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Downtown NeuhintertuxDowntown Neuhintertux

„Der Trend geht immer mehr in Richtung Show“: Wer hier Authentizität und Schlichtheit sucht, liegt ebenso falsch wie jemand, der in Las Vegas indianische Wurzeln vermisst. Von Martin Fritz

Nach Neuhintertux kann nichts mehr kommen. Hier ist „lands end“. Das Tal ist aus. Hat das Dorf Hintertux noch einen knappen Kilometer Abstand gehalten vom eigentlichen Talende, ist Neuhintertux direkt am Fuß der das Tal begrenzenden Berge entstanden. Neuhintertux besteht aus sechs Gebäuden: Der alten und der neuen Talstation der Seilbahn, die zum Hintertuxer Gletscher führt, dem Hotel Vier Jahreszeiten, dem Hotel Rindererhof, dem Hotel Neuhintertux und – als neueste Ergänzung – der Hohenhaus Tenne. Der „Siedlung“ vorgelagert liegt der Parkplatz.

Es stellt sich schnell heraus, dass alles, was man auf der Straßenebene als getrennte Einheiten wahrnimmt, zu einem der Gebäudekomplexe gehört. So sind der Intersport-Shop, die Bar Almhit, der Mini-Supermarkt (das Kaufhäus’l) und das Café Kaiserbründl ebenso Teile des Hotel Neuhintertux wie das Kaiserbründlbad, der öffentliche Internetterminal und ein kleiner Freiluftimbiss (die Sandlerbar) an der Südseite. Zum Komplex der Hohenhaus Tenne gehören das eigentliche Lokal, das Fast Food Restaurant Mäc Tux und das Balkoncafé, sowie die Stehtische, der Eisautomat und der Bankomat vor der Tür. Der Ski-Verleih und ein kleines Sportgeschäft sind in die Talstation integriert; das Hotel Vier Jahreszeiten beherbergt ein separiertes Café und das Hotel Rindererhof betreibt zwei Terrassen mit Bar und Café.

Eine hochverdichtete – nahezu urbane – Situation, in der versucht wird, auf wenigen Quadratmetern ein Maximum an Angeboten vorzuweisen und damit Wertschöpfung zu erzielen. Die Dichte hat ihren Grund. Die 70 Meter lange Wegstrecke zwischen Parkplatz und Gletscherbahn wird an Spitzentagen von 5.000 bis 15.000 Gletscherbesuchern, Skifahrern und Wanderern zurückgelegt. Die Zillertaler Gletscherbahnen operieren 365 Tage im Jahr und rühmen sich einer „Gesamtförderleistung“ von 35.000 Menschen pro Stunde auf allen ihren Liften. Sobald diese am Parkplatz aus ihren Autos oder aus den im Minutentakt ankommenden Bussen steigen, beginnt das Buhlen um diese Klientel, die hoffentlich die Sonnenbrillen vergessen oder das Frühstück versäumt hat. Wenn dieselben Gäste nach einem Tag am Berg wieder herunterkommen, kann noch einmal zugeschlagen werden. Sobald sie abfahren, sind sie für die Geschäfte vor Ort verloren.
Uns begegnet eine Zone konzentrierter Ballung der Angebote des ganzen Tales auf der Fläche von vier Fußballfeldern. Bei den „Outlets“ an dieser neuralgischen Schnittstelle zwischen Ankunft und Aufstieg handelt es sich um die „Außenposten“ der großen Hintertuxer Betriebe, die im Laufe der späten siebziger Jahre begonnen haben, sich hier ein „Downtown“ näher am Lift und am Parkplatz zu schaffen. Gerade die Distanz zwischen dem alten Ortskern und den Gebäudekomplexen am Talende macht Neuhintertux zu einem idealen Beobachtungspunkt für Entwicklungen in touristisch erschlossenen Gebieten. Neuhintertux ist die Essenz aktueller touristischer Realitäten im alpinen Raum.

S(t)imulationsarchitektur

Neuhintertux ist Las Vegas. Die Eklektik seiner Bauten und Stile mag zwar lokale Vorbilder suggerieren, ist jedoch viel mehr im Einklang mit globalen Hyperrealitäten, als ihren Machern vielleicht bewusst ist. Alle Gebäude außer der Talstation folgen einem mittlerweile globalen Stil, der als S(t)imulationsarchitektur bezeichnet werden kann.

Interessanterweise ist das Zentralgebäude das schlichteste: Die neue Talstation der Gletscherbahnen wurde als einstöckiger, horizontaler Eckriegel mit rotbrauner Holzverschalung zurückhaltend gestaltet und von der eigentlichen Seilbahn abgesetzt. Im Alpenraum haben sich bemerkenswerterweise gerade die Zentralbauten der touristischen Erschließung, die Seilbahnstationen, oft einer ruralen Camouflage widersetzt. Hier genügt Funktionalität und Information: Preise, Abfahrtszeiten, eine schematische Karte und topmoderne Zutritts- und Chipkartensysteme.

Wäre die Talstation der Gletscherbahn das einzige Gebäude geblieben, das Zillertal hätte einen würdig schlichten Abschluss gefunden, so ganz nach dem Geschmack eines „neuen Bauens in den Alpen“, der negiert, dass gerade die hier Lebenden ökonomisch viel zu abhängig davon sind, ihren Part in der Freizeitindustrie zu spielen, als dass sie es sich leisten könnten, eine attraktive Leerstelle nicht mit theatralischen Angeboten zu füllen.
Neuestes Beispiel für diese Theatralik ist die Hohenhaus Tenne, laut Eigenwerbung „eines der sehenswertesten Lokale in den Alpen“. Die Hohenhaus Tenne versucht – von außen betrachtet – eine große Almhütte auf den Talboden zu übertragen. Im Gegensatz zu dem simulierten Bild stehen die stimulierenden Leuchtschilder, welche die Hohenhaus Tenne deutlich markieren. Endgültig konterkariert, aber damit auch richtig gestellt, wird der erste Eindruck durch das neu eröffnete Schnellrestaurant Mäc Tux im räumlichen Verbund. Verweist die Tenne noch auf agrarische Vergangenheit, so wurde mit dem Mäc Tux Klarheit geschaffen. Hier besteht kein Bedarf nach langer Einkehr in ruhiger Bergatmosphäre, sondern nach funktionaler Versorgung in der kurzen Zeit vor oder nach einem sportlichen Tag. Die Wahl des global verständlichen Markennamens garantiert die erwünschte Assoziation und stellt klar, dass hier auch diejenigen versorgt werden, die sich nicht zu einem dreigängigen Menü niederlassen wollen oder können. Das dafür notwendige Geld kann dem direkt neben dem Eingang platzierten Geldautomaten entnommen werden.

Kann man bei gutem Willen von außen noch von dem Versuch sprechen, eine in Dimension und „look“ angepasste Struktur zu schaffen, so deutlich wird im Inneren die S(t)imulationsmaschinerie: Almhütte, Diskothek, Bar, Fast-Food und Animation sind in einem Raum kombiniert, der nicht mehr analytisch beschrieben werden kann, sondern nur mehr als Gesamtbild funktioniert. Heugabeln, Diskokugeln, Holzreliefs mit tradierten Szenen, Großbildmonitore, angekettete Aschenbecher aus Holz, Show-Lichter und leistungsstarke Boxen schaffen die Voraussetzungen für ekstatische Après-Ski-Parties. Großzügige Barbereiche optimieren die Service-Möglichkeiten. So können nach Angaben eines örtlichen Kellners bis zu 50 Bierfässer gleichzeitig angezapft und ausgeschenkt werden. Hier wird primär zwischen Liftbetriebsschluss und (vorausbezahltem) Abendessen im Hotel Geld verdient und ausgegeben. Real und symbolisch liegt die Hohenhaus Tenne am Schnittpunkt von Berg und Tal, Tag und Nacht, Sport und Fun.

Wer hier Authentizität und Schlichtheit sucht, liegt ebenso falsch wie jemand, der in Las Vegas indianische Wurzeln vermisst. Die Unterhaltungs- und Erlebniszentren der Alpen haben längst ihre eigene Form kreiert. Der Stilmix ist kein missglückter Ausrutscher, sondern präzise Inszenierung einer speziellen Form von Entertainment, die aus dem Aufeinandertreffen von rustikaler Unterhaltung und den Partykulturen verschiedener Gästeherkunftsländer entstanden ist. Der Bereichsleiter eines anderen „Erlebnislokals“ derselben Eigentümer bestätigt, dass „der Trend immer mehr in Richtung Show geht“, und erzählt das interessante Detail, dass diesem Trend folgend das frühere „moderne“ mit Stahl-, Glas- und Chromelementen ausgeführte Paperla Pub zum jetzigen „urigeren“ Erlebnistanzlokal Tux 1 mit historischen Themenbezügen umgebaut wurde.

Trump Tower

Bemüht sich die Hohenhaus Tenne um die Inszenierung des Ländlichen in dieser Hochfrequenzzone, so setzt der Neuhintertuxer Hof auf Grandeur und Shopping. Im Volumen die Talstation um locker das Fünffache übersteigend, wirkt der Neuhintertuxer Hof vorerst einmal überdimensioniert. Wer an die Existenz von Raumplanung und Ortsbildkommissionen glaubt, sieht sich durch diesen Komplex verraten. Doch wieder sehen wir uns mit einem Trugschluss konfrontiert: Neuhintertux ist keine Ortschaft, sondern eine Sonderwirtschaftszone mit einer temporären Einwohnerzahl von Zehntausenden pro Woche. Dementsprechend folgen die Gebäude und Servicestrukturen urbanen Logiken. Der Neuhintertuxerhof alleine ist eine Ortschaft. Die Besitzer müssten sich nur noch dazu entschließen, eine Kirche in das Angebot zu integrieren, und alles wäre in einem Haus vorhanden, was kleine Dörfer normalerweise auch nur einmal zu bieten haben: Ein Gasthaus, ein Sportgeschäft mit angrenzender Boutique, ein Supermarkt, ein Café, ein Freiluftimbiss und das eigentliche Hotel mit Hallenbad und dem heute unverzichtbaren Wellnessbereich. Abgerundet wird dieses Zentrum durch Internetterminal, Ski-Verleih und die Autobusstation direkt vor der Tür. Wie so oft in Tirol lassen sich auch hier mindestens zwei aufeinanderfolgende Zu-, Um- und Ausbauten ablesen. Die Ansicht von Norden prägen ein Kirchturmkuppelzitat ebenso wie moderne Skylights am Dach des ansonsten in einer Mischung aus postmoderner Grandhotelarchitektur und (hierzulande vorgeschriebenen) Holzverplankungen errichteten Gebäudes.

Ästhetische Verirrung? Bauskandal? Verschandelung? So leicht diese Vorwürfe auch von den Lippen kommen, übersehen sie doch den wesentlichsten Punkt: Ein derartiger Komplex am Abschluss eines noch vor 50 Jahren armen Alpentales steht im Eigentum lokaler Familien. Der Neuhintertuxer Hof ist der Trump-Tower in Downtown Neuhintertux und zeugt vom Aufstieg örtlicher Bauern zu Großunternehmern im dritten Sektor. Die beliebte Alternative für den städtischen Urlauber, der karge Hof mit „authentischer“, landwirtschaftlicher Nutzung war gerade unter diesen geographischen Bedingungen primär eine prekäre, nur durch Schwerstarbeit aufrechtzuerhaltende Existenz. Tourismus und die mit ihm verbundene Wertschöpfung war in vielen Alpentälern dafür verantwortlich, dass diese nicht zu entleerten und/oder verarmten Landstrichen wurden. Den Unternehmern im Zillertal gelang es, jene Natur zu kapitalisieren, die ihnen bisher alles abverlangte. In dem Ausmaß, wie diese für Besucher attraktiv und durch technische Möglichkeiten beherrschbar wurde, konnte man ihr zivile Denkmäler und Großbauten entgegensetzen und beginnen, die frühere Existenz zu idyllisieren, um sie zugleich baulich zu überwinden. Dass diese Bauten nicht den Geist diskreter und geduckter Unauffälligkeit bezeugen, sondern konsequent verfolgten ökonomischen Strategien entspringen, ist folgerichtig. Wir sind Zeugen einer professionellen „Inszenierung des Rustikalen“ durch selbstbewusste Unternehmer, die die Attraktivität ihrer Ressourcen erkannt haben.

Abseits der Main Street

Ewas versetzt und entscheidende Meter entfernt von der neuen Main Street – jenem goldenen Streifen zwischen Parkplatz und Talstation – stehen der Rindererhof und das Hotel Vier Jahreszeiten. Der Rindererhof ist ein weiteres Beispiel für das hier auf jedem Quadratmeter ausgetragene Match um die Passanten. Ursprünglich in der Pole-position direkt an der alten Talstation des Vierer-Sesselliftes, hat ihn die neueste Entwicklung etwas ins Abseits gedrängt. Als Außenstelle eines der örtlichen Großhotels hatte es einmal die Nase vorn, bis die ewigen Konkurrenten durch die Neuausrichtung der Liftstation die Wende erzwangen und damit die entscheidende Achse um einen Block nach Osten verschoben. Der Oberkellner eines anderen Betriebes bestätigt, dass das direkt der alten Talstation zugewandte Terrassenrestaurant seither sehr oft leer steht.

Die Gestaltung des Rindererhofes könnte im Vergleich zu den Nachbarn als „klassisch“ bezeichnet werden. Genau so wurde in der Konjunktur der späten siebziger- und achtziger Jahre schnell ein weiteres Hotel gebaut. Zimmertrakt, Terrassencafé, einfacher Giebel und die oberen Stockwerke mit Holz verplankt. Es war die Zeit, bevor an alle Sehenswürdigkeiten und Freizeitangebote das Wort „Erlebnis“ angehängt wurde. Heute scheint dem Bau der Magnet für die Passanten zu fehlen. Wofür sollte der anvisierte Besucher den Umweg über den Rindererhof wohl machen? Auch die Wandmalerei mit Schi- und Sportmotiven im Bereich der – im Sommer stillgelegten – Schneebar könnte aufgefrischt werden. Wieder eine Analogie zu Urban-Entertainment-Centern und Las Vegas: Zwanzig Jahre sind eine Ewigkeit und so steht der Rindererhof schon fast etwas verblasst neben seinen top-aktuellen Konkurrenten.

Das Hotel Vier Jahreszeiten scheint eine leichte Gegenposition einzunehmen. Ohne direkten Anschluss an die Goldader (50 m entfernt!) spielt es eher die Prinzessin, die sich vom Trubel abwendet. Die dezenten Schloss- und Burgassoziationen der Architektur unterstreichen diesen Effekt. Türmchen und Erker sorgen in Verbindung mit dem „noblen“ – aus München und Hamburg bekannten – Namen für Distinktionsgewinn. Wenig lädt den vorbeistiefelnden Tagestouristen ein, und es kann vermutet werden, dass dieser hier zugunsten des „guten Gastes“ vernachlässigt wird. Das Vier Jahreszeiten sorgt für die auch in Zonen höchster Verdichtung (oder gerade in diesen) notwendige Möglichkeit zur sozialen Schichtung.

Auch dafür ist Neuhintertux ein Modell: Alle Ebenen und Paradigmen modernen alpinen Urlaubsangebotes werden auf kleinstem Raum abgehandelt: In Neuhintertux ist alles parallel vorhanden: Mäc Tux, Nobelwellness, Hüttenzauber, Shops, ebenerdige Schnellimbissstationen, die ein Stockwerk höher in ruhigere Cafés mit Bedienung münden, Qualitätsrestaurants und dennoch die Möglichkeit, bis 4 Uhr früh im Alm-Hit zu versacken. Natürlich nicht ohne zwischendurch E-mails abzurufen, Geld abzuheben oder mit den Wanderschuhen die Financial Times zu kaufen. Und alles auf den letzten verbliebenen Metern zwischen Parkplatz und Talabschluss. Nach Neuhintertux kommt nur mehr der Berg. Und auf den wollen alle hinauf. Und vor allem müssen sie um 16 Uhr von diesem wieder herunter. Danach geht es ins Auto oder in den Bus. Doch dazwischen sind sie noch einmal zu haben. Verheißungen liegen in der Luft. Schlager säuseln aus den Außenboxen und es wimmelt von Menschen. Der ganze „strip“ kulminiert symbolisch in einem sprechenden und singenden Eisautomaten, der seine Wirkung auch auf die abgebrühten Städter nicht verfehlt und der gegen das Wetter durch eine eigene Mini-Almhütte geschützt wird: Bleiben die Gebäude gerade noch stumm, spricht er es aus: „Hallo, ich bin dein Eisautomat, willst du mich probieren?“ Dann fängt er an zu singen und die ersten Euros sind schon weg.

 

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