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„Ich weiß nicht, wann der Mond
eingefangen wurde.“

Der Physiker Ferdinand Cap und der Künstler Ernst Trawöger im Gespräch: über Zeit, Raum und die Frage, ob eigentlich jemand bemerkt hat, dass über Nacht alles doppelt so groß geworden ist.

Trawöger: Fangen wir mit etwas Altem an. Es gibt die fernöstliche Idee, dass bei einem Trinkgefäß nicht das Gefäß an sich das Wichtige sei, sondern die Leere im Gefäß. Und wenn man das räumlich betrachtet, dann hätten wir zwei Räume: einen, der irgendwie ausgefüllt ist, und dann den wirklich leeren Raum, der in der Physik eigentlich kaum vorkommt.

Cap: Sie können in der Physik niemals vom leeren Raum sprechen. Wir haben nämlich zwei konkrete Beispiele dafür, dass der Raum nicht leer ist. Erstens: Es gibt in der allgemeinen Relativitätstheorie einen mathematischen Beweis, der besagt, dass das Konzept des Raums zusammenbricht, wenn man alle Dinge aus dem Raum entfernt. Das heißt, der Raum ist nichts anderes als die Summe der Abstände von vorhandenen Dingen. Keine Dinge – kein Raum. Das kann man mathematisch beweisen. Zweitens: In einem Raum, den wir durch physikalische Mittel künstlich leer machen wollen, haben wir immer noch eine Untergrundbewegung von Elementarteilchen. Also ist irgendetwas immer da.

T.: Das heißt, der leere Raum ist nur ein gedachter Raum.

C.: Ganz recht. Das sind Konzeptionen, die auch schon Kant und Newton hatten, die heute aber als überholt anzusehen sind. Es gibt keinen völlig leeren Raum.

T.: Ist der leere Raum das, was das Universum ausfüllt?

C.: Ja, da müsste man sich das heutige Bild der Kosmologie und Kosmogonie, also der modernen Ansichten der Physik über das Weltall genauer anschauen. Wir wissen heute mit ganz großer Wahrscheinlichkeit, dass sich das Weltall ausdehnt. Das heißt, der Abstand zwischen den einzelnen Sternen oder Sterneninseln wird immer größer. Und wenn wir heute mit unseren großen Teleskopen und anderen Mitteln hinaufsehen ins Weltall, so haben wir so ziemlich den Eindruck, dass wir bereits an den Rand sehen. Es könnte sogar sein, dass das Weltall, das ja gekrümmt ist – dass wir bereits rundherum etwas von hinten sehen.

T.: Ich weiß nicht, ob Sie die Überlegung von Henri Poincaré kennen: Wenn plötzlich über Nacht, ohne dass jemand etwas bemerkt, alles doppelt so groß wäre, dann würde es niemandem auffallen. Wir haben also keine Vergleichsmöglichkeit zu einem absoluten Raum.

C.: Ja natürlich, wenn man den Maßstab ändert, kann man solche Gedankenspiele machen. Aber wir wissen heute schon, dass es eine kleinste Länge gibt, die so genannte Plank’sche Länge. Das ist eine Null und nach dem Dezimalpunkt 40, 50 weitere Nullen und dann irgendwo ein Einser und dann Zentimeter oder Meter, genau weiß ich’s jetzt auswendig nicht. Das ist die absolut kleinste Länge. Und damit haben wir doch einen Bezugspunkt, auf dem wir dann die Maßstäbe für große Entfernungen aufbauen können.

T.: Der Raum ist ja eng verknüpft mit der Zeit. Heraklith hat die Zeit als Fluss gesehen – und zwar als veränderlichen Fluss. In der Physik ist die Zeitmessung periodisch. Glauben Sie, dass das eine adäquate Messung der eigentlichen Zeit ist?

C.: Da berühren Sie jetzt zwei sehr schwierige Fragen. Die eine lautet: Was ist die Zeit? Und die andere: Wie können wir sie messen? Der Physiker Richard Feynman hat gesagt: Sie wollen von mir wissen, was die Zeit ist? Ich glaube, ich kann es Ihnen physikalisch nicht erklären. Ich meine, Zeit ist immer das, was passiert, wenn gar nichts passiert. Nun, sicherlich haben wir bei Heraklith und bei allen möglichen Philosophen gewisse Vorstellungen der Zeit. Aber heute neigt die moderne Physik dazu, den Zeitbegriff mit dem Raum zu verbinden. Wir können fast sagen, es gibt keine Zeit ohne Raum – und es gibt auch keinen Raum ohne Zeit. Und diese Behauptung können wir heute streng physikalisch beweisen, indem wir beispielsweise zwei sehr gute Atomuhren um die Erde herum führen, dann gehen diese Uhren anders als Uhren, die hier auf der Erde stehen. Weil nämlich der Raum in der Umgebung der Erde andere Eigenschaften hat: Er ist gekrümmt. Und heute ist es sogar soweit, dass auch die Technik darauf höchste Rücksicht nehmen muss, etwa beim so genannten GPS: Durch Strahlen von einem Satelliten empfängt ein kleiner Apparat im Auto genaue Messdaten, die uns sagen, wo auf der Erde wir uns befinden. Und wenn man also heute in der Lage ist, auf wenige Meter genau die eigene Position auf der Erde über die Satelliten festzustellen, so geht das nur deshalb, weil genau diese Zeitdehnung, diese Zeitverschiebung, die daher rührt, dass der Satellit um die Erde kreist, berücksichtigt wird. Würde man das rechnerisch vernachlässigen, dann läge die Messgenauigkeit nur bei etwa 50 oder 80 Meter. Ein direkter Beweis für die Behauptung, dass Raum und Zeit einander bedingen.

T.: Die Zeitdifferenzen, die bei GPS berücksichtigt werden, betreffen aber die Gravitation und nicht die spezielle Relativitätstheorie.

C.: Richtig, das ist nichts spezielles. Das ist allgemeine Relativitätstheorie, also gravitativer Einfluss.

T.: Nun wird aber im Falle der speziellen Relativitätstheorie von Einstein unter anderem die Zeitdehnung mittels einer Lichtuhr erklärt. Da hier kein äußerer Einfluss vorzuliegen scheint, hätte zum Beispiel Galilei dies nicht akzeptiert.

C.: Schauen Sie, bei der speziellen Relativitätstheorie, die jetzt fast 100 Jahre alt ist, ist es so: Wir, unser Denken, unsere Wortwahl sind geprägt durch den täglichen Gebrauch der Sprache. Man kann verschiedene Sachverhalte, vor allem auch in der Quantentheorie, äußerst schwer mit der normalen Sprache ausdrücken. Die Physik hat sich daher angewöhnt, eine eigene Sprache zu entwickeln: die Mathematik. Und wir können das, was Sie von der Zeitdehnung, Zeitverschiebung erwähnen, eigentlich nur mathematisch beschreiben.

T.: Wie ist in diesem Zusammenhang zu erklären, dass James Bradley im 18. Jahrhundert die Lichtgeschwindigkeit durch die Sternaberration gemessen hat – also über den abweichenden Winkel eines auf der Erdoberfläche auftreffenden Lichtstrahls auf Grund der Erdumdrehung?

C.: Ja, schauen Sie einmal, auf welche Messfelder der Bradley sich eingelassen hat. Heute kennen wir die Lichtgeschwindigkeit bis auf 7 oder 8 Stellen genau – oder ich glaube sogar noch genauer. Und auf die letzten Stellen kommt es an.

T.: Ja gut, aber Bradley ist auf 297.800 gekommen.

C.: Das ist aber falsch.

T.: Aber nicht ganz … Ich wollte mit Ihnen noch ausführlicher über die Gravitation reden. Ist bei diesem Thema eigentlich physikalisch alles geklärt?

C.: Die Gravitation ist absolut geklärt. Sie ist einfach eine Folge der vorhandenen Materie. Jede schwere Materie kann den Raum in ihrer Umgebung krümmen. Und wenn dort Körper sind, folgen sie als Falllinie bestimmten Linien, so genannten geodätischen Linien.

T.: Aber das ist doch nur eine geometrische Deutung, keine Erklärung der Wirkung.

C.: Da verlangen Sie von der Naturwissenschaft etwas, was sie prinzipiell gar nicht kann und auch gar nicht will. Die Naturwissenschaft will beschreiben, aber sie will niemals das Wesen irgendeiner Erscheinung erklären. Wir können nur sagen, wir vermuten diesen oder jenen Sachverhalt, wir machen eine Theorie, eine Hypothese, wir überprüfen die Hypothese mit einem Experiment. Und so lange das gültig ist, nehmen wir es provisorisch für richtig an. Es kann aber in den nächsten fünf Minuten irgendein Experiment irgendwo auf der Welt gemacht werden, das unserer Annahme widerspricht, dann müssen wir wiederum schauen, wie wir die neue Erfahrung in diese alten Vorstellungen mathematisch einbauen können.

T.: Kommen wir auf die Gravitation zurück: Kann diese als Beschleunigung oder als Rotation begriffen werden?

C.: Beides. Es gibt da sehr schöne Beispiele, auch von Einstein. Sie setzen einen Menschen in einen Kasten und positionieren den irgendwo im Weltall. Wenn jetzt der Mensch plötzlich einen Zug, einen Druck, verspürt, so kann er nicht unterscheiden, ob der Zug daher kommt, dass irgendein Himmelskörper in der Nähe ihn anzieht, oder ob irgendein Geist aus 1001 Nacht den Kasten packt und beschleunigt wegzieht. Wir können nicht unterscheiden, ob das ein Druck nach unten ist, ausgelöst von einer Anziehungskraft, oder ein Druck nach unten, indem das Ganze nach oben beschleunigt wird.

T.: Es gibt ein Experiment, mit dessen Hilfe ich feststellen kann, ob ich mich in einem Gravitationsfeld oder in einem beschleunigten Zustand befinde.

C.: Nein.

T.: Wenn ich zwei Massen fallen lasse, ist ihre Bahn im Falle einer Beschleunigung parallel, im Falle einer Gravitation aber konzentrisch.

C.: Wieso denn? Das ist mir nicht klar, wie Sie das meinen.

T.: Wenn ich auf der Erde zwei Dinge fallen lasse, dann bewegen sie sich ja nicht parallel, sondern konzentrisch. Sie bewegen sich ja zum Mittelpunkt des Planeten hin.

C.: Moment, auf der Erde kommt noch alles Mögliche dazu. Die Erde selbst rotiert ja, es tritt eine Zentrifugalkraft auf und es tritt eine so genannte Corioliskraft auf, die zum Beispiel Grund ist für die Bildung von Hurrikanen. Ich habe gerade heute mein Kapitel über Hurrikane abgeschlossen – für ein englisches Lehrbuch, das demnächst erscheinen wird und zu erklären versucht, wieso es durch die Bewegung des Windes auf der Erde eine Ablenkung gibt. Das ist die so genannte Corioliskraft und durch sie beginnt der Zyklon sich zu drehen, und zwar immer heftiger, je wärmer die Meeresoberfläche ist …

T.: Rotationsbewegungen sind relativistisch schwer zu deuten. – Wenn ich den Mond anschaue, dann ist ja interessant, dass er uns immer dasselbe Gesicht zeigt. Daraus kann ich doch schließen, dass sich der Mond drehen muss.

C.: Nein. Die Rotation des Mondes um seine Achse ist etwas ganz anderes als der Umlauf des Mondes um die Erde. Der Umlauf des Mondes um die Erde wird bestimmt durch die Gravitationskraft zwischen der Erde und dem Mond und der Anfangsgeschwindigkeit, die der Mond vor Urzeiten hatte, als die Erde ihn eingefangen hat. Die Rotation des Mondes ist etwas ganz anderes und hängt damit nicht zusammen. Der Mond ist ja auch keine exakte Kugel, das heißt, verschiedene Gravitationskräfte zwischen Erde und Mond bringen ihn dazu, immer weniger und weniger zu rotieren. Er wird ein bisschen gebremst. Und allein aus der Tatsache, dass der Mond uns praktisch immer dieselbe Seite zukehrt, können wir sofort schließen, dass er schon lange bei der Erde ist.

T.: Wird es irgendwann einmal in ferner Zukunft eine leichte Verschiebung geben?

C.: Ich hab’ die Rechnungen nicht gemacht und hab’ sie auch nicht im Kopf, aber ich vermute, dass der Mond schon mindestens eine Milliarde Jahre bei der Erde ist. Die Erde ist jetzt über vier Milliarden Jahre alt, hat also genügend Zeit gehabt, ihn zu bremsen. Ich weiß nicht, wann der Mond eingefangen wurde.

T.: Ist eigentlich Ihrer Ansicht nach Beobachten gleich Messen? Oder gibt’s vielleicht auch die Möglichkeit einer Beobachtung, die nicht unbedingt einem Messvorgang entspricht?

C.: Moment, eine Beobachtung ist immer eine Messung.

T.: Das sagen Sie!

C.: Das sind Wortspiele!

T.: Also ist es automatisch eine Messung, weil man ja sowieso nicht direkt beobachten kann?

C.: Nein. Auch wenn ich Sie jetzt anschaue, ist das für mich – wenn Sie wollen – eine Beobachtung. Aber genauso haben meine Augen ein gewisses Bild von Ihnen – und dieses Bild ist eine reine Messung, die in meinem Gehirn verarbeitet wird: Das ist ein männliches Wesen mit intelligenten Zügen und ist charmant und befragt mich.

 

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