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Fenster von sich selbst

Vom Videostill zum Gemälde: Martina Steckholzer hat die Titelseite dieser Ausgabe gemacht und sechs
Doppelseiten
im Heftinneren. Zu Martina Steckholzers jüngsten Bildern – ein Text von Thomas Trummer.

Ein dichtes Gitter aus tausenden Punkten überspannt die Leinwand. Links am äußersten Bildrand beginnen diese Punkte zu flirren. Durch Überlagerung, Verschiebung und Verzerrung entsteht ein Moirée-Effekt, wie er manchmal an fälschlich verwendeten Druckdaten erscheint. Das Flimmern intensiviert die visuelle Bewegung. Nicht allein dadurch wird der Betrachter von der optischen Sogwirkung mitgerissen, von seinem Standpunkt tief unter dem Geschehen, am Fuß eines vielleicht riesenhaften Gebäudes, von einer enor­men Kraft entlang dessen Fassadenstruktur nach oben gezogen. Selten vermögen unbewegte Bilder solche Dynamik zu erzeugen wie dieses Gemälde, selten scheinen sie so aktiv die Imagination des Betrachters zu beflügeln wie jene sich vor den Augen verflüchtigende Matrix. In einem anderen, zweiten Gemälde begegnet dem Beschauer ein beruhigterer Eindruck. Die visuellen Bestandteile sind dennoch dieselben, doch statt rasender Oberfläche ein durchsichtiger Tiefenraum, statt verzerrter Perspektive fixe Koordinaten, statt Grau-in-Grau dunkles Schwarz-Weiß. Eine Vielzahl an geometrischen Schichten lässt den Blick in eine kristalline Tiefenstruktur vordringen, die optisch durchsucht und sorgfältig erforscht werden will. Dieses zweite Gemälde fordert eine andere Begeg­nung ein, von senkrechten Leisten gerahmt, erwartet es eine konsolidierte, aufgeschlossene Wahrnehmung, unbeeindruckt von perspektivischer Verführung, mit mehr Respekt für sein stilles Beisichsein und Selbstgenügen. Während wir im ersten Gemälde von diesem angezogen und erfasst werden, von seinem Drang mo­ti­viert, unseren Blick nach oben zu wenden, vielleicht sogar mit ihm aus dem Bildgeviert zu verschwinden, sind wir es im zweiten selbst, welche Bewegung, Illusion, Durchsichten und Raum eröffnen, in dem Bedürfnis nach Ordnungssuche und in dem Wunsch, in es mit Sorgfalt und Bedacht vorzudringen. Beide Gemälde sind Spiegel mehr als Einsichten, Reflexionen mehr als Visionen. Ihre festgehaltene Bewegung, einmal im Bild, das andere Mal durch das Bild, wirft den Beschauer auf sich selbst zurück, lässt ihn aufmerksam und gewahr werden dafür, worin Bilder und Wahrnehmung ihre Existenzbegründung finden: in dem Bezug des Sehens auf sich selbst. Martina Steckholzer sagt: „Meine Malerei ist kein Fenster, der Betrachter ist eins“. Mit diesem kurzen, sehr prägnanten Statement gibt sie zu bedenken, wie sehr Bildsehen sich einer Selbstbeobachtung verdankt, wie wenig Wahrnehmung ohne das Bewusstsein von Wahrgenommen-Werden sich vollziehen kann, wie sehr schließlich das Interesse für Kunst von einem Interesse motiviert ist, die Welt für sich empfänglich, verfügbar und verständlich zu machen. Und so als würden beide Extreme einer möglichen Beziehung zwischen Bild und Betrachter erprobt, finden sich in den Gemälden von Steckholzer Attraktion und Absorption aufs Beste zur Anschauung verbildlicht. Es ist der Betrachter, der auf dem Prüfstand steht, er ist das Fenster, durch das gesehen wird, angeregt durch den Testfall des Bildes. In seiner Fähigkeit zur inneren Transparenz verbirgt sich der Schlüssel für ihr Verstehen. Malerei verstanden als Anregung, um eigene Spiegelung, Selbstbegegnung und Regungsfähigkeit zu registrieren.

Martina Steckholzer beherrscht die Sichtbarkeitsvorgaben der Malerei, bedient mit Bravour ihre Lenkungseffekte, weiß um das Erkenntnispotential von Ahnungen und visueller Verunsicherung. Dass ihre Bilder die Illusion von Bewegung derart erstaunlich auslösen, ist darin begründet, dass sie ihre Herkunft Bewegungen verdanken. Steckholzer benutzt eine Videokamera, um aus deren Aufzeichnungen Vorlagen für ihre Gemälde zu gewinnen. Deshalb handelt es sich um Motive im engeren Sinne des Wortes, Sujets, die sich einer Motivation schulden. Das bedeutet, Dynamik wird keineswegs als Verführung entworfen oder im Nachhinein rekonstruiert, sie ist von Anbeginn Teil einer künstlerischen Strategie. Es sind Streifzüge, nahezu unwillkürliche Akte der Sinn- und Motivsuche, um aus deren Fundus am Ende eine Spiegelung des Inneren zu gewinnen. Jedes ihrer Bilder verdankt sich solchen Bewegungen und Begegnungen. Gewöhnlich führt Steckholzer die Handkamera. Dadurch registriert sie auch die unvorhersehbaren, taktilen Momente des Sehens. Die Kamera notiert jede Verfälschung, korrigiert das Gesehene nicht wie das rationale Auge, stellt es nicht still und fügt es nicht zur schlüssigen Einheit wie das intelligente Betrachten, sondern lässt Unschärfen, Täuschungen und Selbsttäuschungen bestehen. Sie bleibt verlässlich in ihrer Unverlässlichkeit, zeichnet emotionslos auf, was ohne Emotionen nicht zu denken wäre, das Geheimnis der Wahrnehmung als solche.
Steckholzer wählt sehr bewusst diese Vorgangsweise. In den Bewegungen des Körpers findet sie den Hinweis auf die verborgenen und verdrängten Erfahrungen des Ichs, in den Vibrationen der Hand den Gegensatz zu den berechnenden Augen, die sich gerne auf gleicher Höhe befinden, um die Kontrolle über die Erfahrung zu bewahren. Die Kamera ist für Steckholzer weniger Stellvertreter des Auges, vielmehr ein Hilfsmittel und sensorisches Verlängerungsorgan ihres Körpers. Durch das Strecken und Schweifen der Arme nähert sie sich dem Motiv, um motorische, ephemere und subjektive Anteile der Wahrnehmung zu bewahren. In ihrer Absicht, Wahrnehmung als Spiegelung zu zeigen, die ebenso bewegt ist wie zu Be­wegung veranlasst, werden vor allem die unwillkürlichen Anteile körperlicher Begegnung Aufzeichnung finden, die Empfindlichkeit des Ichs und seine Fähigkeit zur Regung.

Sosehr Steckholzer Motivationen beabsichtigt, so verliert sie sich dennoch nicht in diffuser Verflüchtigung. Ihre Absicht ist das Festhalten, Aufzeigen, Sichtbar-Werden von Empfindungen und Erkenntnis. Ihre Kunst ist die Kunst, dies durch Kunst anzuzeigen. Durch den Blick auf die eigene Beobachtung wird sich der Betrachter seines Sehens gewahr, zugleich empfindlich für den Verlust des Empfundenen während des Wahrnehmens. Es ist ein Gesetz unseres Denkens. Jede Selbstentdeckung und -beobachtung kann sich nur unter der Voraussetzung vollziehen, die Außenwelt zu einem guten Teil unberücksichtigt zu lassen. Denn eine Wahrnehmung, die sich untersucht, wird sich um ihrer selbst willen rationalisieren, wird ihren Erlebnisgehalt neutralisieren, indem sie sich zuwendet, um von außen zu erwirken, was eigentlich nur von innen her und ohne Kontrolle möglich ist. Sie wird wahrscheinlich den Verlust der Erlebnisintensität akzeptieren, um ein Verständnis, ein Fenster von sich selbst zu gewinnen.

Steckholzer berücksichtigt all dies. Die Ergebnisse ihrer Streifzüge erlauben die Aufzeichnung jener umfangreichen und unzertrennlichen Dimension des Erlebnisaktes, das unvorhersehbare Zusammenspiel von Attraktion und Absorption. Jedoch, und dieser Einwand ist wichtig, sie erlauben keine Verortung von Wahrnehmung in der Zeit, oder wie Steckholzer mir mitteilt, die Fixierung jenes flüchtigen Moments, der „erotisch“ ist und in ihren Bildern wohl mit dem Moment der Erkenntnis zusammen fällt. Um dies zu ermöglichen, den eigentlichen Erfahrungsgehalt zu bewahren, die Intensität zeitbedingten Erlebens, selektiert die Künstlerin ihre filmischen Bilder. Sie unterzieht sie einem kritischen Auswahlverfahren. Es geht darum, gegen den Verlust und das Verschwinden des Wahrgenommenen anzuarbeiten, um nach Bildern zu suchen, in denen Bewegung nicht gefroren oder anonymisiert erscheint, sondern weiterhin lebendig und individuell bewahrt wird. Um dies zu erreichen, gleichsam um die Ewigkeit des Moments zu sichern, sortiert sie den Film, ordnet seine Eindrücke, sorgfältig und mit Kenntnis, zerteilt seine Dauer in Sinneinheiten, um eigene und fremde Motivationen nicht zu ersticken. Am Ende gewinnt sie weniges, zugleich aber vieles, denn die einzelnen Resultate sind ebenso einmalige wie reiche und sprechende Bilder. Es sind Bilder, die im buchstäblichen Sinne als still gelegt zu bezeichnen sind, Filmstills, Ausschnitte aus der Zeit, Momentaufnahmen, die Bewegung anhalten, anstatt sie zu beschleunigen. Dennoch handelt es sich keineswegs um still gelegte Erfahrungen. Vielmehr beweist die Malerin, die in diesem Arbeitsstadium um der Vorbereitung willen noch mit anderen, fremden, technischen Medien hantiert, dass sie in der Lage ist, Bilder ausfindig zu machen, die Bewegung und Erlebnisintensität sogar über das Anhalten hin­aus entfalten können. Kaum anders als durch diese erstaunliche Fähigkeit wäre erklärbar, warum in den beiden anfangs beschriebenen Gemälden sich solche fordernde Dynamik artikulieren könnte. An den Gemälden wurde ersichtlich, dass Steckholzer bereits vor dem Malakt darauf achtet, dass im Motiv jene inneren und äußeren Motivationen gegenwärtig bleiben werden, die die Anwesenheit eines suchenden und selbstreflexiven Ichs belegen. Darum sind jene Stills mehr als nur Vor-Bilder, vielmehr handelt es sich um unbewegte Bildsujets, die mehr noch als die bewegten, denen sie entnommen sind, der Bewegung des Körpers, seinem Drang nach Raum und Erfüllung zur Kondensation verhelfen.

Und doch gibt es einen zweiten ernsten Einwand. Jene Vor-Bilder, so reich und dicht sie auch sind, vermögen nichts anderes als Unterlagen zu liefern, die sich dem Speicher einer technischen Apparatur verdanken. Sie sind durch die Aufzeichnungsvorgaben der Geräte, mit denen sie aufgenommen sind, geprägt und dadurch verfälschend. Im Kontrast mit der Vielfalt persönlicher Wahrnehmungen, Befindlichkeiten und Stimmungen, wie wir sie tagtäglich erleben, werden sie kaum bestehen können. Kurzum, so hilfreich die Medien bei der Aufzeichnung von Erfahrungen und persönlichen Begegnungen sein mögen, die Totalität eines Erlebnisses, jene intrinsische Sinnsuche, die jede Wahrnehmung begleitet und bereichert, ist durch sie niemals einzuholen.
Weil Kamera und Stills bewahren, jedoch kein Gedächtnis besitzen, reichert Steckholzer ihre Motive im dritten und letzten Filterungsakt mit eigenen Erlebnisdimensionen an. Streifzüge und Vor-Bilder stellen lediglich das Material dar. Die Herstellung eines Gemäldes ist hingegen der bedeutsamste Akt, ein aktives Tätigsein vor der Leinwand, ein Ausleben, selbst Bewegung, nicht bloße Rekonstruktion oder Gedächtnisübung. Steckholzer kommt es auf das befreiende Tun des Malens an, auf die Spur, die sie als Künstlerin am Gemälde hinterlässt. Die Aufzeichnungen der Kamera werden dabei mit einem erneuerten Erlebnisgehalt angereichert, dem bereits Erlebten ein aktuelleres Erleben hinzugefügt. Über die Aktivierung apparativer Aufzeichnungen durch neues Handeln wird die von ihr beabsichtigte Überlagerung von Zeiten ermöglicht, das Zusammenschmelzen von vergangener und momentaner Erfahrung, von Erinnerung und Beleben, von Rückschau und Jetzt. Es entstehen Bilder, in denen die flüchtigen Momente rekonstruierter Wahrnehmung zu einer Verdichtung mit neuen gelangen, apparative und menschliche Wahrnehmung zur Annäherung oder vielleicht sogar zur Deckung finden.

Anstelle von Abstraktion sind diese Bilder als Bestätigung des Wechselspiels von Attraktion und Absorption zu lesen, d. h. als innerer Bewegungsdialog zwischen Gemälde und Beschauer. Dies ist auch richtig und gut so. Denn die formalen Elemente in ihren Gemälden verdanken sich keiner Entleerung oder einer wie immer gearteten Eigengesetzlichkeit und vorherbestimmten Logik. Steckholzers famose Kunst der malerischen Blickführung wäre zutiefst missverstanden, würde man ihre Bilder als inhaltsleere Formationen auffassen, etwa nach dem Muster der klassischen Avantgarde, die sich festgelegter Formen bediente, um der Wirklichkeit eine andersartige, fiktive entgegenzusetzen. Im Gegenteil, Steckholzers Bildwelten sind nicht als Eigenformat und Gegenwelt zur Wirklichkeit erfunden, sondern der Wahrnehmung und ihren kontingenten Bedingungen angeglichen, weil dem Wirklichen und dem Seienden abgeschaut.

Bei all dem ist Steckholzer unzweifelhaft eine überlegte und sehr gewissenhafte Malerin. Ihre Fähigkeit zu planmäßigem Vorgehen wird an der akribischen Malweise, an einem Festhalten an der Kultur präziser Formen nachweisbar. Klare Linien, exakte Konturen, flache Flächen. Kein Detail scheint abseits von wissender Beobachtung. Und trotz der Übersicht, die Steckholzer durchgehend bewahrt, und der Berechnung, mit der sie die Komposition von Anbeginn belegt, lässt sie in keinem Gemälde den Hinweis auf Spontaneität vermissen, gibt einen oder mehrere Belege auf den Akt des Malens, zeigt mithin offen das Authentische, Einmalige und Zeitgebundene des Erlebens. Entscheidend ist die Qualität der Begegnung und ihre Überzeugung, dass kompositionelle Ideen durch Zufälligkeit bereichert, nicht beschädigt werden. Manchmal sind es verlorene Spritzer von Farbe, kleine Rinnsale oder Ungereimtheiten im Duktus, die an der Bildkante oder Peripherie irritieren, manchmal ist es der Malakt selbst, der Schwung der Hände, die ehemals die Kamera hielten und nun den Pinsel führen, die den Beweis dafür liefern, dass Steckholzer sich selbst und eine emotionale (erotische) Unberechenbarkeit ins Spiel bringt.

Die Farbskala ihrer neuesten Bildserie, die in diesem Heft exklusiv abgedruckt ist, ist beschränkt, limitiert auf Schwarz, Weiß und ihre Zwischenwerte in Grau. Eine solche Reduzierung mag verwundern, besonders bei all den Hinweisen auf emotionale Werte. Bei genauerem Hinsehen aber wird klar, dass die Beschränkung auf Nichtfarben derselben Absicht folgt wie die Festlegung auf geometrische Formen. Diese Gestaltungsbeschränkungen deuten weniger auf den abstrakten Gehalt eines Gemäldes, als vielmehr auf ihre Herkunft aus einer fremden, nichtmalerischen Welt hin. Steckholzer selbst bezeichnet ihre Bilder als „malerischen Dokumentarismus“. Dies widerlegt nicht das Wechselspiel von Attraktion und Absorption. Denn ihre Bilder, die sich als Beobachtungsanalysen verstehen, folgen einem bestimmten künstlerischen Programm, einem bestimmten didaktischen Vorhaben. Es betrifft die Sujets, die Motive, d.h. recht eigentlich die Motivationen. Tatsächlich entstammen Steckholzers Bildthemen ausschließlich der Welt der bildenden Kunst. Was wir an ihren Bildern sehen, ist bereits durch sie anderswo gesehen worden. Raster, Strukturen, Schachbrett und Geometrien sind Eindrücke von Kunstwerken, die bereits bestanden, bevor sie in Filmen, Stills und Gemälden verzeichnet wurden. Darum sind Steckholzers Bilder stets Bilder nach Bildern, dabei zugleich intensive Selbstbeobachtungen und kondensierte Erfahrungen nicht eigener Kunst. Es ist die Selbstwahrnehmung am anderen, die sie interessiert und uns nahe legt. Es ist die Beobachtung während des Beobachtens, die Spiegelung im Anderen, welche der Erfahrung zur Erotik und der Wahrnehmung zur Erkenntnis verhilft, nicht zuletzt das Fenster zum eigenen Ich durch den Spiegel der Kunst eröffnet.

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