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Doppelt so schnell, halb so gut?

Der Organist und Musiktheoretiker Willem Retze Talsma polarisierte mit seiner 1980 in Innsbruck erschienenen „Anleitung zur Entmechanisierung der Musik“ die Fachwelt. Dann verschwand er. Flötist und Architekt Michael Cede verfolgt Talsmas Spuren.

Mit der nüchternen Aufschrift „fallecido“ („verschieden“) bekam Wolfgang Praxmarer, Leiter der Abteilung für E-Musik im ORF Tirol, im September 2005 ein von ihm an Willem Retze Talsma gesendetes Paket zurück. Auch wenn darauf folgende Recherchen ohne allerletzte Aufklärung blieben, geht man in der Musikfachwelt, in der Talsma von Innsbruck aus für viel Aufsehen sorgte, von der traurigen Gewissheit aus, dass der 1927 in Holland geborene Pianist, Musikologe, Organist und Musikjournalist völlig vereinsamt im südspanischen Murcia verstorben ist.

Talsmas musikalische Heimat war Innsbruck. Als Organist schon hochgeschätzt, machte er besonders bei den großen Orgeltagen in Alkmaar auf sich aufmerksam – dann kam eines zum anderen, und den Holländer verschlug es in die Tiroler Hauptstadt: Der Innsbrucker Egon Krauss, eigentlich ein gelernter Eisenbahningenieur, der sich einen internationalen Ruf als Orgelbaufachmann erarbeitet hatte, holte Talsma in die Hofkirche an „seine“ Ebert-Orgel, mit deren Restaurierung er beauftragt war. „Er vermag es wirklich, diese Orgel authentisch zu spielen“, war Krauss überzeugt.

Und Talsma blieb in Innsbruck – wohl auch wegen Bernhard Handel, einem Klavier- und Cembalolehrer an der Städtischen Musikschule, der ihn sehr schätzte und förderte. Handel war einer, der sich, lange bevor die „Alte Musik“ hierzulande das internationale Publikum eroberte, sehr um die historische Aufführungs­praxis und vor allem um spielbare Originalinstrumente bemühte. Als seine Mutter ihn etwa auf die skurrile Zeitungsannonce „Verkaufe Drahtkommode – wenn gestimmt auch spielbar“ aufmerksam machte, fand er heraus, dass es sich um ein „Gröber“-Klavier (gebaut vom Klavierstimmer Beethovens!) handelte. Natürlich kaufte er und natürlich um wesentlich weniger Geld, als er nachher für die Restaurierung berappen musste …

Der Interpret Talsma

Die ersten Aufnahmen mit Talsma als Interpret produ­zierte der ORF Tirol auf Initiative des damaligen Musikchefs Othmar Costa im Privathaus von Bernhard Handel und auf dessen Instrumentarium. Costa erzählt von einem Musiker, dessen Körperbewegun­gen eins waren mit dem musikalischen Fluss, der spielend tanzte und tanzend seine Tempi erklären konnte. Der Sänger Helmut Wildhaber entdeckte Talsma für sich als Klavierpartner, und es folgten etliche Konzerte und Einspielungen: Schuberts „Winterreise“ oder „Die schöne Müllerin“ blieben ebenso in Erinnerung wie Interpretationen von Klavierstücken Padre Antonio Solers und Ludwig van Beethovens.
Ein Meilenstein in Talsmas Musikerleben war jedoch eine mit Wildhaber realisierte Aufnahme von Schumanns „Dichterliebe“, produziert in Innsbruck und zu­sammen mit Texten der Musikwissenschaftlerin und Pianistin Grete Wehmeyer gesendet von einigen wichtigen Radiostationen (wie etwa dem WDR Köln). In ganz Europa fragte man sich: Wer ist dieser Willem Retze Talsma, der da klassisches Klavierrepertoire so provokant anders musiziert und glaubt, er könne von Innsbruck aus alle Tempogewohnheiten über den Haufen werfen? Seine Einspielungen wirkten stark polarisierend. Glühende Verehrer, „Endlich!“ rufende Gleichgesinnte formierten sich zu musikalischen Slow-Food-Anhängern, nicht wenige Prominente der großen Musikszene erklärten Talsma schlichtweg für verrückt.

Die Wiedergeburt der Klassiker

Die allgemeine Aufregung war perfekt, als Talsmas musikologisches Hauptwerk „Wiedergeburt der Klassiker. Anleitung zur Entmechanisierung der Musik“ im Jahre 1980 im Innsbrucker Verlag Wort und Welt erschien. Bestseller werden solche Fachbücher selten: Elisabeth Orator, die Schwester des Jesuitenpaters Siegmund Kripp (legendärer Leiter des Innsbrucker Jugendzentrums Kennedy-Haus), machte die Realisierung erst möglich. Auf Grund ihres Inhalts wurde die 270 Seiten starke Schrift allerdings sehr schnell in der internationalen Musikwelt bekannt: Ein völlig falsch verstandenes und von der Musikindustrie und natürlich auch von Teilen des Publikums forciertes Virtuosentum sei die Hauptursache dafür, dass die Tempogestaltung im klassischen Musikbetrieb völlig aus den Fugen geraten sei, so Talsma. Viel zu schnell „exekutiere“ man mittlerweile etwa Beethovens Kompositionen. Für Talsma besteht die Virtuosität nicht im möglichst schnellen, sondern im „richtigen“ Vortrag eines Musikstückes – ganz nach Wolfgang Amadeus Mozart, der zu seiner Zeit schon unter dem „Hinunterstäuben“ des Oberklaviertigers Clementi litt („So zu spiellen und scheissen ist bei mir einerley“). Auch für Mozart bestand die Qualität eines Musikers darin, „das stück im rechten tempo wie es seyn soll zu spielen. Alle noten, Vorschläg Etc: mit der ge­hörigen expreßion und gusto, wie es steht auszudrücken, so, das man glaubt, derjenige hätte es selbst Componirt, der es spielt.“ Nach Mozart verstummte eine derartige Tempodiskussion, die großen politischen Revolutionen und besonders die industrielle im 19. Jahrhundert veränderten die Welt und schufen einen primär realistisch-materialistischen Zeitgeist, in allen Kunstformen stand plötzlich die „Expression der Technik“ im Vordergrund und weniger die Beet­hovensche „Wahrheit der Empfindung“.

Die Einzelhaft am Klavier

So mancher Musiker sah sich verpflichtet, einem Industriearbeiter gleich acht Stunden am Tag sein Klavier zu bearbeiten – Grete Wehmeyer schrieb über die „Einzelhaft am Klavier“ und Talsma beklagte den heutigen Konzertpianisten, der sich einer „täglich viele Stunden beanspruchenden, menschenunwürdigen mechanischen Selbstdressur“ unterwirft. Natürlich will man nach diesen Strapazen seine sportlichen Fähigkeiten dem Publikum auch präsentieren, und die Niccolo Paganinis und Clara Schumanns wurden ob ihrer außergewöhnlichen instrumentalen Fähigkeiten bewundert und bejubelt, doch schon 1823 mutmaßte Ludwig van Beethoven in einem Brief an seinen ehemaligen Schüler Ferdinand Ries: „Der gesteigerte Mechanismus im Pianofortespiel wird zuletzt alle Wahrheit der Empfindung aus der Musik verbannen.“

Willem Retze Talsma schreibt, dass besonders die Musik Beethovens, mit der er sich eingehend beschäftigt hat – in so mancher guten Stunde sah er sich als Reinkarnation von Anton Schindler, dem ersten gro­ßen Beethovenbiographen –, in der heutigen Praxis immer mehr einen mechanisierten, unpersönlichen und oft sogar aggressiven Charakter angenommen habe, der den Absichten des Komponisten in keiner Weise entspreche.
In seiner „Wiedergeburt der Klassiker“, sonst sehr sachlich und wissenschaftlich verfasst, lässt er diesbezüglich auch den Dichter sprechen. Wilhelm Busch nämlich brachte das (Klavier-)Virtuosentum seiner Zeit in folgenden Versen herrlich pointiert zu Papier:

„Ein gutes Tier
Ist das Klavier
Still, friedlich und bescheiden,
Und muss dabei
Doch vielerlei
Erdulden und erleiden.

Der Virtuos
Stürzt darauf los,
Mit hochgesträubter Mähne
Er öffnet ihm
Voll Ungestüm

Den Leib, gleich der Hyäne.
Und rasend wild
Das Herz erfüllt
Von mörderlicher Freude,
Durchwühlt er dann,
Soweit er kann,
Des Opfers Eingeweide.

Wie es da schrie,
Das arme Vieh,
Und unter Angstgewimmer
Bald hoch, bald tief
Um Hilfe rief,
Vergess’ ich nie und nimmer.“

Vom „Tempo giusto“, dem „rechten“ Tempo

Wie findet der engagierte Musiker nun das „richtige“ Tempo eines Musikstückes? In der Regel hilft ein italienischer Ausdruck am Beginn des jeweiligen Satzes, wie „adagio“ oder „allegro“, doch woran orientiert man sich, wenn – wie vor allem im 18. Jahrhundert sehr häufig – die zwar zu einer wohlüberlegten Tempowahl mahnende, aber wenig aufschlussreiche Angabe „a tempo giusto“ voransteht, also „zu spielen im richtigen Tempo“? Talsma, der „tanzende Pianist“, argumentierte sehr oft mit der natürlichen Bewegung des Menschen. Wenn er eine Allemande am Cembalo musizierte, tat er dies stets so, dass diese auch tanzbar war. Wenn er Mozarts berühmtes „Rondo alla Turca“ – also „im Takt eines türkischen Marsches“ – als atemberaubende (und atemberaub­te) Zugabe eines Klavierrecitals hörte, fragte er sich, wie das wohl ausgesehen hätte, wenn 1683 das Osmanische Heer in diesem Tempo nach Wien marschiert oder besser gesagt gesprintet wäre …

Auch am natürlichen Rhythmus des Sprechens orientierte sich Talsma, am Wechsel von betonten und unbetonten Silben. Johann Mattheson schreibt in sei­nem Schlüsselwerk „Der vollkommene Capellmeister“ im Jahre 1739 von zwei-, drei- oder mehrsil­­bigen „Klangfüßen“. Die Klassische Musik ist gebundene, keine freie Rede, sie kennt die griechischen Versformen und lebt, wie Talsma schreibt, von „Bewe­gung zwischen Spannung und Gegenspannung, schwer und leicht, lang und kurz, gut und schlecht …“

Alle Noten in rasendem Tempo zu spielen ist eine Sache, doch diese Charakteristika hörbar zu machen eine andere.

Ein metronomischer Irrtum?

Die Vortragsgeschwindigkeit eines Musikstückes kann natürlich auch als Zahl ausgedrückt werden. Als Instrument dafür dient heute das Metronom – um 1813 von Johann Nepomuk Mälzel, einem „trefflichen Wiener Mechaniker“, wie die Allgemeine Musikalische Zeitung Leipzig befand, erfunden. An diesem zu Beginn noch „Chronometer“ genannten Gerät kann der Musiker die Anzahl der Hammerschläge pro Minute einstellen und so, wenn es präzise funktioniert, genau die vom Komponisten definierte Dauer einer Viertel-, Achtelnote oder was auch immer überprüfen. Bis dahin dienten der objektiven Tempoangabe der menschliche Puls (noch 1752 verwendete Johann Joachim Quantz in seinem „Versuch einer Anleitung die Flöte traversiere zu spielen“ darauf bezogene Verhältniszahlen), die durchschnittliche Gehgeschwindigkeit und vieles mehr.

Der direkte Vorläufer des Metronoms war allerdings das sogenannte „Pendelchronometer“, eine einfache Bleikugel an einem Faden, dessen Länge nach Galileis Pendelformel die Pendeldauer definiert. Genau darauf bezog sich Talsmas These, dass nach Clara Schumann bei vielen klassischen Werken die angegebenen Metronomzahlen falsch interpretiert wurden; die Wiedergabe erfolgte daher doppelt so schnell wie vom Komponisten gewollt. Aus einem Pendel konnte man ja zwei Zeiteinheiten ablesen: nur die eine Bewegung vom linken zum rechten Umkehrpunkt oder die ganze Hin- und Herbewegung der Bleikugel, die natürlich die doppelte Zeit in Anspruch nimmt. Im Band 2 seiner „Wiedergeburt der Klassiker. Die Klaviersonaten Beethovens in zeitgenössischen Zeugnissen“, den er 1999 veröffentlichte, nahm er noch einmal – wohl auch in Kenntnis von Paul Badura-Skodas „Über den richtigen Vortrag der sämtlichen Beethoven’schen Klavierwerke“ von 1963 – vertiefend zu diesem Problem Stellung: Wenn Ludwig van Beethoven nun vor den ersten Satz seiner Hammerklaviersonate op. 106, der einzigen, für die er selbst Metronomziffern angegeben hatte, die Tempoangabe „Halbe = 138 (Schläge pro Minute)“ setzte, so meinte er laut Talsma, dass der Pianist diesen Satz zwar im Alla-Breve-Charakter artikulieren möge, dass jedoch ein Metronomschlag die erste Viertelnote meint und der andere die „schwächere“ zweite – so wie im griechischen Versmaß des „Trochäus“ ja auch eine lange, schwere und eine kurze, leichte Silbe existiert. Daraus ergäbe sich natürlich das halbe Tempo von dem, was man heute unter „Halbe = 138“ versteht (nämlich einen Metronomschlag auf jeder halben Note).

„Un poco Willem Retze Talsma, ma non troppo“

Tempodiskussionen gehören zur Musik. Mit manchen Metronomzahlen, besonders je älter sie sind, geht ein Musiker auch (zum Glück!) etwas liberaler um. Es gibt zweifellos Musikstücke, die ihren Charakter im etwas langsameren und auch im etwas zügigeren Tempo bewahren, manche wiederum – in der Klassik meist die mit „tempo giusto“ überschriebenen – fordern ganz genau diese eine Bewegung, die der sensible Musiker erspüren muss. Der Faktor 2 oder 1/2, den Talsma nun einforderte, ging jedoch über diese ganz natürlichen, menschlich unterschiedlichen Tempoempfindungen der Musiker hinaus und sorgte daher vielerorts für großes Unverständnis.

Der Tiroler Komponist Bert Breit bezeichnete seinen ersten Jodler für drei Violinen und Viola mit „Un poco Willem Retze Talsma, ma non troppo“. Der Zusatz „ma non troppo“ (aber nicht zu sehr) ist es auch, der es uns erlaubt, mit neuen, sich auch immer wieder ändernden und sich gegenseitig widersprechenden musikwissenschaftlichen Erkenntnissen über authentische Tempowahl, Phrasierung, Verzierung etc. relativierend zu verfahren. Die Beschäftigung damit ist wichtig und bereichernd, doch letztlich entscheidet der in seiner Zeit lebende Musiker, wie er Musik macht und empfindet.

Wie gesagt: Das häufigste Grundtempo im Barock war der menschliche Puls, der ungefähr einer Sekunde entsprach. Dieser menschliche Ruhepuls mag sich vielleicht nicht besonders verändert haben, aber auf jeden Fall der so genannte „Puls der Zeit“, ein schon etwas klischeehafter Ausdruck, der aber seine Berechtigung hat. Von Ludwig van Beethoven ist überliefert, dass ihn ein am Fenster seines Komponierzimmers vorbeigaloppierendes Pferd zu einer schnellen rhythmischen Bewegung inspirierte. Wem läuft heute schon ein Pferd an seinem Fenster vorbei?

„Nicht ganz sang- und klanglos …“

Willem Retze Talsma löste weltweite Diskussionen aus und brachte viele zum Nachdenken, die Praxis folgte seinen Theorien aber nur bedingt und die Musikpädagogik ignorierte ihn weitgehend. Auch deshalb übersiedelte er, als ihm der Arzt seines kranken Sohnes einen Klimawechsel für diesen ans Herz legte, nicht ungern nach Murcia und setzte sich von der Musikwelt, von der er sich zu wenig verstanden fühlte, ab.
Der zu Beginn schon erwähnte Othmar Costa schrieb in einem Brief:
„Die ‚Großen‘ und die ‚Größeren‘ haben sich bald von ihm und seinen Ideen distanziert. Ich meine aber, dass er zu wichtig war, als dass er ganz sang- und klanglos von dieser Erde verschwindet.“

Wenn er das überhaupt schon getan hat …

 

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