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Hinter der Tür sind alle Worte

Ein Werkstattgespräch mit dem Schriftsteller Joseph Zoderer. Von Hans Karl Peterlini

Das Zimmer ist aufgeräumt: im Flur rechts die Garderobe mit schwarzem Hut und schwarzem Umhang, links die Tür zum Klo mit den Utensilien der Reinlichkeit für eine Person, geradeaus der Wohn- und Arbeitsraum, daneben das Schlafzimmer. Die Fenster schauen zur schmalen Gasse zwischen dem ehemaligen Realgymnasium und dem Ursulinenkloster. Von diesem schrieb der hier sich umtreibende, mit 31 an Leberzirrhose verstorbene Norbert C. Kaser:

aus den schalloechern
der ursulinen
toent es zur
vierzigstuendigen
anbeterei

eine frau
die in den lippen
rasch blaettert

ein bessrer film
fuer altweiber mit tuch
massive suende draus
in den faschingsgassen

(N. C. Kaser, Kloster I)

Jetzt blickt hier sein 70 gewordener Jugend- und Dichterfreund Joseph Zoderer vom Balkon in einen schma­len Ausschnitt von Kleinstadtleben. Jahrzehnte­lang schrieb Zoderer seine Romane im Bergdorf Te­renten, in einem aufgelassenen Haus am Hof seiner Frau, mit Blick auf Kühe und Wiesen, schrieb auf lose Blätter, die er an die Wand heftete, zerknüllte, zu Boden warf, wieder glättete, wieder an die Wand klebte, überschrieb. Ein zu schmaler Ausschnitt Leben, „ich habe nur die Kuhscheiße gesehen, die zu Boden fällt, immer dieselben wenigen Bauernge­sich­ter, ich habe ein bisschen Urbanität gebraucht“. Nicht Paris, nicht New York oder wenigstens Rom, Zoderer ist bescheiden: Bruneck, Graben 4, 3. Stock; rechts im Arbeitsraum ein rotes Sofa mit schwarzem quadratischen Tischchen, links der Schreibtisch mit wenigen Requisiten: eine Ringmappe mit handgeschriebenen Blättern, dicht gezwängt – das wird der nächste Roman mit dem Titel „Protokolle der Grausamkeit“; eine Leitz-Lochmaschine; ein schwarzgebundenes DIN-A4-Heft, in das er – mit 70 wieder – täglich Gedichte schreibt, ein kleineres, orangegebundenes Heft, eine ganz kleine, schwarze Agenda für Notizen; ein Tischtuch mit gelben Blumen, ein Kätzchen aus Ton, eine Kanne mit Grüntee, den er um sechs in der Früh anrichtet, um ganztägig daran nippen zu können und nicht aufgehalten zu werden vom Teekochen, denn er weiß, jede Geschäftigkeit lenkt ab. Ein Telefon mit Faxgerät, kein Computer, keine Zettel an der Wand: drei Bilder links, ein großes Bild rechts, alle bestehend aus handgeschriebenen Sätzen Zoderers, zum Kunstwerk in Ton gebrannt von Ivo Rossi-Sief.

Joseph Zoderer: Gefällt’s dir? Ja, da bin ich jetzt. Drei­mal in der Woche kommt meine Tochter, weil sie hier ins Lyzeum geht, dann gehen wir Mittagessen und sie macht die Schularbeiten, jetzt war gerade einer meiner Söhne aus Wien hier, am Sonntag koche ich daheim in Terenten, sonst sitze ich hier und ... ja schreibe.

Hans Karl Peterlini: Ein Rückzug zum Schreiben?

Z.: Wenn ich daheim geschrieben habe, war ich ja oft nicht auszuhalten. Hab’ ich nix geschrieben, saß ich finster bei Tisch und wenn mich einer fragte, hast du heute etwas geschrieben, bin ich aufgebraust, und wenn ich endlich einmal etwas geschrieben hatte und keiner hat mich gefragt, war ich zutiefst gekränkt, warum fragt mich keiner, warum interessiert sich keiner dafür, dass ich heute eineinhalb Seiten geschrieben habe. Verstehst du, hier kann ich in der Früh aufstehen und ohne Ablenkung an meine Schreibereien gehen.

P.: Freiheit? Oder eher Einsamkeit?

Z.: Ich kann mir nicht vorstellen, dass Kunst anders entstehen kann als aus Schmerz, aus Einsamkeit. Wenn du alles hast, wie sollst du dann schreiben? Das, was mir fehlt – darüber schreibe ich. Das macht doch die Moderne aus, nach dem Zusammenbruch des Universal-Denken-Könnens. Uns gefällt ja besser das Unvollständige, der Torso, die Statue ohne Arm, ohne Nase. Wenn heute einer eine Skulptur schafft wie einst Michelangelo – das ertragen wir doch gar nicht mehr! Wir haben uns durch den Zweifel eine Ästhetik des Verqueren, des Gebrochenen, des Künstlichen geschaffen. Das Vollkommene überfordert uns. In der Literatur glauben wir spätestens seit James Joyce nicht mehr, dass der Schriftsteller schreibend den lieben Gott ersetzen kann. Ich kann nicht in jede Figur hineinschlüpfen und jede Welt erfinden, die ich will. Wer heute noch schreibt, als wäre er der liebe Gott, kommt beim Leser deshalb an, weil er mit seiner Literatur die Gewohnheit anspricht, wie ein Boulevardblatt, das einlullt, statt ins Herz zu schneiden.

P.: Man kann Zoderer von vorne bis hinten lesen, da schimmert immer ein Kampf ums Gute durch, ein Glaube ans Gute …

Z.: Das Böse, das ganz Böse fehlt mir. Wenn ich mit mir nicht zufrieden bin, wenn ich von mir sagen muss, ich gehöre nicht zu den wirklichen Größen der Literatur, dann führe ich das darauf zurück.

P.: Du willst der Welt helfen, dem Menschen helfen?

Z.: Ich meine, ich bin, das hat einfach … das kommt wohl aus dem Charakter, aus meiner Entwicklungsgeschichte. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, habe ziemlich viel Armut und Hunger erlebt, die Arbeitslosigkeit meines Vaters, wenn er nicht im Krieg war, dann seine Invalidität. Ich bin sehr früh weggekommen wie die meisten meiner Generation, wenn sie nicht aus reichen Familien waren. Es hat ja nur geistliche Knabenseminare gegeben, und nur über einen gütigen Pfarrer, der einen zum Priestertum hinschieben wollte, ist man zum Studieren gekommen. Mein Vater war noch dazu ein sehr religiöser Mensch, das einzige, das er mir überlassen hat, war ein Koffer voller Gebetsbücher und Rosenkränze. Ich bin durch vier Institutswelten gegangen, dreimal geschmis­sen worden, und dann habe ich in einer Mädchenklasse die Matura gemacht, im ersten Staatsgymnasium in Bozen. Als ich mit zehn, elf Jahren ins Grazer Knaben­seminar gekommen bin, da habe ich die letzte Umarmung meiner Mutter gehabt, und da hat man anfangen müssen, in einer heranwachsenden Knaben-Männergesellschaft sich durchzusetzen.

P.: Aus dieser Erfahrung ist „Das Glück beim Händewaschen“ entstanden, dein Durchbruch.

Z.: Ja, es war aber nicht der erste Roman, wie viele glauben. Der erste Roman war „Der andere Hügel“, nur ist der erst 30 Jahre später bei Raetia erschienen, so wie auch „Schlaglöcher“ und „Die Ponys im zweiten Stock“. Bei diesen Versuchen war ich vom Nouveau Roman, auch von der Wiener Schule geprägt, ich bin da eigentlich zum Nicht-mehr-erzählen-Können gekommen, ich wollte nur noch entlarven, die Herrschaftssprache bloßlegen.

P.: In dieser Zeit warst du auch Journalist. Wie hat sich das mit dem Romanschreiben vertragen?

Z.: Ich bin nach der Matura nach Wien mit dem festen Entschluss, Schriftsteller zu werden. Da hatte nämlich der Fritz Molden über die Südtiroler Hochschülerschaft einen Volontärsposten für „Die Presse“ ausgeschrieben, und da ich Maturajahrgangsbester in Südtirol war, hatte ich die höchsten Punkte. Aber der Molden hat sich wohl erwartet, dass ich gleich nach der Matura, noch vor dem Sommer antrete, nur hat mir das kein Mensch gesagt, ich bin einfach wie alle anderen Studenten Anfang September nach Wien, um zu schauen, dass ich eine Bude krieg’, und da war schon ein anderer an meinem Platz, einer der Bombenleger, ich habe das erst viel später verstanden, als herauskam, dass der Molden einer der Hauptfinanziers der Südtirol-Anschläge war. Ich bin dann mit einer Mappe mit Gedichten und Erzählungen von Redaktion zu Redaktion und habe gesagt, ich bin Südtiroler und möchte Journalist werden, bis ich beim Kurier gesagt hab’, nein ich lasse die Mappe nicht da, ich lese jetzt vor, und da hat man mich genommen. Bald darauf hat mich der Dichand mit den anderen Jungen vom Kurier zur neu gegründeten Krone geholt, ja, ich war Krone-Gründungsredakteur.

P.: Das hätte auch eine Falle für den angehenden Schriftsteller sein können.

Z.: Wir hatten Wahnsinnsverträge, zwei Prozent Beteiligung, mir würde es heute richtig gut gehen, aber
ich habe mich nach zweieinhalb Jahren selbst gekündigt, um meine … um mich dem Schreiben zu widmen. Ich musste aber bald wieder klein beigeben und bin dann doch noch zum Molden gekommen, ich war mit Claus Gatterer fünf Jahre bei der „Presse“, wir wechselten uns bei den Bombenprozessen ab.

P.: Ist da der politische Zoderer entstanden?

Z.: Da noch nicht, ich war unglaublich lang ein unpolitischer Mensch, obwohl natürlich auch das Unpolitische eine politische Färbung hat. Ich erinnere mich, dass wir in den 50er Jahren in der Hochschülerschaft Lieder gesungen haben, von denen ich heute weiß: Das waren Nazilieder! Nein, meine Politisierung kam mit den 68ern. Da habe ich mir gesagt: Ich will mich jetzt nicht drücken. Ich war zwar einer der ältesten 68er, aber ich bin auf der Ringstraße gehockt und habe mich mit den anderen zusammenprügeln lassen, während meine Kollegen von der „Presse“ auf den Stufen der Oper notiert und fotografiert haben. Damit hat meine Politisierung angefangen, das bewusste soziale Fühlen. Und da komme ich vielleicht zur Antwort, warum ich nicht richtig bös’ schreiben kann …

P.: Weil du eine Mission hast?

Z.: Weil ich … ich weiß nicht. Ich bin nach Südtirol zurück und habe mich mit Alexander Langer politisch eingesetzt, habe Flugblätter verteilt vor den Fabriken, dem Magnesiumwerk, den Stahlwerken. Da habe ich die Halbtagsarbeiter aus dem Sarntal erlebt, halb Bauern, halb Fabrikarbeiter, da ist mir klar geworden, dass ich mich verständlich machen muss. Mir war vollkommen wurscht, ob ich Dichter oder Nichtdichter bin, das Wort von Hans Magnus Enzens­berger war da, jetzt muss man Reportagen schreiben, aufdecken, analysieren, Vietnamkrieg, Kapitalismus, und nicht im Elfenbeinturm an Versen herumknobeln. Ich habe mir eingebildet, dass ich diesen Arbeiterbauern verständlicher bin, wenn ich im Dialekt schreibe, und so ist „’s Maul auf der Erd“ entstanden. Mit dem Verleger Gottfried Solderer bin ich, die Büchlein im Nylonsackl, zu den Lesungen gefahren. Das nächste war dann wie selbstverständlich „Das Glück beim Händewaschen“. Ich hätte im Grunde einen Roman über die Unterdrückung am Fließband oder in einer Kaserne schreiben können, aber ich war weder Fließbandarbeiter noch beim Militär. Ich wollte schreiben, was ich kenne, wie Hemingway gesagt hat: Das was ich am besten weiß, will ich vermitteln, und nur das, was ich weiß. Was darüber hinausgeht, da beginnt das Fragen. Kann er so gedacht haben? Könnte sie so gefühlt haben? Nicht: Sie fühlte, und er dachte. Das kann ja der Autor nicht wissen! Ich wollte nur mehr aus dem eigenen bescheidenen Blickwinkel heraus schreiben …

P.: … den eigenen Schmerz sich selbst zur Verfügung stellen.

Z.: Ich gehe von mir aus, aber wie ich Figuren und Situationen mische aus verschiedenen Gelebtheiten, das geht dann über mich hinaus, da hat dann eine Frau die Nase von der Kellnerin unten im Lokal und die Tür ist die Holztür da. Ich kann nicht erfinden. Ich kann keine Liebesgeschichte in Indonesien ansiedeln, denn ich war nie in Indonesien. Ich habe über eine Liebesgeschichte in Mexiko geschrieben, denn ich war mit Hippies in Mexiko. Trotzdem musste ich mir fürs Schreiben noch einen Atlas kaufen und die Routen rekonstruieren, ich habe mexikanische Kochbücher studiert, um die Gerichte beschreiben zu können, denn selbst habe ich nur Hippiefraß genossen. Da kommt vielleicht meine journalistische Erfahrung hinzu.

P.: Trotzdem hast du den Journalismus ganz aufgegeben.

Z.: Solange ich noch G’schichtln schreiben konnte, aus dem Gericht etwa, ging’s irgendwie noch, aber bei der RAI in Südtirol, in der Nachrichtenredaktion, wurde es mir unerträglich. Ich habe mich gedrückt davor, hinauszugehen zu Pressekonferenzen und Einweihungen. Ich habe mich zum Frühdienst gedrängt, damit ich zu Mittag fertig war und nachmittags schreiben konnte, bis ich endlich kündigte … Ich war ja schon Mitte 40, hatte damals zwei Kinder.

P.: In lateinamerikanischen Ländern und auch in Italien gibt es diese Unversöhnlichkeit zwischen Journalismus und Literatur nicht.

Z.: Das bewundere ich, ich lese gern einen Márquez, auch wenn mein Freund Peter Handke ihn verachtet. Ein Claudio Magris schafft Literatur und schreibt Kommentare im „corriere della sera“. Ich kann das nicht. Meine Art literarischer Arbeit verträgt das nicht. Ich lebe wie ein Kindskopf. Wenn du den ganzen Tag dasitzt und am Abend hast du zwei Gedichte geschrieben, dann musst du ein Kindskopf sein.

P.: Nicht das Nützliche schreiben, wie der Journalist, sondern …

Z.: … das notwendig Unnütze. Du nimmst als Schreibender einfach nicht Rücksicht darauf, was von dir erwartet wird. Du musst radikal sein. Eine wichtige Literatur muss gesintert sein, die tropft heraus wie Blutstropfen fast. „Dauerhaftes Morgenrot“ habe ich in Terenten geschrieben, einsamer konnte man nicht sein, gestunken hat es, wie so eine alte Bauernstube halt alle Gerüche von Fürzen und Speck aufbewahrt, und da waren Tage, da habe ich nichts anderes getan, als sechs, sieben, acht Stunden dazusitzen und fünf Zeilen zusammenzukriegen. Das war beschämend, erniedrigend. Und jetzt lese ich, sagen wir in Koblenz oder in Berlin und komme zu diesen fünf Zeilen, und dann spüre ich, ja, das ist es. Manchmal geht es leichter, zum Beispiel „Die Walsche“, die letzten 17 Seiten habe ich in vier Stunden geschrieben, in einem Fieber. Oft ist es furchtbar: In der Früh erwachen und denken, jetzt soll ich wieder Scheißdichtung machen, und an anderen Tagen stehst du auf und spürst, du bist ein Privilegierter, du darfst schreiben.

P.: Was hält dich auf, was führt zum Fieber?

Z.: Das Quälende ist die Grenze finden zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren. Ich kann nicht alles sagen wie der Journalist, die Literatur braucht Geheimnisreserven. Wenn du schreibst, ich liebe dich, dann ist das der letzte Scheiß, literarisch gesehen. Du musst ein Bild finden, dass da einer steht am Balkon und in den Kaktus greift und ihn nicht auslässt, und du beschreibst es so, dass der Leser versteht, der ist von Sinnen. Literatur braucht das Nichtgesagte, und das, was gesagt wird, muss so gesagt werden, dass das Nichtgesagte eine ganz große Substanz wird. Anders kann ich es nicht ausdrücken.

P.: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ (Wittgenstein). Gibt es Momente, wo du spürst, jetzt bin ich an der Grenze meiner Sprache, jetzt möchte ich was sagen und kann’s nimmer, weil du da bist, wo es aufhört, Worte zu geben?

Z.: Von zehn Stunden, die ich arbeite, denke ich neun Stunden: Mir fehlt die Sprache. Hinter der Tür sind alle Worte, aber ich komm nicht hinein. Am „Schmerz der Gewöhnung“ habe ich über fünf Jahre lang geschrieben. Und bevor ich nicht das Gefühl habe, dass etwas gut ist, gehe ich nicht zu einem Lektor. Der könnte mir ja helfen, aber das tu ich nicht. So lasse ich es liegen, mache etwas anderes. Seit eineinhalb Jahren schreibe ich an dieser Mappe, da sind die „Protokolle der Grausamkeit“ drin, aber ich bin so blöd, dass ich es nicht durchlese, nicht jetzt, das tu’ ich erst in ein, zwei Jahren. Da habe ich Abstand, da lese ich mir das Handgeschriebene selber vor, streich’ aus, zerreiße, schmeiß’ ganze Seiten weg. Ich muss Masse schreiben, bis nichts mehr in mir drin ist zu einem Thema, dann kommt das Weglassen, Zurücknehmen. Da bin ich anders als der Handke. Er setzt erst an, wenn er den Satz wie gedruckt vor sich hat, höchstens dass er einmal etwas radiert, deshalb schreibt er mit Bleistift. Früher habe ich selber alles auf der Mechanischen abgetippt, jetzt wird’s in den Computer eingegeben, aber nicht zu früh, denn im Computer schaut es ja schon aus wie gedruckt, da trennt man sich nicht mehr so leicht davon.

P.: „Protokolle der Grausamkeit“ klingt wie der Versuch, doch noch einmal ganz bös’ zu schreiben.

Z.: Ich weiß nicht, ob ich das so veröffentlichen werde, aber in dieser ersten Schreibphase – ja. Da will ich einfach einmal probieren, alles bis zur letzten Rücksichtslosigkeit zulassen. Das ist ein irrsinnig schmerzhafter Prozess. Ich bewundere Schriftsteller, die so rücksichtslos schreiben können, die Figuren erschaffen, die so abscheulich verachtenswert sind, die die andern nur ausnützen, quälen – großartig! Aber ich denke, ich könnte das nie. Ich würde Todesangst haben, dass meine Tochter meint, ich bin so oder ich denke so, und da nehme ich schon Rücksicht, ich bin dann … ja zuerst Familienvater, dann Schreiber. Ich habe schlicht die Angst, meinen Kindern ein Bild zu hinterlassen, bei dem sie sich denken: Das war mein Vater!?

P.: Du bist auch mit Sex zurückhaltend …

Z.: Ich beschreibe nicht den Koitus. Ich hab’s versucht, „Der andere Hügel“ erscheint jetzt auf Italienisch als „La collina di Venere“, der Venushügel. Da habe ich mit einer Grauslichkeit sondergleichen eine Nichtliebe beschrieben, und als ich es jetzt wieder las, habe ich nach der ersten Hälfte gedacht, wunderbar, du hättest berühmt werden müssen damit, aber nach der zweiten Hälfte – grauenhaft! Der Nouveau Roman lebt ja von Wiederholungen, ich habe zwar nie die direkten Wörter verwendet, Schwanz oder so, sondern Metaphern, „die Spirale windet sich“, „das Segel geht hoch“, fast zum Lachen heut’. Das waren die Mittel des Nouveau Roman, nur hat mir damals der Mensch gefehlt, der bei Henry Miller so stark da ist: Ich bin ein Hungriger, ich bin ein Geiler, ich bin ein Schwacher, ich scheu mich nicht, meine Schwäche herzuzeigen. Das hat mich bei Henry Miller beeindruckt, er schreibt wirklich von Sex. Ich hab’s nicht so können.

P.: Warum wohl?

Z.: Das ist komisch. Ich bin vom Temperament her überschäumend. Aber sobald ich schreibe, ist alles gezähmt. Das verbindet mich mit Peter Handke. Er ist im Grunde ein Gewaltmensch, aggressiv, aber wenn er schreibt, ist alles kristallin, ruhig, philosophisch, wie unter einem Zwang.

P.: Ist das dein Schlüsselthema? Eigentlich wegwollen, böse und radikal sein wollen und das alles als Fa­mi­lien­vater und mit sozialen Verpflichtungen. Deine Südtirol-Themen – Option, Auswanderung, Fremd­heit – sind letztlich eine dankbare Matrix für dieses größere, tiefere Menschheitsthema: Wir wollen gebor­gen sein und werden ausgestoßen, müssen ausbrechen, wir wollen wieder zurück, aber nur um uns dann wieder nach dem Wegwollen zu sehnen …

Z.: Ich habe mir das immer so gedacht, aber zahle einen harten Preis fürs Südtirolersein. Bei meinen ers­t­en Lesungen hatte ich anfangs das Gefühl, ich hab’ das falsche Publikum, denn da kamen Leute, die sich einen neuen Luis Trenker erhofft hatten. Es gibt rund 40 Diplomarbeiten und Dissertationen zu meinem Werk, und fast alle beginnen mit Südtirol. Da ist Südtirol doch einschränkender als etwa Irland. „Ulysses“ lesen wir doch auch nicht, um über den Dubliner Stadtplan Bescheid zu wissen, sondern man liest seine eigene Leserexistenz mit. Der Leser ist immer ein gleichwertiger Mitautor – je nach Begabung, Entwicklung, Sensibilität, angelesener oder gelebter Kultur liest er seinen Roman heraus.

P.: Zum Beispiel aus dem Optionsthema das Loslassen-Müssen …

Z.: Die Themen der Weltliteratur sind an einer Hand abzuzählen: unsere Suche nach Liebe, nach Glück und der Schmerz, den wir beim Scheitern daran haben. Unsere Zeit ist so kurz bemessen, dass unser Leben von vornherein eine tragische, eine sehr tragische Angelegenheit ist.

P.: Das erklärt wohl auch, warum du dich so schwer tust, böse zu sein.

Z.: Ich kann den Menschen nicht verachten. Ich kann mit Sarkasmus nichts anfangen. Ich bin ein Naiver. Das gibt mir auch Kraft, ich kann immer hoffen. Die Hoffnung bedarf der Naivität. Ich weiß alles über den Tod, mein Vater hat mich schon als Sechsjährigen zum Ministrieren bei den Begräbnissen mitgenommen, da standen oft dutzende offene Särge. Und trotz dieser Kenntnis des Todes bin ich ein ganz auf’s Leben hingewendeter Mensch.

P.: Hinter jedem Schaffen steckt auch eine Neurose, sagt man, und hinter der Neurose eine Wunde.

Z.: Ich habe eine Schreibneurose. Es ist mir ein ungeheures Opfer, auf Orte und Menschen zu verzichten, die mir nah sind, aber ich muss. Ich muss mich immer neu losreißen, auch als ich in Terenten schrieb, musste ich einen Teil des Romans in einer fremden Umgebung schreiben, in Rom, in Venedig, wo auch immer. Für das „Glück beim Händewaschen“ konnte ich nicht weg, da habe ich zu Mittag die Jalousien heruntergelassen und Joan Baez aufgelegt und Kerzenlicht angezündet, damit ich Nachtgefühl hatte, denn abends wollte ich mit meinen Kindern spielen und mit meiner Frau ins Bett sinken. Ich weiß nicht, ob jeder so ein Vatervertrottelungsgefühl hat wie ich, mir bricht ja fast das Herz, wenn ich mich von den Kindern verabschiede, ich kann mich nicht einmal von meinen erwachsenen Söhnen verabschieden, ohne zu plärren. Dann sitze ich hier mit mir allein und schreibe.

P.: Zum Heilen der Verletzungen?

Z.: Ich habe mir immer eingebildet, ich hatte eine schöne Kindheit. Erst als ich selbst Kinder hatte und das „Glück beim Händewaschen“ schrieb, habe ich mir gedacht, na, das möchte ich meinen Kindern nie zumuten, vor dem möchte ich sie bewahren. In den Knabeninstituten, da war’s grausam, ich hatte furchtbar Heimweh, wir durften ja nicht einmal reden, nur nach dem Essen kurz auf dem Hof und da nur in Gruppen, nie zu zweit, weil sonst hätte vielleicht Homosexualität herauskommen können. Trotzdem war es für mich … ich war einfach eingenistet in meiner Sprache. Das war mein Hort. Diese Schreibbude da, sie ist mir jedes Mal fremd, wenn ich hineingehe, aber das ändert sich sofort, wenn ich die Blätter hernehme, ich muss nur einen halben Satz schreiben, dann schließt sich so eine Nestwärme um mich. Meine Heimat ist die Sprache geworden, mehr kann ich eigentlich nicht sagen. Zum 70. Geburtstag wurde ich gefragt, woher diese Sprache kommt. Ich habe eine ganz blöde Antwort gegeben: „Ich habe immer Hunger gehabt.“ Nachher habe ich mir gedacht, das hat ja keinen Zusammenhang.

P.: Das Schreiben als Ersatz für das, was fehlt?

Z.: Sich eine weitere Welt schaffen, das ist doch das Ziel der Kunst. Sagen wir, einer schneidet ein Loch in eine Schuhschachtel und hält es gegen einen Ast oder gegen ein Stückchen Wand und sagt: Herrlich, dieser weiße Fleck, mit diesen kleinen Erhebungen. Oder der Ast: ein Wahnsinn, wie der da schwingt … Da braucht es keine Filmkamera oder andere Vermittlungen, da wird jeder Blick zum tiefen Erlebnis, da geht dann der Mensch wahrhaft durch das Paradies. Ich glaube nicht an das Glück, aber wir können uns unendlich viele Illusionen von Glück … Oft denke ich mir, mein älterer Bruder, der wohl nicht einmal eines meiner Bücher gelesen hat, er hat ja nur arbeiten müssen, war mit 16 Jahren in Russland, Schwerstverwundeter – was macht der? Er ist Witwer, lebt allein, auch in so einer Wohnung wie ich. Was tust du, wenn du nicht liest, wenn du nicht etwas verwirklichen kannst in Sprache oder Bildern?

P.: Vielleicht hat er eine andere Schuhschachtel?

Z.: Vielleicht! Ja, er hat die Musik. Ich war ganz die Mama, die hat als einzige gelesen in unserer Familie, aber sie hat auch immer Schnulzen gehört, und so sitze ich glückselig vor dem Musikantenstadl, während mich meine Kinder verachten. Und mein Bruder: nur klassische Musik, er war Trompeter bei der Untermaiser Musikkapelle, und als er nicht mehr trompeten konnte, war er Schlag­­zeuger bei den Obermaisern, er hat ein großes Repertoire, er wird sich mit der Musik schöne Stunden machen. Zu diesem Punkt musst du kommen! Wenn du deine Primärbedürfnisse hinter dich gebracht hast, dann kannst du dich dem notwendigen Unnützen zuwenden, aber wie viele Menschen haben ihre Primärbedürfnisse gedeckt, zwei Drittel sicher nicht, wahrscheinlich drei Viertel nicht.

P.: Das ist wieder der politische Zoderer.

Z.: Eine Literatur, die nicht Stellung nimmt, verachte ich. Wenn da sehr talentierte Nachwuchsautoren sagen, mich interessiert Politik nicht, ich bin was Höheres – die tun mir leid. Da bin ich halt wieder das Arbeiterkind: Wenn du das Privileg hast, dass du formulieren kannst, erkennen kannst, analysieren kannst, dass du Unrecht siehst – und dich dann davon abkehrst, dann graust’s mich! Dann hat man die Gelegenheit vertan, die man für sich, für die Gesellschaft ergreifen kann, auch für die eigene Würde. Man kann bei Unrecht nicht wegschauen, sonst ist alles Schreiben lächerlich. Aber jetzt musst du mich entschuldigen, ich muss aufs Klo, ich trink’ ja den Grüntee, da­mit er treibt. Gehen wir danach essen?

P.: Ja gerne, ich denk’, wir sind fertig. Auch wenn wir nicht über Südtirol geredet haben.

Z.: Dafür bin ich dir dankbar!

P.: Und auch nicht über Gott.

Z.: Über alles kann man nicht reden. Aber wart’, ich les dir noch ein paar Gedichte vor.

 

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