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Nachrichten vom Tod

Kaiser Maximilian ließ den folgenden Spruch an seinem Bett anbringen: „Leb, weiss net wie lang / Stirb, weiss net wann / Muss fahren, weiss net wohin / mich wundert, dass ich so fröhlich bin.“ Welchen Begriff haben Menschen heute von ihrem Ende? Eine ethnografische Reportage von Peter Oberdorfer

Ich hatte gerade einen Zug versäumt und stand ratlos in der großen Halle des Innsbrucker Hauptbahnhofs. Am frühen Abend herrschte dichtes Gewimmel. Ich ließ mich von der Rolltreppe auf die ebenerdige Etage bringen, von wo es nach draußen geht, und schaute hinunter, ins Feierabendgedränge: zu den Zügen, von den Zügen, zu den Geschäften, von den Geschäften, hurtig, gleichmäßig und nichtendenwollend.
Einerseits schienen da bestimte Gesetze am Werk, etwa solche, die dafür sorgten, dass sich die Passanten schön auf die Hallenfläche verteilten und selten zusammenstießen, andererseits wies das Bild, das sich bot, nicht über sich selbst hinaus. Es war ein Durcheinander von Punkten, wie auf einem Fernseher ohne Programm.
Als ich das Interesse am Hinunterschauen verlor, gewahrte ich einen Mann neben mir, den ich vom Sehen her schon kannte. Er stand immer irgendwo in Bahnhofsnähe herum. Er war alleine, gehörte weder zu den klassischen Sandlern mit Bierdose oder Doppler, noch zu denen, die auf irgendwelchen Drogen waren. Er lehnte kaum zwei Meter neben mir an der Brüs­tung, und obwohl jeder andere irgendwann den fremden Blick gespürt hätte, schaute er nur geradeaus hinunter, als sähe er dort etwas.
„Hast du einen Moment Zeit?“
Als hätte er genau diese Frage erwartet, sagte er, ohne sich zu rühren:
„Nein.“
Ich sagte, dass ich mit ihm reden wolle.
Jetzt schaute er erstaunt zu mir. Er war schon alt, sicher über 60, das Gesicht so verwittert und verbrannt, als sei er den ganzen Sommer draußen unterwegs gewesen.
„Reden? Worüber?“
„Über den Tod.“
„Den Tod?“
Als wir dann an einem Tisch saßen, war Moritz, so hieß der Obdachlose, gesprächiger. „Das sag ich dir natürlich erst jetzt, wo das Bier schon bestellt ist, dass ich dir da gar nix sagen kann. Ich glaub ja an nix. Der Tod kommt, das ist sicher … Die Leute wollen etwas wissen, es wird geforscht über den Tod. Es gibt viele Bücher, und du hast sie sicher gelesen, oder? Und doch weiß man nix, weil noch keiner zurück gekommen ist. Mir gefällt das.“ Er lachte und hustete, dann kam das Bier. „Wenn du die Nachrichten schaust, im Fernsehen, die Leute haben Angst vor irgendwelchen Katastrophen oder Krankheiten, als hätten sie ein Leben, das ihnen sonst nicht genommen wird. Aber es wird ihnen doch genommen. Das ist absolut sicher, das weiß sogar ich! … Und doch, davon findest du da draußen keine Spur. Komisch, oder? Ich bin dafür, weißt du, dass der Tod mehr ins Leben eingreift. Nicht als Krieg oder als Katastrophe, sondern als Tod, einfach als Tatsache, als Maßstab. Als ein Zeichen, das den Leuten den Kopf gerade richtet, nach dem Ende hin ausrichtet. Ich hab’s da leichter, vielleicht“, er lachte, „das wundert dich! Ich hab kein schönes Leben gehabt. Dafür tut mir der Gedanke an den Tod nicht weh, überhaupt nicht, weil ich nix zu verlieren hab … Ich hab auch nix zu tun und hab Zeit über ihn nachzudenken. Man kann gar nicht genug Zeit haben dafür. Ein langes Leben reicht da wahrscheinlich nicht.“

Ein paar hundert Meter weiter Richtung Westbahnhof in der Speckbacherstraße hat ein neues Bestattungsunternehmen aufgemacht. Der Mann, der es führt, Erik Neumair, ist schon lange im Geschäft. „Einmal Bestatter, immer Bestatter“, sagt er. „Wenn ich ins nächste Gasthaus geh auf ein Bier, dann heißt’s, schau, der Bestatter geht ein Bier trinken. Das bleibt dir, da kannst du nichts machen.“ Er wollte allerdings das Bestattungsunternehmen seiner Eltern, in dem er schon als Bub aushalf, nicht weiterführen, sondern ein eigenes gründen. Nicht zuletzt, um besser auf Veränderungen reagieren zu können. „Soll ich vielleicht da sitzen mit dem schwarzen Zylinder und dem Geier auf der Schulter? Was sich in den letzten Jahren ab­spielt, ist der komplette Umbruch.“

Früher sei alles immer gleich abgelaufen. Nach dem Tod kam die Aufbahrung mit Totengebet, dann gab es den Sterbegottesdienst und schließlich die Beerdigung. All das war öffentlich, damit sich nicht nur die Familie vom Toten verabschieden konnte, sondern alle, mit denen der Tote je in Verbindung gestanden war. „Wissen Sie, früher – und zum Teil auch noch heute – war es so, dass die Angehörigen geglaubt haben, sie müssen das so machen, das sei alles gesetzlich so vorgeschrieben. Aber das ist es natürlich nicht. Und wenn man ihnen sagt, dass sie es so machen können, wie sie wollen, dass sie vollkommen frei sind, dann greifen sie das dankbar auf. Oft führt das halt dazu, dass sie dann überhaupt keine Feierlichkeiten mehr wollen. Nur dass die Leiche verschwindet. Von 40 Begräbnissen, würd ich sagen, gibt es nur mehr drei Aufbahrungen. Was extrem zunimmt sind die Begräbnisse ‚in aller Stille‘, wie es immer in den Sterbeanzeigen heißt. Das ist dann nur im engsten Familienkreis, teilweise wollen sie nicht einmal mehr den Pfarrer dabei haben. Als Bestatter komm ich mir da manchmal wie ein Mullmandl vor. Eigentlich geht da eine ganze Kultur verloren.“

Hauptleidtragende dieser Entwicklung sei die Kirche. „Die sind fix und fertig.“ Im Mai dieses Jahres erging ein Rundschreiben der vier Pfarren von Innsbruck an die Bestatter. Darin werden die Grundzüge der christlichen Begräbniskultur in Erinnerung gerufen. Es endet „mit der Bitte um konstruktive Zusammenarbeit“. „Man will, dass wir den Leuten sagen: Macht es so, wie es immer gewesen ist.“ In dem Schreiben etwa heißt es: „Zur Erdbestattung gehört das Absenken des Sarges in das Grab während des kirchlichen Begräbnisses … Dazu gehört auch das Einwerfen der Erde.“ Neumair: „Mir sagen die Leute dann oft: Das steh ich nicht durch, das ist so traurig. Müssen wir da dabei sein?“

Der Philosoph Peter Sloterdijk hat in seiner „Sphären-Trilogie“ einen interessanten Begriff geprägt, den der „Levitation“. Mit Levitation („Erleichterung“) ist die Veränderung der Lebensumstände gemeint, die der Mensch im Zuge des 20. Jahrhunderts durchgemacht hat. Während Wohlstand in vormoderner Zeit immer nur einer dünnen Oberschicht gesichert war und die Masse in bitterer Armut lebte, ist es heute in den entwickelten Ländern umgekehrt. Armut ist eine Randerscheinung geworden, von ihr sind nur mehr Außenseiter betroffen. Der Mensch, dessen Leben erleichtert worden ist, lebt in einer vom Menschen beherrschten Welt, in der Unvorhersehbares, Katastrophales, Lebensbedrohliches nur mehr selten geschieht. Ein vom Staat organisiertes Gesundheits­system sorgt dafür, dass Leiden kuriert werden; gestorben wird nur mehr ausnahmsweise und an wenigen schweren Krankheiten. Gewalt gibt es nur mehr im Fernsehen. Der Staat hat auf seinem Territorium ein Gewaltmonopol errichtet, das er mit Polizei und Armee unangefochten ausübt. Wer heute von einer Stadt in die andere fährt, braucht keine Waffe mitzunehmen, um sich in einem rechtsfreien Raum gegen Angriffe zu verteidigen. Im Mittelalter dagegen war die Bewaffnung geradezu das Kennzeichen des „Freien“. Damals war das Leben gefährlicher, unsicherer, in jeder Hinsicht. Der Tod schlug viel öfter zu und gehörte damit viel selbstverständlicher zum Leben.

Für uns heute ist der Tod unzweifelhaft in die Ferne gerückt und wird damit folgerichtig ganz anders erlebt. Es kommt gar nicht so häufig vor, dass in unserem Umkreis jemand stirbt. Oft erfährt man davon lange, nachdem es passiert ist. Die Mehrheit der heute in unseren Breiten Lebenden hat wahrscheinlich nie einen Leichnam zu Gesicht bekommen, geschweige denn: berührt. Aus dem allgemeinen Erfahrungsschatz ist verschwunden, wie ein toter Mensch riecht, wenn er schon ein paar Tage aufgebahrt war. Wir werden mittlerweile statistisch gesehen so alt, dass wir den Gedanken an den Tod immer länger von uns wegschieben können (im Regelfall denkt man bis zur Pension voraus). Marcel Duchamp ließ auf seinen Grabstein schreiben: „Es sind immer die anderen, die sterben.“ Es ist da natürlich verlockend, in konservativ-kulturpessimistischer Manier gegen die Heutigen vom Leder zu ziehen und zu sagen (was oft ge­sagt wird), dass man heute den Tod verdränge. Tatsächlich aber ist die objektive Entfernung des Todes aus unserem Alltagsleben ein Aspekt dessen, was man sonst insgesamt als Fortschritt betrachtet (und erlebt), nämlich, dass die menschliche Existenz in den zeitgenössischen westlichen Demokratien so sicher, gewaltfrei und lange an Jahren geworden ist wie noch nie in der Geschichte zuvor.

In Tirol sind Gegenwart und Vergangenheit oft noch nah beieinander. Wie manche Schneeflecken in schattigen Gebirgssenken bis in den Frühsommer liegen bleiben, so hat sich mancherorts auch die Vergangenheit mit ihren kulturellen Ausdrucksformen gehalten – und zwar in unreflektierter Selbstverständlichkeit, nicht als komatös am Leben erhaltene Folklore. Das betrifft auch den von Todesnähe und Todesselbstverständlichkeit geprägten Umgang mit dem Sterben. Der in der Innsbrucker Klinikseelsorge tätige Alfons Lanser sitzt im dortigen Pausenraum und erzählt davon, wie bei ihm daheim, im Osttiroler Villgratental, gestorben wird: „Dass der Bestatter die Leiche holt und dann als Dienstleistungsunternehmer alles ab­wickelt, das gibt es bei uns eigentlich nicht, nur im Ausnahmefall, wenn zum Beispiel ein Tourist stirbt oder sonst ein Auswärtiger, der nicht zu einem Haus gehört. Sonst wird das noch in der Familie gemacht. Der Tote wird in der Stube aufgebahrt, feierlich, mit Kerzen und allem Drum und Dran. Im Haus herrscht Hochbetrieb. Es kommen die Leute aus dem Dorf, um sich von dem Verstorbenen zu verabschieden. Es wird mittags und abends gebetet, wobei die Nachbarn vorbeten. Man muss den Leuten was zum Essen und Trinken geben, stellt vielleicht auch einen Schnaps auf den Tisch. Alle, mit denen man sozialen Kontakt hat, kommen da auf einmal. Ich hab das selbst erlebt, als mein Vater gestorben ist. Ruhe hast du da natürlich keine, aber das ist vielleicht auch der Zweck, dass man zuerst einmal abgelenkt wird. Die Ruhe kommt dann später. Mit dem Geruch gibt es normalerweise kein Problem, eine sehr feine Nase merkt vielleicht schon was nach drei Tagen, aber in einem Bauernhaus, da steht die Luft ja nicht. Man muss natürlich schon schauen, dass aus der Leiche keine Flüssigkeit austritt mit der Zeit. Am dritten Tag der Aufbahrung wird der Sarg zur Kirche getragen, von den Leuten aus der Nachbarschaft. Für die ist das eine Ehrensache, die man nie ausschlägt. Früher haben sogar die Nachbarn das Grab geschaufelt. Das macht man heute nicht mehr selber, sondern eine Firma, bei uns ist das die Firma ‚Schatzgräber‘.“

Lanser denkt nach. „Das Trauern ist da so selbstverständlich wie nur was. Ich kann mich erinnern, als Kinder haben wir in der Stube, wenn da ein Toter aufgebahrt lag, auch gespielt und sind herumgerannt und wenn einer den Ball in den Sarg geschossen hat, mein Gott, dann hat man den halt wieder herausgeholt und weitergespielt. Aber man darf das auch nicht idealisieren und sagen: Sterben am Land, nach der alten Weise ist gut, und Sterben in der Stadt ist schlecht. Das ist falsch. Da hat sich einfach so viel geändert, es sind ganz verschiedene Sachen.“

Andreas Krzyzan, Leiter der Klinikseelsorge: „Man muss sagen, dass sich der Umgang mit dem Tod in der Stadt in den letzten Jahren verbessert hat. Früher, so bis in die 80er Jahre, hat man sich etwa in den Krankenhäusern nicht für den Tod zuständig gefühlt. Da wurde der Tod einfach als Versagen der Medizin gesehen. Es gab keine Sterbebegleitung.“ Herbert Neurauter, langjähriger Bestatter in Zirl: „Sie müssen sich vorstellen, da haben sich in den Krankenhäusern die Leute beschwert, wenn sie mit einem Sterbenden im Zimmer gelegen sind. Man hat das als Belästigung empfunden, nicht dass die Angehörigen ein und aus gehen, da ist ja niemand gekommen, weil oft niemand etwas gewusst hat. Es hat die anderen Patienten gestört, dass einer am Sterben war. Und dann hat man den manchmal in die Besenkammer gelegt und dort alleine sterben lassen. Medzinisch war der Fall ja erledigt. Man hat aus diesem Grund auch eigene Sterbekammern in den Krankenhäusern eingerichtet. In den Altersheimen hat man das eine Zeit lang auch so gemacht, oft waren diese Kammern im Keller drunten. Wenn es ans Sterben ging, wurden die Leute da hinunter gebracht. Das alles gibt es heute nicht mehr, Gott sei Dank. In den Altersheimen sterben die Leute heute wieder in ihren Zimmern.“

Neurauter erinnert sich an die Zeit, als er vor gut 40 Jahren anfing. „Man sagt ja gern: Früher war alles besser, aber das stimmt ja nicht. Früher wurde der Tod vielmehr totgeschwiegen als heute. Da hat sich keiner drüber zu reden getraut. Die Bestatter haben sich ja aus den Tischlereien entwickelt. Früher haben die Tischler die Särge hergestellt und irgendwann ist es dem Tischler, bei dem ich gelernt habe, zuviel geworden und er hat zu mir gesagt: ,Magst nicht du das übernehmen?‘ Ich hab ‚ja‘ gesagt und bin Bestatter geworden. Daraufhin hat sich ein gutes Drittel meiner Freunde und Bekannten von mir abgewendet und wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Weil ich Bestatter wurde und mit dem Tod zu tun hatte. Und ich kann mich erinnern, als ich als ganz junger Bestatter zum ersten Mal in ein Haus kam, in dem es einen Toten gab. Da haben die Leute so“ – Neurauter hält sein Wasserglas in die Luft – „ein Glas voller Schnaps vor mich hingestellt und gesagt, ich soll das trinken. Warum denn, hab ich gefragt. Und die Leute haben gesagt: ‚Du musst einen Toten angreifen‘. So sind viele dem Alkohol verfallen in unserem Geschäft, weil man ihnen überall, wo sie hin gekommen sind, Schnaps hingestellt hat. Man hat geglaubt, die können sonst nicht arbeiten. Aber ich hab kein Problem, ich brauch keinen Schnaps. Der Tod ist ganz natürlich.“

In seinem Buch „Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen“ zitiert der deutsche Soziologe Norbert Elias einen Brief Friedrichs II. von Preußen an seine im Sterben liegende Schwester, die Markgräfin von Bayreuth vom 20. Oktober 1758. Darin stehen Sätze wie: „Ich bin von dir, von deiner Gefar und von meiner Erkenntlichkeit so angefüllet, das dein Bild immer in meiner Seele herrsche und alle meine Gedanken bestimmt.“ Und später: „Wollte doch der Himmel die Wünsche erhören, die ich täglich für deine Genesung zu ihm schicke!“ Es gilt als gesichert, dass Friedrich wenige Menschen so nah standen wie diese Schwester; auch dass er den Brief auf Deutsch schrieb, das er sonst höchst selten gebrauchte, unterstreicht die Intimität des Briefs. Und doch, so analysiert Elias, beschleicht den heutigen Leser dieser Zeilen ein Gefühl der Künstlichkeit, das damals bestimmt weder Friedrich noch seine Schwester hatten. Dieses Unbehagen hat nach Elias damit zu tun, dass Friedrich „konventionelle Floskeln als Ausdruck der Gefühle gebraucht“ habe und dass wir misstrauisch geworden seien „gegenüber den festgeprägten Ritualen und Floskeln früherer Generationen“. Denn: „Viele gesellschaftlich vorgeschriebene Formeln tragen die Aura vergangener Herrschaftssysteme mit sich.“ Wenig später stellt er fest: „Aber zugleich erzeugt die zivilisatorische Veränderung bei vielen Menschen erhebliche Scheu und oft genug ein Unvermögen, starken Emotionen Ausdruck zu geben, sei es in der Öffentlichkeit, sei es auch im Privatleben.“ Er meint: Emotionen angesichts des Todes – und damit scheint die zeitgenössische, noch vor allem städtische Problematik angesichts des Todes scharf umrissen: Man fühlt sich von den tradierten Ritualen nicht mehr angesprochen, bleibt teilnahmslos bei ihrem Vollzug und ist doch als einzelnes Individuum überfordert, wenn es darum geht, sein eigenes Verhältnis zum Tod zu finden und zu artikulieren.

Der Tiroler Maler Anton Christian, der sich in seinem Werk viel mit dem Tod beschäftigte, sagte zu mir: „Das Sterben ist eine undefinierbare Tätigkeit ge­worden. An kulturellen Ausdrucksformen rund um den Tod sehe ich nichts nachkommen.“ Angesichts die­ser Verlegenheit lassen sich dann im allerletzten Moment viele in die alten Formen zurückfallen. Der Klinikseelsorger Lanser: „Ich war schon bei Sterbenden oder deren An­gehörigen, die mir gesagt haben, dass sie sich von der Religion abgewendet haben. Dann fange ich halt trotzdem irgendwann an, ein Vaterunser zu beten, leise, für mich. Und wissen Sie, was dann passiert? Dann beten sie mit. Nicht weil sie bekehrt wären, sondern weil es befreit, überhaupt etwas zu tun und weil das so drinnen ist in ihnen.“
Wittgenstein schrieb einmal: „Der Mensch ist ein zeremonielles Tier.“

In den frühen 90er Jahren hat sich die Tiroler Hospizgemeinschaft formiert. Seit 1992 ist sie als Verein der Caritas organisiert, der sich die Begleitung Sterbender und Schwerkranker zur Aufgabe gemacht hat. Sowohl der Bestatter Neurauter als auch der Klinikseelsorger Krzyzan und viele andere erwähnen das Hospiz, wenn sie davon reden, dass die Hochblüte positivistischer Diesseitigkeit und Todesverleugnung schon wieder vorbei sei, dass eine Suche in Gang sei und in den letzten Jahren vielerorts an einer zeitgenössischen Begegnung mit dem Tod gearbeitet werde. Wer das stationäre Hospiz aufsucht, das in den oberen Etagen des Innsbrucker Sanatoriums Kettenbrücke untergebracht ist, wird in der Tat überrascht. Ich erwartete mir eine Atmosphäre der stehen gebliebenen, oder besser – der verlorenen Zeit, die man von Altersheimen her kennt und dachte mir: So wird es wahrscheinlich sein, nur ein bisschen schlimmer.

Statistisch gesehen stirbt ein Patient im Hospiz 13 Wochen nach seiner Einlieferung und doch betritt man kein schwermütiges Durchhaus des Todes, sondern einen eigentümlich hellen Ort. „Wir bieten katholische Seelsorge an, aber auch einfach nur menschlichen Beistand. Es gibt natürlich auch solche, die angesichts des Todes eine depressive Verweigerungshaltung einnehmen, da kann man dann nichts machen. Und es gibt auch Angehörige, die so tun, als sei nichts. Aber das ist eher die Ausnahme. Im Regelfall bemühen sich Sterbende und Familienangehörige, so schwierig es auch ist, irgendwie damit zurecht zu kommen, und sind froh, wenn man ihnen dabei hilft,“ erzählt Helene Mair-Kogler, die als Psycho­therapeutin im Hospiz arbeitet. „Die Leute haben heute eine Scheu vor dem Tod. Aber man kann ihnen dabei helfen, sie zu überwinden. Wenn ein Mensch gerade ge­storben ist und die Angehörigen im Raum sind, herrscht oft tiefe Verlegenheit. Man braucht aber zum Beispiel nur den Toten, den man geliebt hat, anzugreifen. Seine Hand auf den Leichnam zu legen. Das kostet die Leute Überwindung, aber jeder, der das gemacht hat, sagt im Nachhinein, dass ihm das viel gegeben hat. So kann man nämlich den Tod begreifen. Je emotionsloser der Umgang mit dem Sterben der anderen ist, desto größer ist die Angst vor dem eigenen Tod. Indem die Rituale, die es früher bei uns gegeben hat, an Bedeutung verlieren, wird die Trauer über den Tod anderer nicht mehr richtig verarbeitet. Der Bestatter erledigt das schnellschnell und den Angehörigen wird der Tod gar nicht mehr richtig bewusst. Und das ist nicht gesund, denn eine Trauer, die nicht gelebt wird, kommt dann halt irgendwie anders daher, meistens als Depression. Auch Sterbende ermutige ich, ihre eigenen Rituale zu finden. Einmal war da eine todkranke Frau, für die hab ich immer auf dem Monochord (ein obertonreiches Saiteninstrument, bei dem alle Saiten auf den gleichen Ton gestimmt sind, Anm.) gespielt. Und irgendwann sagte sie: ‚Dieses Instrument ist auf das Wesentliche reduziert, ich habe mich auch auf das Wesentliche reduziert.‘ Und das ist der Grund, warum der Tod nicht nur traurig ist. Es erlöschen alle landläufigen Sicherheiten und es bleibt etwas Dichtes und Wesentliches übrig. Wenn man das miterlebt, als Freund, als Angehöriger, kann einem das auch sehr viel geben.“

Und wer stirbt am Ende leichter, der Gläubige oder der Ungläubige? Seelsorger Krzyzan: „Also der Glaube bietet überhaupt keine Garantie, dass man angesichts des Todes nicht verzweifelt. Wer weiß, vielleicht verzweifle ich selbst, wenn es soweit ist, und rufe wie Jesus: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“

 

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