichts der wild wuchernden Hirnlosigkeit auf Erden wäre das ein Fortschritt.

Absurde Träume. Statt einen 14-Jährigen (und seinen Vater) mit der Peitsche zurück auf die Straße zu jagen, richten sie ihn zum Frühgreis ab. Um in einem Wüstenrot-Häuschen – gebuckelt von Hypotheken und Ratenzahlungen – seine Restzeit abzusitzen. Wie soll der Mensch da Zeit finden für die Welt? Für Weltwachheit? Für Bücher? Für Entwürfe jenseits der eigenen Schädeldecke? Wie noch Geld haben fürs Wandern in verborgene Länder? Hin zu Männern und Frauen, die so verdächtig anders sind als er?

Ich irre durch Innsbruck, bin immer noch Herr Luft, der seinen Sohn in Sicherheit bringen will. Im Rathaus wachse ich über mich hinaus und schaffe tatsächlich den Satz, dass „Ferdinand Beamter werden wolle“, frage eisern, wo und wie er damit anfangen soll. (Hätte ich im wahren Leben einen Filius, der sich zum Duckmäuser und Aschfahlen züchten lassen will, ich würde ihn meucheln.) Aber die Stadt „verbeamtet“ nicht mehr, hier gäbe es nur noch Angestellte, ich müsse zum Landhaus. Im schönen neuen Landhaus 2 bekomme ich eine imposante Website-Adresse (www.tirol.gv.at/themen/bildung/bildung/sch_formulare.shtml), von der ich mir Formulare runterladen könne. Um alles zu wissen über eine Karriere als Tiroler Lehrer.

Im alten Landhaus sitzt die schöne Emilie H.*, sie hat das Formular gleich in der Schublade. Schwarz auf weiß und ungetröstet kann es jeder mitnehmen. Noch untröstlicher wohl für jene, die dabei erfahren müssen, dass laut Emilie auch das Land „immer weniger Beamte einstellt“. Sie sagt den unschuldig-verräterischen Satz, dass sie „der Regierung zu teuer kommen.“ (Wie lange doch ein Staat braucht, um die einfachsten Tatsachen ausfindig zu machen.) Da Emilie Beamtin ist, träumt sie immer nur von A nach B, sprich, sie träumt von einer „sicheren Basis“. Von einer Weltreise für einen 18-Jährigen will sie nichts wissen. Sie widerspricht mit Nachdruck.

Günter Grass wurde einmal gefragt, was er als Diktator unternehmen würde. Zwei Taten, meinte der Meister: das Beamtenrecht abschaffen und hinterher mich als Diktator.

Ein Freudenschrei für jeden, der mir jetzt über den Weg liefe und seine Phantasien und Eroberungen ausbreitete, mir stundenlang redete von seiner Sucht nach „woanders“, nach anderen Gedanken und Entwürfen, einer eben, der andere nicht duldet, sondern darauf besteht, sich an ihnen zu bereichern. Und sie zu bereichern. Einer, der aufmacht, nicht zuriegelt, einer, der federt, nicht hockt.

Aber ich bin noch immer Herr Luft, der Irrläufer, und verlaufe mich ins Tirol Beisl.* Hier ist es duster und schon – 14.11 Uhr – kleben drei Barflies auf den Kneipenhockern. Sie stieren über den Tresen und wachen alle paar Minuten auf, um ein Bier hinunterzugurgeln. Ich bin frech und unterbreite einem der Glasigen einen Deal (eines meiner Lieblingsspiele): Ich biete ihm dreitausend Euro fürs Saufen und er gibt mir dafür ein Jahr seines Lebens. Das ist ein unsittlicher Antrag, aber der Dicke lässt sich nicht provozieren. Das Jahr will er behalten. „No deal“, sagt er auf Tirolerisch. Die Kaschemme scheint sein zweites Wohnzimmer, hier fühlt er sich sicher vor (geistiger) Frischluft. Wir kommen über zehn Sätze nicht hinaus. Bald übermannt Manfred* das Verlangen nach Stille, nach einen Ort ohne lästige Deutsche. Tot schaut er an mir vorbei.
Das Treffen mit dem Pfarrer streiche ich, obwohl bereits telefonisch mit ihm verabredet. Ich erinnere mich plötzlich an den Katechismus-Unterricht in meiner Jugend, weiß wieder, dass Religionen eine Brutstätte der Intoleranz sind. Zudem plagen mich bisweilen schlechte Manieren. Ich würde Hochwürden ins Wort fahren und mir das Blabla allein seliger machender Wahrheiten verbieten. Ich will einen Held treffen, keinen Aufsager weihrauchranziger Weissagungen.

Und Innsbruck schenkt ihn mir, den Kämpen. An einem höchst unerwarteten Ort, mitten im Allianz-Gebäude. Wo mein letzter Versuch stattfinden sollte, die Zukunft meines Sohnes zu organisieren. Ich werde zu „Finanzdienstleistungsspezialisten“ Reinhard S.* geführt und ein Wunder holt aus. Natürlich legt mir der Spezialist die Mappe „BonusLife“ vor, rattert „je früher, desto besser“, „monatlich abrufbar“, „Kapitalgarantie“ und 20 andere schonungslose Wörter herunter. Natürlich. Aber dann hechte ich dazwischen und stelle ihm die Frage aller Fragen: „Weltreise oder Spareinleger?“ Und aus dem Ratterer wird ein sinnlicher Mensch. Was für eine seltsame Alternative, ruft er entzückt, klar reisen, klar weltreisen. „Unbezahlbar“ wäre das, ja die Gelegenheit, „Eigensinn“ zu üben. Der Mann hebt ab, erzählt, wie er als junger Kerl durch die USA radelte, wie er noch heute sich nährt von den damaligen Begegnungen. In der Schule – und in diesem Moment wird S. zum Superstar – müsse das „Pflichtfach Welt“ eingeführt werden. Als Gegengift im Kampf gegen die Scheuklappen-Seuche, „vor der so viele hierzulande infiziert sind.“

Reinhard S. wurde mein Gott. Trotzdem muss ich ihm widersprechen. Beamte mit Recht auf lebenslanges Umbetten, schwadronierende Pfaffen, bedenkenschwere Entwerter und andere Angsthasen, die schon früh das Sterben üben, sie alle sind global zu haben. Auch bei mir ums Eck in Paris. Denn Innsbruck ist München ist San Francisco ist Peking ist Adelaide ist Buenos Aires ist Macondo. Der Mief steingegossener, ewig sesshafter Gedanken, er geht allerorten um. Dabei ist der Unterschied zwischen den blindwütigen, engherzigen Stubenhockern und den Zeitgenossen mit den Flügeln unter den Sohlen und den weit weit durchlüfteten Hirnschalen eher winzig. Nur sieben Buchstaben lang, nur ein Flüstern, nichts als eine Ahnung: Neugier.

* Name geändert

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.