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Architektur o.T.

Was kann uns Architektur, die ohne Architekt entstanden ist, mitteilen? Der Architekt Carl Pruscha veranschaulicht hier, welchen Stellenwert das so genannte „anonyme“ Bauen künftig haben wird. Hier: eine „fotografische Odyssee in 24 Bildern“ von Gerhard Klocker.

Auch wenn wir uns als zukunftsorientierte Architekten im Allgemeinen scheuen, in die Vergangenheit zurückzublicken, so benützen wir doch immer wieder Bausteine aus der Geschichte, um unsere individuelle Zukunft zu basteln.

Die im Zeichen künftiger Urbanisierung stehende diesjährige Architekturbiennale beschränkt sich größtenteils auf geschichtliche und statistische Rückblicke: Sogar der österreichische Beitrag (als wohl der einzige mit visionärem Anliegen) bezieht sich mit Friedrich Kieslers Raumstadt auf den Anfang des vergangenen Jahrhunderts und mit dem Hollein’schen Flugzeugträger als Epitom des technischen Geistes auf die Mitte desselben.

Dies war die Epoche, die mir zur Zeit meines Architekturstudiums in den USA eine perfekte Technologie offerierte; sie verleitete uns, an eine fast unbegrenzte Möglichkeit ihrer Anwendung zu glauben. Meine Bewunderung (und die vieler Kollegen meiner Generation) galt damals den Visionen eines Yona Friedman oder den Ideen der japanischen Metabolisten. Mit meinen eigenen Vorstellungen von globalen Netzwerken interkommunikativer Infrastrukturen als Trägern künftiger Raumstädte stieß ich sehr bald auf Grenzen des real Möglichen und kam in Anbetracht der gesichtslosen und menschenverachtenden Architektur, wie ich sie am schier unbegrenzten Wachstum der großen Städte der westlichen Welt kennen lernte, zu einem nüchternen Erwachen.
Es war für mich eine Zeit völliger Orientierungslosigkeit. Wie zu Beginn des Industriekapitalismus setzte sich allmählich wieder eine eklektizistische Ästhetik durch, die schließlich als die „Postmoderne“ zu grotesken Auswüchsen führte, vorderhand auf Einzelobjekte beschränkt. In meinen Augen umfasst Architektur jedoch die gesamte äußere Umwelt des menschlichen Daseins – weil sie Gestaltung und Umgestaltung des gesamten Antlitzes der Erde entsprechend den menschlichen Bedürfnissen bedeutet. Die Tätigkeit des Architekten kann sich nicht auf Einzelobjekte beschränken, sie muss vielmehr Stadt-, Siedlungs- und Raumplanung des Landes bzw. der Region einschließen. Die Errungenschaften dezentraler Energie- und Informationsversorgung könnten doch das Entstehen neuer Siedlungstypen, ja einer neuen Mentalität, erlauben.

In solcherlei Gedanken verstrickt, führte mich eine gute Vorsehung anfangs der 60er Jahre ins New Yorker Museum of Modern Art (unweit meines damaligen Arbeitsplatzes im Rockefeller Center): Zu sehen war eine Ausstellung des österreichischen Architekten Bernhard Rudofsky mit dem provokativen Titel „Architecture without Architects“.
Hier wurde ich mit Bildern konfrontiert, die weltweit Beispiele einer harmonischen Verbindung charakteristischer Elemente der Architektur mit ihrer natürlichen Umwelt vorstellten. Beispiele, die weder an eine Zeit noch an eine bestimmte Form von Brauchtum oder Folklore ihrer Bewohner gebunden schienen, die vielmehr die immer wiederkehrenden Elemente der Architektur in zeitloser Ordnung wiedergaben. Bauten, die aus dem Boden gewachsen schienen und aus den Rohstoffen eben dieses Bodens gemacht worden waren.

Ich erinnerte mich wieder an die Zeit meines Studiums bei Roland Rainer und an die Studienreisen, auf denen er uns in die nähere und weitere Umgebung von Wien geführt und uns mit den dörflichen und kleinstädtischen Siedlungsanlagen bekannt gemacht hatte. Die Bedeutung dieser Arbeiten sollte uns gerade heute wieder interessieren, könnten sie doch für die weitere Entwicklung dezentralen Siedlungsbaues vorbildhaft sein. Das von Rainer damals als Veröffentlichung seines neuen Instituts für Städtebau her­ausgegebene Werk „Anonymes Bauen im Nordburgenland“ zeigt sehr eindrucksvoll die damals noch vorhandenen, mit einfachsten Mitteln und auf einfachste Weise überraschend gleichartig gebauten Orte, die dennoch ihre nachhaltige Wirkung nicht eingebüßt haben. Freilich galt damals unser Interesse vor allem der städtebaulich bemerkenswert strengen Ordnung, weniger der architektonischen Qualität.

Diese wurde jedoch schon sehr früh von Raimund Abraham erkannt, der sich unmittelbar nach seinem Studium in Graz mit seinem Fotografen-Freund Josef Dapra auf eine Reise durchs Alpenland begab, um dort einem anderen Aspekt der anonymen Architektur auf die Spur zu kommen. Sein Interesse galt nicht dem Siedlungsbau des Roland Rainer, vielmehr studierte er Bauten, die nicht dem Bewohnen durch Menschen dienten, sondern – wie Scheunen und Ställe – einfachste Funktionen erfüllten, um die bauliche Konzeption am reinsten verwirklicht zu sehen. Er wies anhand unterschiedlichster Beispiele in verschiedenen Regionen nach, dass dasselbe Ordnungsprinzip die Bauten der Gegenwart wie die primitiven Holz- und Steinkonstruktionen der Anfänge durchdringt. Sein Bestreben war es, die Wurzeln des anonymen Bauens zu ergründen, nicht das Verlangen nach dem Urtümlichen. Er drückt dies sehr klar aus, wenn er sagt: „Mich interessiert Geschichte nur dann, wenn man auf Wurzeln stößt, die noch nicht formal infiziert sind.“ Für Abraham machen die gefundenen Beispiele eine Ordnung im Bauwerk sichtbar: Ihr liegt das unerlässlich Körperhafte zugrunde und niemals die Fiktion einer Fassade. Sein damals entstandenes Buch „Elementare Architektur“ ist gleich dem Roland Rainers über „Anonymes Bauen“ längst vergriffen, wurde jedoch kürzlich als Zeichen ungebrochener Aktualität neu aufgelegt.

Zurück zu Bernhard Rudofsky, dessen Interpretation anonymen Bauens mich so stark beeindruckt hatte. Der Gedanke, selbst loszuziehen und in den entfernten Winkeln der Welt Spuren zu entdecken, wo solche Beispiele noch unverändert erlebt werden können, hatte mich immer wieder beschäftigt. Als ich dann die Möglichkeit erhielt, als Berater der Regierung von Nepal in Raum- und Siedlungsplanung meinen Wohn- und Arbeitsplatz von New York nach Kathmandu zu verlegen, gab es keine lange Überlegung, diese Chance zu nützen. Freilich hatte ich damals nicht daran gedacht, dass sich aus diesem Ausflug ein fast 10-jähriger Aufenthalt entwickeln würde.
Meine offizielle Tätigkeit füllte mich ganz aus: Ich konnte nach Gründung eines Departements für Housing, Building and Planning die Grundlagen für Landes- und Raumplanung und vor allem ein Konzept für die Entwicklung des Kathmandu-Tales erstellen, welches dann Grundlage für die Weltkulturerbe-Erklärung durch die UNESCO war. Dennoch machte sich der Architekt in mir langsam aber sicher wieder bemerkbar, als ich kennen lernen musste, dass auch hier die traditionellen Bauten allmählich globalen Einflüssen gegenüber scheinbar machtlos ausgeliefert waren und durch Objekte ersetzt wurden, die weder dem Maßstab nach, noch in ihrem Material oder ihrer Typologie dem vorhandenen städtebaulichen Prinzip gerecht werden.

Ich bemühte mich daher, in Kenntnis der vorhandenen Strukturen neue Wege zu suchen: Sie sollten zu einer Architektur führen, die beiden Welten gerecht wird. Anhand von einigen Demonstrationsbauvorhaben konnte ich aufzeigen, wie traditionelle Baumaterialien sinnvoll zur Anwendung kommen: der handgeschlagene, gebrannte bzw. sonnengetrocknete Ziegel etwa, bei kleineren Bauvorhaben gepaart mit Holzkonstruktionen, bei größeren mit in situ verarbeiteten Betonfertigteilen (als Ersatz für das im Himalaya-Gebiet immer rarere Bauholz). Dabei ging es mir niemals darum, Kopien traditioneller Bauten herzustellen, vielmehr lag mir an einer Weiterentwicklung des Vorhandenen – verbunden mit neuer Technik und in Bezug auf die neuen Erfordernisse und Bedürfnisse.

Ferner hatte ich mich auch hierbei um bestehende kulturelle Einbindungen bemüht, wenn ich etwa an dem Demokratiebildungsinstitut CEPA die symbolträchtigen Geometrien der uralten Shilpa Shastra-Tradition wieder zum Einsatz brachte. Die Bauten gliederte ich immer in die meist vom Menschen terrassierte Landschaft derart ein, dass sie mit dieser gleichsam verwachsen schienen. Trotz ihrer Neuartigkeit kamen diese Bauten den Menschen irgendwie bekannt vor und wurden sogleich als zu ihnen gehörig angenommen. Eigenartigerweise jedoch erfuhren sie nicht nur keine Nachahmung, sondern riefen vielmehr ein Revival der Ziegelarchitektur hervor, allerdings mit ornamentalen Details versehen, die ich als der Vergangenheit angehörig natürlich weggelassen hatte. Ich wollte beweisen, dass eine regionale Architektur auch ohne diese Zugaben nicht bloß denkbar wäre, sie könnte sogar ein neues Selbstbewusstsein fördern. Erst in den letzten Monaten erfuhr ich von jungen nepalesischen Architekten, die meine Bauten studierten, dass sie ihre Bedeutung allmählich zu schätzen beginnen.

Gesichtslose Allerweltsarchitektur hat sich in den vergangenen Jahren in Kathmandu (wie auch in Lhasa) dermaßen rasch verbreitet, dass die UNESCO bereits erwägt, der Hauptstadt den Weltkulturerbe-Status wieder zu entziehen. Daneben pflegt das bislang von westlich-globalen Einflüssen (einige Entwicklungshilfebeiträge ausgenommen) noch wenig geplagte buddhistische Bhutan seine traditionelle Architektur in Disney-ländischer Weise zu kopieren und hat dies – wie auch das Tragen der traditionellen Trachten – zur staatsbürgerlichen Verpflichtung erklärt. Es gibt seither auch buddhistische Tankstellen.

Seit meiner Rückkehr nach Österreich und meiner Bestellung zum Architekturlehrer an der Akademie der Bildenden Künste in Wien habe ich immer wieder Studierende mit Beispielen autochtoner Architektur in hautnahem Erfahren konfrontiert und ihnen – wie ich glaube – bleibende Eindrücke und Anregungen für ihre weitere Arbeit als Architekt vermittelt. Ist es doch faszinierend, heute noch Bauten und Siedlungsformen zu begegnen, deren Ursprünge zum Beginn menschlichen Behausungsschaffens zurückführen und die in ihrer unglaublichen Vielfalt auf die Fähigkeit des Menschen zur Interaktion mit der Umwelt, der Topographie und dem Klima verweisen. Diese Fähigkeit erlaubte es den Bewohnern, sich soziale Normen und Rahmenbedingungen für ihre Bautätigkeit zu schaffen. Erst jüngst, insbesondere seit der Begriff Ökologie in aller Munde ist, hat – was unseren natürlichen Habitat betrifft – Umfang wie auch Größe des Missmanagements in alarmierender Weise zugenommen. In besonderem Maße wurden die Kulturregionen des Ostens mit ihrer bislang vornehmlich nach innen gerichteten Weltsicht in Mitleidenschaft gezogen.

Zwei Beispiele mögen diese Entwicklung verdeutlichen: Da sind einmal die großartigen Konzepte islamischen Städtebaues mit dem für weite Teile des Orients typischen Hofhaus; dabei ist insbesondere der Iran von zentraler Bedeutung. Und dann gibt es das System des traditionellen chinesischen Wohnhauses, welches noch vor Jahrzehnten als Wohnstätte für Millionen Einwohner gedient hat. Von beiden Haustypen existieren nur mehr wenige intakte Beispiele, wie sie in Roland Rainers eindrucksvollen Bildbänden („Anonymes Bauen im Iran“, „China, die Welt als Garten“) dokumentiert wurden. Heute können wir solche Schöpfungen traditioneller Habitats wohl nur mehr in von der globalen Einheitsentwicklung noch unberührten Randgebieten der Welt begegnen – wie in Wüsten oder entlegenen Gebirgsregionen (und dazu zählt im Besonderen die von mir so geliebte Region des Himalaya).

Obschon mir bewusst ist, dass auch auf diese Weise den soeben beschriebenen Trends nicht wirklich zu begegnen ist, war es mir ein Anliegen, meine Gedanken und Vorschläge hierzu aufzuzeichnen. So entstand das Buch „Himalayan Vernacular“ (Schlebrügge, Wien 2004).






Auf 12 Doppelseiten Gerhard Klockers Hommage an das 1963 zum ersten Mal publizierte Buch „Elementare Architektur“ von Raimund Abraham und Josef Dapra. Klockers Weg durch die Alpentäler war ebenso wie die ursprüngliche Expedition „ohne Landkartenstrategie.“

Aus dem Beipackzettel des Fotografen zu seiner Arbeit „Revisited: Elementare Architektur“:

„revisited: Es macht keinen Sinn, die Holzkonstruktionen der originalen Publikation ein zweites Mal zu fotografieren; die haben sich ja kein bisschen verändert, werden auch in 20 Jahren noch genauso in der Gegend herumstehen. Und besser fotografieren kann man sie ja nicht.

elementar: übersetzt als notwendig (lebens-)

Architektur: eingeschränkt auf Nutzbauten im weitesten Sinn; Einfamilienschutzbauten ausgeschlossen, Schutzbauten inkludiert (wie Lawinenverbauungen oder Tunnels), Heustadeln oder Massenhotels ebenfalls

im alpinen Raum: alle Sujets befinden sich zwischen 800 und 2.500 m ü.d.M.“

 

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