zurück zur Startseite

Flaniermeile Brenner-Archiv

Wer das Innsbrucker Brenner-Archiv betritt, begegnet Ficker, Kraus, Loos, Rilke, Trakl, Wittgenstein, … Hausherr Johann Holzner führt Krista Hauser durch die Wohngemeinschaft großer Geister.

Flanieren? Aber wo? Vorbei an den Totenmasken von Ludwig von Ficker und Karl Kraus, die den Besucher einstimmen oder verschrecken? Vorbei an den bekannten Fotos, die das Entree und den kleinen Saal im zehnten Stockwerk des luftigen Neubaues in der Josef-Hirn-Straße in ein kleines Museum verwandeln? Sie zeigen die legendären Jahre der Zeitschrift „Brenner“: Ludwig von Ficker, ihr Gründer im Alter von 32 Jahren, zwei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Schon damals ein Zuhörender, so wie ihn Oskar Kokoschka dann 1915 auf Vorschlag von Adolf Loos porträtierte? Georg Trakl in Uniform, 1914: eine der letzten Aufnahmen vor seinem Sterben an einer Überdosis Kokain im Garnisonsspital Krakau. Kopien der Gedichte „Klage“ und „Grodek“, die er in seinem letzten Brief am 27. Oktober 1914 an Ficker schickte. Amüsante Impressionen aus der Zeit davor: Karl Kraus und Peter Altenberg in keuschem Badedress 1913 in Venedig; auch Adolf Loos und seine Gefährtin Elizabeth Bruce, genannt Bessie Loos am Lido; Georg Trakl, solo, Blick zum Meer. Namen, Zeichnungen, Malereien. Ein Winterbild Max von Esterles in melancholischen Blau- und Grüntönen. Die einsame Gestalt, die aus der Landschaft kommt, könnte Trakl sein. Weiters an den Wänden: ein Foto der Lyrikerin Else Lasker-Schüler, die dem „Ritter Georg Trakl“ Gedichte und eine poetische Buntstiftzeichnung widmete; dann Österreichs bedeutendster Philosoph, Ludwig Wittgenstein, 1918 aufgenommen, noch in Uniform; schließlich der Südtiroler Denker Carl Dallago, für den Ficker den „Brenner“ gegründet hatte. Dazwischen ein Aufruf Kaiser Franz Josephs „An meine Völker“, datiert 1914/15 …

Flanieren: Das klingt so leichtfüßig, beiläufig. Kann ich das, wenn ich an die Stille in der Wohnung Ludwig von Fickers und seiner Tochter Ulla Wiesmann in den 60er Jahren in der Kirchgasse in Innsbruck, auch an die kleinen Feste mit den Enkelinnen Sigrid und Jutta Wiesmann denke? Oder an die kostbaren Autographen, die „Brenner“-Hefte, die Walter Methlagl, der „Urvater“ des Archivs, damals für seine
Dissertation durchstöberte und die ihn süchtig machten. Vierzig Jahre lang forschen, publizieren, „Brenner“-Spuren bis in die USA und nach Israel verfolgen.

Spazieren also vorerst statt flanieren: der vertraute Weg den Inn entlang nach Mühlau. Ein Trakl-Herbsttag mit „goldnem Wein und Frucht der Gärten“, passend zur Führung durch den Neuen Mühlauer Friedhof. Gräberbesuch ohne Allerheiligen-Pflicht. Am 7. Oktober 1925 wurden Trakls Gebeine hier bestattet. Gedächtnisfeier am 7. Oktober 2005 mit vielen Studenten und Literaturfreunden. Johann Holzner zitiert aus dem Nachruf, den Ludwig von Ficker vor 50 Jahren an diesem Ort im kleinen Kreis gehalten hatte. „O Geist des toten Freundes, der da sprach! Sieh hier den alten Stein – versenkt in unsere Herzen: ein Denk-, ein Dankmal, aufgerichtet“, hieß es da. Auch wenn dem aufgeklärten Zeitgenossen von heute Pathos fremd ist: „Der Brenner“ und die Autoren, die Ficker darin publizierte, symbolisieren noch immer dieses „andere“, fragmentarisch überlieferte, geistig weltoffene Tirol.

Direkt neben dem „alten Stein“ für Georg Trakl das Grab Ludwig von Fickers, in umittelbarer Nähe sind Ulla und Sigrid Wiesmann bestattet, auch der katholische Publizist und späte „Brenner“-Autor Ignaz Zangerle. Ein paar Gräberreihen entfernt erinnern Johann Holzner und Anton Unterkircher, Germanist und „Brenner“-Experte, an den Tiroler Dichter Josef Leitgeb, dessen ausgewählte Werke, zuletzt der vielschichtige Roman „Christian und Brigitte“, neu aufgelegt wurden. Hinweise auf aktuellen Forschungsstand und Publikationen vermischen sich auch am Grab Carl Dallagos mit Pietät ohne Sentimentalität. Der eigenwillige Querdenker, der sich nach der katholischen „Wende“ des „Brenner“ radikal von Ficker trennte, eignet sich auch schwer dafür.

Nach dieser „Einübung“ in das „Brenner“-Gedächtnis Besuch im Archiv, das sich längst zu einem bedeutenden überregionalen Forschungszentrum der Universität gemausert hat. Nicht nur die Nachlässe von Dichtern und Philosophen werden verwahrt, erforscht, publiziert und digitalisiert, auch Schriftliches von Künstlern, Musikern, Architekten – Bücher, Notenhefte und Fotos – sind gelagert. Hier also doch ein bisschen flanieren, gedanklich, nicht räumlich. Stichworte, Assoziationen, keine chronologische Lektion.

Johann Holzner, Germanist, als Nachfolger von Walter Methlagl seit 2001 Hüter der 160 Nachlässe und – dem Trend der Zeit folgend – stets um die Präsentation des Archivs nach außen bemüht, „residiert“ im Ambiente Ludwig von Fickers: die weiße Standuhr, in der die Zeit still steht, weil das Uhrwerk fehlt, die Tische aus der alten Rauch-Villa, ein paar Sitzmöbel. Nebenan hinter der gesicherten Türe graue Schränke mit hunderten Kassetten, dazu die vollständigen Nummern der 1910 erstmals erschienenen Zeitschrift „Der Brenner“, die Ludwig von Ficker zu einem Spektrum neuer Literatur, auch zu einem Herd der Unruhe weit über Tirol hinaus gemacht hatte. Neben den „Brenner“-Heften Karl Kraus’ „Fackel“ in leuchtendem Rot. Ein Zitat drängt sich auf: „… dass die einzige ehrliche Revue Österreichs in Innsbruck erscheint“, schrieb Kraus, „sollte man, wenn schon nicht in Österreich, so doch in Deutschland wissen, dessen einzige, ehrliche Revue gleichfalls in Innsbruck erscheint“.

Hauptbestand des Archivs: die Korrespondenz, die Ficker über Jahrzehnte mit – für die Nachwelt – bedeutenden Persönlickeiten führte. Holzner öffnet das „Allerheiligste“, den Panzerschrank mit den „Glanzstücken“: Blatt für Blatt, geschützt zwischen säurefestem Papier. „Hier etwa ein Brief von Hermann Broch, der früh im Brenner publizierte. Ein Schlüssel zum Verständnis seines Werkes. Dies gilt für alle Briefe an Ficker, in denen es nie um Beiläufiges, Zufälliges ging, sondern immer um poetologische Fragen, um Essentielles. Die Autoren haben Ficker auch ihr Herz ausgeschüttet“. Weiters im „Allerheiligsten“: „Briefe von Hermann Hesse, sogar eine Postkarte aus dem Tessin, die er selbst gezeichnet hat. Die ausführlichen Briefe zeigen, wie sehr Hesse Ficker schätzte“. Und dann: „Briefe von Adolf Loos, dessen berühmte Schriften ‚Trotzdem‘ und ‚Ins Leere gesprochen‘ im Brenner-Verlag herauskamen … Da ist noch ein Brief von Thomas Mann, der nicht nur inhaltlich interessant ist. Ein Blick darauf: die beiden Wörter, die Mann am größten schrieb: Thomas Mann“.

Für mich persönlich ist immer noch ein Blatt geradezu aufregend, das auch der sonst recht sachliche Wissenschaftler fast ehrfürchtig aus dem Schutzumschlag nimmt: Trakls letzter Brief, sein Testament. Auf der Rückseite, neben dem Gedicht „Klage“, das Gedicht „Grodek“. Die ersten Zeilen in lateinischer Schrift, die übrigen in Trakls typischer Kurrentschrift. 17 Zeilen, die verstören. Beinahe Herzklopfen wie als Germanistikstudentin in den 60er Jahren, als ich das erste Mal Trakls „Grodek“ im Original sah.
„Am Abend tönen die herbstlichen Wälder / Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen / Und blauen Seen, darüber die Sonne / Düstrer hinrollt, umfängt die Nacht / Sterbende Krieger, die wilde Klage / Ihrer zerbrochenen Münder …“

Holzner kennt die Faszination, die Autographen ausüben: „Es kommen nicht nur Studenten, es kommen Wissenschafter und Autoren aus der ganzen Welt zu uns. Zuletzt waren Gruppen aus der Slowakei und aus dem arabischen Raum da. Sie wollten zum Trakl-Grab und dann durch das Archiv geführt werden. Als sie die ‚Grodek‘-Handschrift sahen, waren sie tief gerührt. Für eine andere Gruppe, Studenten der Universität Genf, war die Begegnung mit Trakl-Handschriften das schönste Erlebnis ihres Aufenthaltes in Innsbruck. Ähnlich ergeht es Rilke-Forschern. Die Wertschätzung, die Rilke Ficker entgegenbrachte, zeigt sich schon im Schriftbild. Der Dichter hat immer schön geschrieben, aber die Briefe an Ludwig von Ficker sind ganz außerordentlich schön. Und wenn man so einen Brief zum ersten Mal in die Hand bekommt, ist das ein Erlebnis.“

Euphorie wird auch spürbar, wenn Holzner von anderen „Glanzstücken“ spricht, wenn er eines der kostbarsten vorsichtig zur Seite legt: den legendären Brief Ludwig Wittgensteins an Ludwig von Ficker, geschrieben am 14. Juli 1914. Wer sich ohne das nebulose Klischee von „Traum und Wirklichkeit“ mit dem kulturellen Klima der untergehenden Monarchie beschäftigt hat, ist irgendwann auf diesen seltsamen Brief gestoßen und damit auf den Namen des Adressaten. Ficker war vom Inhalt des Briefes so überrascht, dass er sich zunächst fast gefoppt fühlte und am Wahrheitsgehalt zweifelte. Der Anfang des kurzen Schreibens:
„Sehr geehrter Herr!
Verzeihen Sie, daß ich Sie mit einer großen Bitte belästige. Ich möchte Ihnen eine Summe von 100 000 Kronen überweisen und Sie bitten, dieselbe an unbemittelte österreichische Künstler nach Ihrem Gutdünken zu verteilen …“
Doch die „Belästigung“ war ernst gemeint, Wittgensteins Kronen, Teil seines Erbes nach dem Tod des Vaters, trafen tatsächlich ein. Ficker verteilte sie – mit Wittgensteins Einverständnis – nicht nur an Brenner-Autoren, u.a. an Georg Trakl, Carl Dallago, Adolf Loos, Theodor Haecker, Theodor Däubler und Josef Georg Oberkofler, sondern auch an Rainer Maria Rilke, Oskar Kokoschka, Franz Kranewitter und Karl Hauer.
Persönliche Begegnungen, Briefe zwischen Wien und Innsbruck, Feldpostkarten folgten, eine Zusammenarbeit kündigte sich an. Sein später weltberühmtes Werk „Tractatus Logico-Philosophicus“ wollte der Philosoph im Brenner-Verlag herausbringen. Doch die Kriegsjahre und die persönliche finanzielle Notlage Fickers gefährdeten die Existenz des Verlages und der Zeitschrift. Dazu kamen grundsätzliche Differenzen über die Auffassung von Sprache und den Grenzen der Sprache. Dass Ficker das Risiko scheute und das Manuskript am Ende zurückschickte, wird ihm bis heute angekreidet.

Jahrzehnte später leistete Fickers geistiger „Ziehsohn“, Walter Methlagl, Wiedergutmachung. Im ersten Bändchen der Reihe Brenner-Studien durfte er als 32-jähriger an der Seite des prominenten finnischen Wissenschafters Georg Henrik von Wright an der Herausgabe von Wittgensteins Briefen an Ludwig von Ficker und der Dokumentation über die Entstehung des „Tractatus“ mitarbeiten. Heute ist das Brenner-Archiv ein wichtiges Zentrum der Wittgenstein-Forschung, wobei die eigenen Bestände – neben Briefen auch die in zwei Bänden publizierten Tagebücher – weltweit zugänglich sind. Das gilt auch für die Wittgenstein-Bestände aus Bergen. Eine amerikanisch-kanadische Internet-Firma macht es gegen Bezahlung möglich. Der berühmte, oft missverstandene und zum philosophischen Gassenhauer mutierte Satz kann also nicht nur von Experten im Kontext gelesen werden: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“.

Kurzes Flanieren, Standortwechsel zu Nachlässen, die „nur“ in Kasetten lagern, im Vergleich zu Rilke- oder Trakl-Gedichten kaum internationale Bedeutung haben. Doch für die regionale Forschung kann auch der Nachlass eines heimischen, zu Lebzeiten überall aneckenden Rebellen Neues bringen, das Image seiner Persönlichkeit zurechtrücken. Holzner verweist auf das umfangreiche Material des scheinbar personifizierten „Antitirolers“ Norbert C. Kaser, der 1978 im Alter von 31 Jahren starb. Briefe, Manuskripte, ein Stapel von Kalendern: „Da sieht man, wie Kaser beispielsweise in einem frühen Kalender in allerschönster Schrift ganz persönliche Notizen machte, gleich daneben stehen Gedichte, gestochen geschrieben. Hier zwei typische Notizen zum Tag: ‚Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge beendet. Mariedl getroffen.‘ Auf einer anderen Seite eine Eintragung in Altgriechisch.“ Als fragmentarische Tagebücher könnte man diese Kalender bezeichnen, die Kaser allerdings oft nur über Tage oder ein paar Wochen führte, dann wieder aufnahm oder auch bald beendete. Was einen Kaser-Forscher daran interessieren könnte: „Die Art, wie der Poet seine Texte höchst sorgfältig strukturierte, wie er darüber reflektierte. Selten, dass er etwas durchstrich, etwas korrigierte. Fast druckfertig sind diese Texte, die er zeitweise auch sofort ins Italienische übersetzte. Jedes Gedicht ist mit Datum versehen. Diese korrekte Arbeit passt so gar nicht zum Mythos des unsteten, chaotischen Genies. Bemerkenswert sind die Ereignisse, die ihn bewegten, die er für notierungswürdig fand. Auch kleine Extras hat er in den grünen und roten Kalendern verwahrt: Theaterkarten, eine Karte vom Tiroler Ball.“
Gerührt wirkt Johann Holzner, wenn er vom Nachlass Christoph Zanons erzählt: „Da fand ich doch vor kurzer Zeit einen Brief, den ich an ihn schrieb.“ Als „stillen Außenseiter“ schildert er den Osttiroler Poeten, für den das Schreiben nicht Hauptberuf sein konnte. Er war Lateinprofessor in Lienz, dank der Freundschaft mit Holzner im Brenner-Archiv verankert, Germanisten vertraut. Für eine Vorlesung über „Antike Mythen in der modernen Literatur“ schuf er in einer einzigen Nacht eine wunderbare neue Übersetzung von Passagen aus Ovids „Metamorphosen“, in einer anderen Nacht konnte er aber einfach in diversen Lokalen „abtauchen“. In Lienz kümmerte sich Zanon um junge Autoren, war Gründungsmitglied der „Lienzer Wandzeitung“, ohne selbst ein Kulturbetriebler zu werden. Auf sich selbst und das eigene Schreiben machte er kaum aufmerksam. Dennoch brachte der Innsbrucker Haymon-Verlag seine Bücher heraus: 1988 „Die blaue Leiter“, 1992 „Schattenkampf. Texte von der Heimat“. Im Wieser-Verlag erschien die kurze Prosa „Abseits“. Die eigentümliche Geschichte handelt von einem Kartografen, der ein bisher unbekanntes Tal entdeckt, dieses aber nicht in seine Landkarte aufnimmt, weil es unbekannt bleiben soll. Im Nachlass finden sich dazu Notizen, die der Autor bei seinen Bergwanderungen machte, Beobachtungen, die er im Text verarbeitete. Sie sind – nach Ansicht Holzners – „fast interessanter als der endgültige Text, weil völlig authentisch, sprachlich nicht geglättet“. Zanon, der 1997 im Alter von 46 Jahren starb, führte auch noch Tagebücher. Eine „altmodische“ Beschäftigung, fern vom Zeitgeistklima, die Selbstreflexion und Distanz schafft.

Die Balance zwischen regionaler Kultur und Werken von internationalem Rang zu halten, hängt für Holzner immer von Qualitätskriterien ab: „Das Brenner-Archiv ist zwar auch das Archiv der Nord- und Südtiroler Literatur, doch die Autoren müssen hierher passen. So wie eben Kaser und Zanon, Friedrich Punt, Johannes E. Trojer und der Vorarlberger Max von Riccabona. Oder die zahlreichen Dokumente zur Österreichischen Jugendkulturwoche, die für den geistigen Aufbruch bald nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Innsbruck sprechen. Auch der Nachlass Lilly von Sauters, die enge Kontakte zur Kunst und Literatur Frankreichs pflegte, mit Ingeborg Bachmann, Hertha Kräftner und Ernst Gombrich korrespondierte, gehört ins Archiv.“
Zurück zum „Allerheiligsten“, zu den Briefen, die Karl Kraus an Sidonie Nádherny´ von Borutin schrieb: „1065 Briefe in 23 Jahren! Da lernt man einen anderen Kraus kennen“, sagt Holzner. 1974 hatten Friedrich Pfäfflin, Lektor im Kösel-Verlag, und Walter Methlagl diese lange gehüteten, höchst privaten Briefe herausgegeben. Eine Sensation selbst für Kraus-Kenner. „In diesen Briefen haben wir einen anderen Karl Kraus, einen unerwarteten, vielleicht einen neuen. Sie können uns mit dem Menschen Karl Kraus, der soviel gehasst hat, bekannt machen und am Ende versöhnen“, urteilte der Literaturexperte Carl Hohoff. Und Nobelpreisträger Elias Canetti wies in seiner berühmten Berliner Rede über Kraus und dessen Schauspiel „Die letzten Tage der Menschheit“ auf die großen Verdienste der Forschungen am Brenner-Archiv um den „neuen Kraus“ hin. Durch einen glücklichen Zufall waren die Briefe aus Prag – über Umwege in die USA – schließlich nach Innsbruck gelangt. Auch ein Konvolut wunderbarer Fotos, Dokumente eines nur ausnahmsweise gemeinsamen Lebens. Neben Porträts Sidonies, der schönen Herrin auf Schloss Janowitz nahe Prag, und Fotos von Karl Kraus in verschiedenen Posen finden sich viele Aufnahmen vom Schloss samt seinem großzügigen Park.

Bei Dreharbeiten für ein Porträt des Prager Kafka-Forschers Eduard Goldstücker auf Janowitz habe ich die „Fotomotive“ entdeckt, die Plätze, wo Kraus mit Gästen saß, den Steingarten, wo die begeisterte Gärtnerin Sidonie arbeitete. Ihr hatte Kraus noch drei Jahre vor seinem Tod das eher holprige Gedicht „Immergrün“ gewidmet. Goldstücker wusste fast alles über die deutschsprachige Literatur der frühen Moderne, er zitierte Kafka, Trakl und Rilke, Werfel und Else Lasker-Schüler, lange Passagen aus der „Fackel“. Er kannte die erwähnten Kraus-Briefe, die „Liebestodesangst“, die der Satiriker durchlebte. Wir plauderten über die ungewöhnliche Beziehung, die Leidenschaft, die Kraus vielleicht mehr auf dem Papier als in der Realität auslebte. „Da war nichts, er war impotent“, meinte der damals fast 70-jährige Goldstücker trocken und berief sich auf Anekdoten.

Von derartigen Anekdoten, „Unterstellungen“ weiß Johann Holzner nichts. „Karl Kraus und Sidonie Nádherny´ waren schon eher ein Liebespaar. Da gibt es Hinweise im spärlichen Nachlass Sidonies, die Rückschlüsse zulassen.“ Für ihn ist die Intimsphäre von Menschen für die Forschung ohnehin tabu, denn „da geriete man doch in Richtung Boulevardpresse“. Das gilt auch für die Spekulationen um Georg Trakl und dessen oft zitierte inzestuöse Beziehung zu seiner Schwester Margarethe, worüber sogar im Archiv ein Forscherstreit entbrannt war. Ist mit dem Begriff „Schwester“, den Trakl in seinen Gedichten oft verwendet, tatsächlich die echte Schwester Margarethe gemeint? Kaum verschlüsselt sind indes Wittgensteins Notizen über seine homoerotischen Neigungen in den „Geheimen Tagebüchern“, die vor einigen Jahren entdeckt wurden. Dass sich darüber selbst seriöse Magazine ausbreiteten, bleibt für Holzner ein Ärgernis. „Das ist eine prinzipielle Frage für jedes Archiv. Wir besitzen Nachlässe mit Materialien, die das Privateste und Intimste über Schriftsteller und Künstler verraten. Für uns ist es eine Verpflichtung, diese Schriftstücke unter Verschluss zu halten, sofern sie nicht für die Interpretation der Werke von entscheidender Bedeutung sind. Das ist eine Voraussetzung dafür, dass wir immer wieder Nachlässe bekommen, die von den Besitzern nicht extra durchgesehen werden, ob da irgendwelche verfänglichen Stücke dabei sind. Sie vertrauen uns, dass wir nicht mit irgendwelchen Enthüllungen an die Öffentlichkeit gehen.“

Wer dennoch Intimes, Erotisches unverblümt in allen Variationen sucht – inmitten der Gedankenflut, zwischen all den legendären Autographen findet er sie: skurrile Zeichnungen Fritz von Herzmanovsky-Orlandos, die in den 70er Jahren einen Ausstellungsboom ausgelöst hatten und von Museen immer noch entlehnt werden. Fantasievolle Sexspiele, oft derb, wenn auch sensibel gezeichnet. Lustvolles aus Kakanien. Doch die große Herzmanovsky-Renaissance scheint passee. Die Gesamtausgabe der literarischen Werke, die im Brenner-Archiv erarbeitet wurde, ist vergriffen. Auf den Spielplänen fehlen Herzmanovskys Stücke. Ein Ende der Nostalgie. Für Holzner und andere Forscher kein großes Malheur.
Ihr Interesse gilt neuen Beständen, Entdeckungen, die mit Spürsinn und Glück gemacht werden. So fanden sich etwa im Nachlass des Innsbrucker Literaturfreundes Raoul H. Strand zahlreiche Gedichte Theodor Kramers, die der Dichter in den Nachkriegsjahren für eine mögliche Radiosendung nach Tirol schickte. Ob sie tatsächlich realisiert wurde, lässt sich nicht mehr eruieren. Auf dem Schreibtisch Anton Unterkirchers, der seit 20 Jahren wie ein Wissenschaftsdetektiv recherchiert und fast alles über den „Brenner“ weiß, liegt sein jüngster Fund: Briefe und Manuskripte rund um die Berliner Zeitschrift „Der Sumpf“ aus einer deutschen Privatsammlung, in der sich u.a. Materialien zu Carl Dallago und Josef Leitgeb finden. Der Tiroler Literat hatte ein Gedicht gegen Hitler eingesandt. Die Zeitschrift wurde von den Nazis verboten.

Die enge Verflechtung von Literatur und Politik, das Mit- und Gegeneinander verschiedener Disziplinen, von Kunst, Musik, Architektur, Philosophie und Religionen herauszuarbeiten: Dies sind seit Jahren wichtigste Forschungsziele am Brenner-Archiv, ohne deshalb die „Glanzstücke“ zu vernachlässigen. Nur mit interdisziplinärer Arbeit kann man zu einem kulturellen Gesamtbild bestimmter Epochen beitragen. Eine Chance, die heute so oft verketzerten Geisteswissenschaften vom Vorwurf ihres Elfenbeinturm-Daseins zu befreien. Walter Methlagl ist dies zuletzt mit einer Biographie Erich Lechleitners, einem Künstler aus dem Brenner-Kreis, gelungen.

Die Publikation eines Nachlasses, der dem Archiv aber bisher nur leihweise zur Verfügung steht, sorgte gerade wegen der erwähnten „Verflechtung“ für internationales Aufsehen. Tagebücher der gebürtigen Vorarlbergerin Grete Gulbransson spiegeln das bunte Münchner Kulturleben der Jahrhundertwende bis zu den 20er Jahren. Als Frau des norwegischen Grafikers Olaf Gulbranssen, des wichtigsten Mitarbeiters des „Simplicissimus“, war sie Münchens „Szene-Madame“. Sie kannte alle Geistesgrößen und notierte sachlich-kompetent, was die Nachwelt immer noch interessiert, auch amüsiert. Ein Nachlass, der durchaus auf Dauer ins meist gedankenschwere „Brenner“-Archiv passen würde.

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.