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Daheim bei Gilbert

Der Gilbert vom berühmten Künstlerduo Gilbert & George ist ein Südtiroler. Florian Kronbichler hat sich in der Verwandtschaft umgehört.

Ruft mich irgendwann im Sommer die Redaktion an: „Florian, wir wollen von dir einen Aufsatz mit dem Titel ‚Daheim bei Gilbert‘ “. Ich drauf: „Was für ein Gilbert?“ Die Redaktion: „Gilbert & George, kennst du doch.“ Am anderen Ende der Leitung klingt das so, dass auch ein Selbstbewussterer als ich sich nicht getraut hätte, nein zu sagen. „Ah ja,“ sag ich nur noch. „Daheim bei Gilbert“ also. Nichts über ihn, nur von daheim bei ihm. Die Redaktion meint, Jugendfreundschaften auftreiben wäre gut; schön wäre, wenn noch die Mutter lebte, vielleicht; ich müsste halt dort, „in Gröden oder so“ nachfragen. Ladinien liegt aus Nicht-Südtiroler Sicht immer „in Gröden oder so“, und sei es auch das Gadertal.

Auftrag also angenommen, ich begebe mich auf die Suche nach Gilbert. Diese beginnt man, wie jede Suche neuerdings, im Internet. Ich google „Gilbert & George“ und mache gleich eine Entdeckung: Man vernachlässigt nicht ungestraft den meldeamtlichen Zunamen. Wie heißt denn dieser Gilbert wirklich? Prosch, Proesch, Prousch – das weltweite Netz bietet alle drei Varianten an. Dazu die ungefähre Ortsangabe: „in den Dolomiten“ (und um nichts genauer auch „in den ladinischen Dolomiten“). Mein heimatkundliches Gespür verlässt mich nicht: Ich tippe auf Prousch, und Prouschs gibt’s in St. Martin in Thurn, im mittleren Gadertal, das weiß ich, und ein besonders liebenswürdiger Ableger der Prousch-Sippe führt das Gasthaus „Anita“ am Bozner Obstplatz.

Dorthin führt mein erster Weg. Ein kommoder Einstieg in eine Recherche, eigentlich. Ich finde es nur seltsam, dass nach einer Weltberühmtheit so investigativ gesucht werden muss. Ich treffe gleich auf die Seniorchefin, Anita, und frage, ob sie, wo die Familie doch diesen Namen trage und aus der Gegend dort stamme, ob sie einen Gilbert Prousch, den von Gilbert & George, ob sie den kenne. Und ob! „Der Gilbert? Mein Mann ist der Onkel von dem. Wir sind verwandt, aber wir haben eigentlich nichts zu tun damit.“

Wollte ich auch nicht unterstellt haben. Ich sagte nur, ich sei somit bei ihrem Mann an die rechte Stelle geraten mit meinem Anliegen. Oh, nein, da war die Wirtin gegenteiliger Meinung. Ihr Mann, der Gustl, sei nicht mehr besonders gut beisammen, und außerdem … er habe nichts gegen den Gilbert, „aber Sie wissen ja, der …, die älteren Leute sind halt so, heute ist ja nix mehr dabei, heute sind ja viele so, ganz offen, aber die älteren Leute, die wollen nicht reden drüber …“ Die Frau erzählt mir noch, als Gilbert & George in Bologna eine Ausstellung eröffneten, vor ein paar Jahren war das, da sei sie mit ihrem Mann hingefahren, und er habe mit seinem berühmten Neffen auch gesprochen, aber die Bilder habe er sich nicht angesehen. „Das hat er nicht derpackt“.

Wir einigen uns, ich würde mit einer der Töchter sprechen. Aldina sei die Zuständige. Die stehe in Kon­takt mit dem Cousin und wisse alles von ihm. Nur, es war grad Mittag, Hochbetrieb im Restaurant, ich würde ein anderes Mal kommen, wenn es ruhiger zugehe. Das tue ich, aber Fehlanzeige: Nein, über Gil­bert gebe es nichts zu sagen, jedenfalls nicht von ihrer Seite. Aldina findet mich höflich bestimmt ab. Es sei ihr Gilbert, sie habe ein gutes Verhältnis zu ihm und habe keine Lust, sich dieses durch irgendwelches Getratsch verderben zu lassen.
Ich bin kein Anfänger, und so leicht lasse ich mich nicht abwimmeln. Mein Anliegen sei nicht eigentlich Gilbert, sondern „Daheim bei Gilbert“, also nicht der Mensch, sondern eher der Ort, die Umstände mehr als die Person. Aber die Prouschs, diese Erfahrung muss ich machen, die Prouschs sind resolute Leute. Offenbar bin ich nicht der erste, der hier nach dem berühmten Cousin fragt. Man hat in der Familie schlechte Erfahrung gemacht. Viel Gefrage, verdrehte Wiedergabe von Aussagen, unlängst habe Hubert, Gilberts jüngerer Bruder, ein Kamerateam des staatlichen Fernsehens ins Heimathaus eingelassen, und Gilbert sei ziemlich verärgert gewesen, als er das erfuhr. Deshalb nein, man sei fortan vorsichtiger; für die Verwandtschaft spreche nur noch eine, und das sei „die Hilda“, Gilberts Schwester, die mit ihrer Familie in Bruneck lebt. Und was St. Martin anbelangt, „die St. Martiner können reden, was sie wollen“.

Ich stand da mit einem Verweis auf die Pressesprecherin der Familie und einer unbotmäßigen Generalvollmacht für St. Martin. Zwischen den beiden entscheide ich mich für St. Martin, denn Pressesprecher sind Verhüllungskünstler. Und es geht auch um St. Martin. Dort ist „Daheim bei Gilbert“.

So gehe ich den graden Weg und ruf den Bürgermeis­ter an. Endlich tut sich etwas auf. Bürgermeister Francesco Dejaco, genannt Pepi, ist nicht nur bereit, über alles zu reden, was er von Gilbert weiß, er ist nachgerade interessiert daran. Ich solle nur kommen, er werde sich Zeit nehmen und außerdem einige Leute organisieren, die sich auskennen. Bevor wir uns vollends in Begeisterung über den fernen Landsmann hineinreden, machen wir aus, dass ich sofort am nächsten Tag nach St. Martin in Thurn aufbreche. Treffpunkt: 9 Uhr im Gasthaus Dasser.

Der gute Pepi muss an jenem Abend noch allerhand einschlägige Gespräche geführt haben – und allesamt erfolglos. Am Morgen drauf um 8 Uhr ruft er mich am Handy an. Er habe mit Gilberts Bruder gesprochen, mit einigen Frauen, von denen er wisse, dass sie Freundinnen von Gilbert seien, und außerdem mit einem Jahrgangskollegen. Sie alle hätten ihm abgesagt. Würden nicht mit einem Journalisten über Gilbert reden wollen. Bedauernd gibt mir Pepi, der Bürgermeister, zu verstehen, dass es eher nicht mehr der Mühe wert sei, den langen Weg von Bozen nach St. Martin zu machen. Außerdem regne es.
Ich aber biege zum Zeitpunkt dieses Gesprächs grad bei St. Lorenzen ins Gadertal ein. Es hilft nichts mehr, ich stehe sozusagen schon vor der Tür. Der Bürgermeister kapituliert. Er bittet mich nur noch, den vereinbarten Termin um eine halbe Stunde vorzuziehen. Jetzt, da er schon nicht mehr zu vermeiden ist.

Es wird ein ziemliches Geheimgespräch. Er, Pepi, könne sich nicht erklären, warum die Leute immer noch so ein Geheimgetue um Gilbert machen würden. Natürlich gebe es da das Tabu der Homosexualität. Aber diesbezüglich, auf diese Feststellung legt der Bürgermeister Wert, diesbezüglich seien die St. Martiner um kein Fetzelchen verklemmter als der Rest der aufgeklärten Welt. „Wir haben schon Fälle bekennender Schwuler gehabt“, beansprucht er sogar. Die Gadertaler, so wie die Ladiner insgesamt, seien überdurchschnittlich aufgeschlossen, überdurchschnittlich unternehmerisch und überdurchschnittlich künstlerisch begabt. Sie hatten einmal vier Kunstschulen und haben immer noch drei: je eine in Gröden, in Fassa und in Cortina d’Ampezzo. Der Entdecker und erste Förderer von Gilbert sei Angelus Morlang gewesen, der Geistliche, der 20 Jahre lang Pfarrer in St. Martin und selbst Künstler von einigem Rang war. Er hatte die Kunstakademie in München besucht, war Gründer der Vereinigung der ladinischen Künstler und malte, um den Lehrer im Dorf zu zitieren, „so ungefähr wie der Egger-Lienz“.
Von dem alten Pfarrer wird erzählt, dass er einmal im Dorfgasthaus auf seine laute Art über das „sündige Treiben“ des Gilbert hergezogen sei. Das war zu der Zeit, da Gilbert schon lang in London und weltberühmt war. Und keiner der damals im Gasthaus Anwesenden will noch wissen, ob der cholerische Don Angelo mit dem „sündhaften Treiben“ Gilberts private Lebensführung oder seine radikale Kunst gemeint hat.
Der alte Pfarrer ist vor zwei Jahren gestorben, aber über den Tod hinaus geht ihm der Vorwurf nach, auf jenen Zwischenfall im Gasthaus datiere das „gebrochene Verhältnis“ Gilberts zu seinem Dorf. Der Bürgermeister glaubt, ein solches erkennen zu müssen. Es zu „sanieren“, den verlorenen Sohn wieder heim­zuholen, das Dorf am Glanz seines berühmtesten Bürgers mindestens ein bisschen partizipieren zu lassen, dies scheint diesem Pepi Dejaco ein aufrichtiges Anliegen zu sein. Seit Jahren betreibt er es so tapfer wie erfolglos. Und, wie es aussieht, mit schwindender Hoffnung. Auf mehreren Wegen schon hat er versucht, an den berühmten Landsmann heranzukommen. Schwester Hilda bat er, sie möge ihrem Bruder bestellen, im neu eingerichteten Ladinischen Museum auf Schloss Thurn würde man gern einen eigenen Raum reservieren für den Fall, dass Gilbert & George die Güte hätten. Die Antwort kam über Hilda und war so vernichtend wie befürchtet: „nicht interessiert“.

„Nicht interessiert“ ist im Zweifelsfall schlimmer als „nicht bereit“. Wer „nicht interessiert“ ist, ist auch nicht verhandelbar. St. Martin ist heute eine aufstrebende Gemeinde, Ladinien ist eine wirtschaftliche Großmacht, ladinische Kultur gilt als politisch nachhilfsbedürftig, Geld wäre somit kein Problem. Man könnte sich „einen Gilbert & George“ auch leisten. Notfalls auch am freien Kunstmarkt. Aber den kaufkraftstrotzenden Ladinern kommt grad vor, als habe ihr Landsmann Gilbert ein Heimatverbot über seine Werke verhängt. Eine bekannte Hotelierin und Kunstsammlerin im Tal habe einen Gilbert & George bereits gekauft gehabt, da sei der verkaufenden Galerie plötzlich ein Veto gestellt worden. Eine kunstsinnige Frau aus St. Martin, Kinderärztin in Bozen und von jung auf gut bekannt mit Gilbert, bemühte sich jahrelang um ein Werk. Irgendwann fragte Gilbert die gute Bekannte: „Lydia, hast du schon eine eigene Wohnung?“ Das hatte sie zu dem Zeitpunkt noch nicht. Da antwortete der väterliche Freund: „Dann kauf dir nur zuerst eine Wohnung!“

Einzig der Kulturabteilung der Landesregierung gelang es bisher, ein G&G-Werk anzukaufen (SHOD, 1992). Sie überließ es für kurze Zeit dem Ladinischen Museum in St. Martin in Thurn, als Hommage an Gilberts Heimat, aber nur leihweise. Inzwischen hat sich das Land das Werk zurückgeholt. Es braucht es dringend für die Ausstattung seines ehrgeizigen Museion-Neubaues in Bozen.

Das Gespenst vom strafenden Gilbert geht um. Vor zwei Jahren wurde der Berühmt-Berüchtigte zum letzten Mal im Tal gesehen. Er bezog Quartier in einem benachbarten Dorf weiter talaufwärts. Mit dem Bruder, einer Schwester und einigen Jahrgangskollegen traf er sich zu einem geselligen Abend in einem St. Martiner Gasthaus. Für den Bürgermeister und eine Gemeindedelegation, die ihm die Aufwartung machen wollten, blieb er jedoch unansprechbar. Was haben wir Gilbert getan, dass er uns nicht mehr mag? Das ist die teils bange, teils trotzige Frage der Amtsladiner. Die Oppositionellen, Heimatpfleger und Schadenfrohen glauben die Antwort zu wissen: Der Gilbert weiß genau, dass die alle nur an seinem Ruhm interessiert sind und damit Werbung machen wollen.

Unverstandenes St. Martin! Warum liebt Gilbert sein Dorf nicht mehr? Draußen regnet es. Beim Dasser in der Gaststube, unter einem ziemlich patriotischen Gemälde von Gilberts Onkel Bino, mischen sich inzwischen Dorfleute ins Gespräch ein. Es kommt zu der üblichen Vergangenheitsverklärung. Ei, der Bub vom Schuster! Dieser „Gilbert dl Cargá“. Der Vater, Hermann, war ein geselliger Mensch. Hat Ziehorgel gespielt. Von seinen beiden Buben, Gilbert und Hubert, sagte er immer: „Die haben nur das Zeichnen im Kopf!“ Es war keine Kleinigkeit für den Kleinhäusler, dass er dann drei seiner Kinder – außer Gilbert und Hubert auch noch die älteste Tochter Hilda – in die Kunstschule nach Wolkenstein in Gröden geschickt hat.
Gilbert war immer der talentierteste, das sagen alle. Über Empfehlung eines deutschen Sommerfrischlers wurde er an die Schnitzschule nach Hallein im Salzburgischen vermittelt, und 1960, mit 17, als Jüngster damals und ohne Matura!, ist er bereits an der Akademie für bildende Künste in München. Später erfuhr man, er sei nach London gegangen, 1967 war das, und mit der Nachricht vom künstlerischen Durchbruch, der hier eher als geschäftlicher wahrgenommen wurde, drang auch das Gerücht von der Schwulität in die Heimat. Seither haben Bewunderer ein Argument, warum es im Verhältnis zwischen Gilbert und St. Martin ein Problem gibt.

Man wusste und sprach nicht drüber. Gilberts Kunst fand weit weg statt, und er persönlich gab, wenn er auf Besuch da war, nie Anlass zum Ärgernis. Von der Mutter, an der er so hing, sagen die Geschwister, dass sie bis zu ihrem Tod (im Oktober 1989) von der Homosexualität ihres Sohnes „sicher nichts gewusst“ habe. Sie ahnen, Gilbert habe selber Wert drauf gelegt, es sie nicht wissen zu lassen. George Passmore war für Mutter Zilia „Gilberts bester Freund“, und außerdem war er verheiratet und hatte Kinder. Im Familienkreis ist das Kapitel tabu. Nicht weil man verklemmt wäre, sondern „weil es nichts zu sagen hat“ (Schwester Hilda, mit der ich später dann doch noch geredet habe).

Was die St. Martiner doch „die Normalität“ ihres Gilbert besingen! „Ganz normal“ sei er gewesen und habe er sich benommen, wann immer er heimkam. „Normaler“ als die normalen St. Martiner. Immer den gleichen alten Anzug, den gleichen alten Mantel, die gleichen Wege durchs Dorf, ins gleiche Gasthaus – gleich, wie die ansässigen St. Martiner gleicher nicht sein konnten. Es hält sich das Gerücht, Gilbert verkleide sich als St. Martiner, wenn er daheim sei. Er schlüpfe hier ins Gewand von früher, wie es hier sonst keiner mehr trägt. Wahr an dem Gerede dürfte sein: Es handelt sich um einen jener kostbaren, selbstverständlich maßgeschneiderten und handgenähten Anzüge, die Gilbert & George tragen und die im massengeschmacklichen, konfektionsbekleideten St. Martin für altväterisch gehalten werden.
Was die Leute über Gilberts Outfit sagen, gilt übrigens auch für sein Heimathaus. Nach dem Wunsch der Mutter erbte Gilbert das elterliche Schusterhäusl im Dorf. „Damit er weiß wohin, wenn er einmal zurückkommt“, habe die Gute ihre Entscheidung begründet. Ihr Wunsch sei immer gewesen, dass Gilbert „zurückkommt“. Inzwischen steht das Haus leer, als eines von zwei nicht bereits über-„erschlossenen“ Häusern im touristischen St. Martin. Das andere gehört bezeichnenderweise der Vize-Obfrau der Landespartei.

Legende längst auch die Geschichte mit Gilberts „Kampiller Madonna“. Es war Anfang der 60er-Jahre. Die Pfarre von Kampill, einem Seitental, das zur Gemeinde St. Martin gehört, hat bei Gilbert Prousch eine Madonna in Auftrag gegeben. Geliefert hat der Künstler eine lebensgroße Holzstatue von sehr sinnlichem Ausdruck und – weil unbemalt – nacktem Aussehen. Gilberts Madonna überstand eine einzige Fronleichnamsprozession. Die frommen Seelen – jedenfalls ihre Wortführer – seien derart entsetzt gewesen, dass der Pfarrer das Objekt des Anstoßes in den Dachboden des Pfarrwidums verstaute, wo es dann 30 Jahre lang blieb. Mittlerweile befindet sich die „Kampiller Madonna“ im Ladinischen Museum auf Schloss Thurn. Im Depot, allerdings. Museumsdirektor Stefan Wancker, ein kennerischer Verehrer der Kunst von Gilbert & George, würde die Statue gern ankaufen, aber die Pfarrei Kampill, inzwischen auch aufmerksam geworden auf den Wert des Künstlers, verkauft nicht mehr. Den bemühten Museumsdirektor trifft zum Schaden hinzu jetzt auch noch Spott: In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien ein Artikel mit reichlich Häme gegen die hinterwäldlerische Museumsleitung dafür, dass sie Gilberts Madonna ins Depot weggesperrt hat.

Ach, die armen Hinterbliebenen! In dem Dorf zu Füßen des Peitlerkofels, das noch zu den ursprünglichsten ganz Südtirols gehört, sich jetzt aber anschickt, an das Karussell des Ski-Olymps Kronplatz angebunden zu werden, schießen Spekulation und Schuldzuweisung ins Gras. Man tut, als habe eine imaginäre Gilbert-&-George-Company ein Embargo über St. Martin verhängt. Wie überall anderswo im Land, ist auch hier der einzige Glaube, der nicht in die Krise geraten ist, der Glaube an den wirtschaftlichen Erfolg. Gilberts Erfolg übt eine Anziehungskraft aus, die unwiderstehlich ist. Auch auf seine Landsleute. Dass vom Glanz des berühmten Sohnes nichts auf sein Dorf abstrahlt, wird schlicht als ungerecht empfunden. Was hat Gröden an seinem Luis Trenker verdient? Und was verdient es an Giorgio Moroder? Was Kastelruth an seinen „Spatzen“? Gern würde St. Martin einen Zipfel Gilbert in die eigene Tourismuswerbung übernehmen, ihn feiern, die Ehrenbürgerschaft anhängen, auf Transparenten am Dorfeingang ihn begrüßen, so wie das bei Olympiasiegern und Rodel-Weltmeistern geschieht.

Man getraut sich nicht. Überzeugt, dass Gilbert sein Dorf durch Nichtbeachtung straft, will niemand riskieren, dass der Zürnende zu noch grausameren Strafen greift. Es ist schon schlimm genug, wie sämtliche Lockrufe ungehört verhallt sind. Wenig fehlt, dass in biblischen Bildern („Warum, Herr, lässt du ...?“) gewehklagt wird. Schon treten besonnene Geister auf, wie Pfarrer Jakob vom Nachbardorf Wengen, die empfehlen: „Lasst ihn in Ruh, er kommt schon wieder, alle kommen wieder, auf lange Sicht ist die Heimat immer stärker.“
Auf lange Sicht! „Auf lange Sicht sind wir alle tot.“ Da denken die tüchtigen Ladiner heute nicht anders als der große Ökonom Keynes vor 70 Jahren. Der Bürgermeister ist schon auch um Gelassenheit bemüht, aber auch ihm läuft die Amtszeit davon. Vermutlich ist es seine letzte. Dann würde der Christbaum für den Petersplatz in Rom, den nächstes Jahr die Gemeinde St. Martin in Thurn spendieren darf („Bun Nadél 2007“), sein größter überörtlicher Auftritt bleiben.

Hilda, Gilberts älteste Schwester und ein bisschen seine erste Geheimnisverwahrerin, sieht dem heimatlichen Bemühen um den Bruder aus verwunderter Distanziertheit zu. Sie findet, hinter der erwachten Liebesmüh stehe geschäftliches Kalkül, und „G & G“ (so spricht sie von Gilbert und George, und zwar im Singular) spüre das. Und nur deswegen hätten Gilbert und sein Dorf einander nichts zu sagen. Es ist berührend, was für ein inniges Verhältnis in der Familie mit dem berühmten Bruder gepflegt wird. Hildas Mann Otto darf sich geehrt fühlen, von Gilbert für denjenigen gehalten zu werden, „der mich am besten von allen versteht“. Tochter Mara durfte den Onkel für ein Gadertaler Tourismus-Magazin porträtieren. Sohn Manuel arbeitet im Londoner Gilbert-&-George-Atelier. Sie alle, Bruder Hubert und neben Hilda noch die Schwestern Irma und Herta eingeschlossen, verstehen nicht, „was das Problem ist“. Wenn es eines gibt, sagen sie, dann liegt es an St. Martin. Die Großfamilie Prousch jedenfalls könnte sich ihr Verhältnis zum berühmtesten St. Martiner nicht besser vorstellen.

Draußen regnet es weiter. Drinnen beim Dasser ist inzwischen Franz zur Gesellschaft hinzugestoßen. Er ist der alte Feuerwehrhauptmann von St. Martin und der gleiche Jahrgang wie Gilbert. Ein 1943er. Er weiß alles von ihm. Auch dass er in den letzten Jahren am Kunstmarkt nicht mehr so hoch quotiert sei. Er sagt das nicht, weil er den Jahrgangskollegen heruntermachen will, sondern eher dem Bürgermeister zum Trost. Denn eines habe der Gilbert früher, als er noch öfter heimkam, „immer gesagt“. Er habe immer gesagt, sagt feierlich der alte Feuerwehrkommandant: „Wenn ich nichts mehr bin, komme ich hierher“.

 

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