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Horizontales Reisen im vertikalen Gelände Landvermessung
No. 3, Sequenz 4
Vom Kellerjoch zum Vomperjoch (über Schwaz)

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte oben). Derzeit befinden wir uns auf einer Geraden, die von Obermauern im Osttiroler Virgental nach Garmisch-Partenkirchen führt. In der aktuellen Folge begegnet Walter Grond einem Einheimischen.

Seine Kindheitserinnerungen an Schwaz trägt Theo Peer mit jenem Sinn für die Absurdität des Alltäglichen
vor, den ich von seinen legendären mit Otto Grünmandl gestalteten Alpenländischen Interviews kenne. Er erzählt mir vom Tippeler, einem Gasthaus in der Schwazer Burggasse, von dessen düsterem Gewölbe und der Schank, wo er als Kind für die Großeltern offenen Wein holte, von der Wandglocke, die er zog, um der Kellnerin zu läuten, und von der jungen Frau, die dann erschien und nach den Wünschen fragte. Nun war diese Kellnerin eines Sonntags nach langer Nachtarbeit in der Kirche eingenickt, und als die Glocke die Wandlung einläutete, schreckte sie aus dem Schlaf hoch und rief laut: „I kimm glei!“

An den Altären der Franziskanerkirche wurden damals gleichzeitig fünf Messen gelesen, und an einem bestimmten Sonntag passierte es, dass zwei Messen gleichzeitig bei der Wandlung anlangten, und daher seine Großmutter, um der unerwartet doppelten Gnade gerecht zu werden, das Kreuzzeichen schlug und betete: „Mein Jesus Barmherzigkeit hinten und vorne!“

Wir sitzen in Theos Studio in Steinach am Brenner, einem architektonischen Musterbeispiel für die Modernisierung des ländlichen Raums in den letzten Jahrzehnten. Mitte der neunzehnhundertsiebziger Jahre empfahl Friedrich Achleitner seinem Freund, das Studio von Heinz Tesar entwerfen zu lassen. Tesars Idee eines Licht durchfluteten und offenen Raumes mit verschiedenen Niveaus begeisterte sofort die urbane Architekturwelt, weit weniger aber die Steinacher Nachbarschaft, und ist heute doch ein Initialbau inmitten von Einfamilien- und Reihenhäusern, die inzwischen nach ganz ähnlichen Prinzipien gebaut werden.

Der Pianist, Kabarettist, Fotograf, Autor Theo Peer ist ein rüstiger Achtzigjähriger, der eben erst – mit ungebrochenem Elan – noch nicht veröffentlichte Alpenländische Interviews edierte. Mich interessiert der Übergang ins Etablierte, den jede Innovation erfährt. Ich finde an diesem fragil wirkenden Mann faszinierend, wie er sich mit der Hingabe an die Kunst etwas Freches, beinahe Jugendliches bewahrt hat. Er zeigt mir den Band Dünne Luft hinter den Bergen, ein Textbuch und eine CD mit Alpenländischen Interviews, die er noch mit seinem 2000 verstorbenen Freund Otto Grünmandl aufgenommen hatte, aber erst kürzlich arrangiert hat. Die beiden verblüffen wie zur Zeit ihrer populären Fernsehauftritte mit surrealem Witz, dem eine widerständige Gelassenheit zugrunde liegt. Das Prinzip der Alpenländischen Interviews ist bestechend: Otto Grünmandl weiß nicht, als wen Theo Peer ihn vorstellen und welche Fragen er an diesen stellen, und Theo Peer weiß nicht, wie Otto Grünmandl darauf reagieren wird. Was dabei herauskommt, ist die unvergleichliche Komik einer Doppelconference aus dem Stegreif.

Wir möchten Theos Kindheitsorte aufsuchen. Ein Fußmarsch von Schwaz ins Vomperloch wird es nicht werden, Theo Peer war immer schon ein überzeugter Bewegungsminimalist. Er chauffiert mich mit dem Auto, dann tragen uns zeitweilig die Beine, und wir nehmen wieder das Auto.

Das Prinzip der persönlichen Spurensuche ist assoziativ. In Theos Erinnerung blitzt ein Motiv auf, diesem folgen wir ein Stück, dabei hat er unseren Bewegungen eine Partitur zugrunde gelegt, und muss sich doch aufs Flanieren verlegen, da ihm erst der Augenschein die Vergangenheit freigibt. Vom Vomperloch will er noch nie etwas gehört haben und erklärt es sich damit, in einem Loch existiere bekanntlich nichts. Unsere kleine Reise, eine Education sentimental, offenbart die Dichotomie aller Modernen – es sind keine anderen als die existierenden Kirchen, über die Theo Peer spricht, und er denkt sie auch gar nicht aus seinem persönlichen Stadtbild weg, bleibt als Stadtführer durchaus im Repräsentativen. Indes eröffnet er eigenwillige Blickwinkel, liest dem Vergangenen das Moderne ab. Und wenn er auch über das Provinzielle wettert und sich über das korrupte Land empört (dessen Machthabern und Profiteuren er jahrelang mit seiner Radiosendung Totzenhacker ein wöchentliches publizistisches Störfeuer lieferte), erweist er sich doch als dessen überzeugendster Botschafter. Wäre er kein Tiroler, erklärt er mir charmant, müsste er von der Schönheit der Tiroler Berge überwältigt sein, vom schroffen Massiv der Nordkette, auf deren verschneiten Felsvorsprüngen sich gerade die Sonne spiegelt, ein Bild, das er dramatisch nennt. Und lobt die Schwazer für ihre unaggressive Art, nennt ihren Dialekt weich, ans Salzburgerische anklingend, ihre Mentalität gemütlich und angenehm.

Die Burggasse
Wir finden den Tippeler, ein altes Gebäude, das leer steht und vor sich hin verfällt. Das dicke Mauerwerk am Bröckeln, die meisten Fenster eingeschlagen. Die steinernen Fenstersimse, der überdachte Erker, das massive Tor haben wohl Theos Kindheit konserviert, da ist die kleine Luke neben dem Eingang, durch die wir in den Vorraum mit der Schank hinein spähen, und wir lesen die verblassenden Buchstaben in gotischer Schrift Gasthaus zur Krippe, Tippeler und ein verrostetes Schild Fremdenzimmer.

Vom Tippeler steigt die Gasse steil an bis zum Franziskanerkloster und weiter bis zum Palais der Fugger, das im neunzehnten Jahrhundert Nonnen übereignet wurde. Weiter hinten am Berg befinden sich die Stollen, die Schwaz um 1500 zu einer der reichsten und größten Städte Europas hatten werden lassen, was diesem Städtchen mitten in den Bergen noch heute sein vornehmes Erscheinungsbild verleiht.

Der Kinderhort in der Burggasse war einst die Rahmenfabrik von Theos Onkel. Theo meint, aus dem ehemaligen Büro das Geräusch der Rechenmaschine zu hören, auf der seine Tante den ganzen Tag Zahlen tippte. Hinten im Hof erzählt er von den Sägespänen, die damals bei der Rahmenproduktion abfielen, und die von den Kindern für Kriegsspiele verwendet wurden. Gleich daneben schließt der Garten des Großelternhauses an, die Kunsthandlung Zöhrer wird heute von einer Cousine Theos geführt. Seine Großmutter, fällt ihm ein, sprach damals des Öfteren von den Gralsrittern auf dem Vomperberg, die immer wieder Devotionalien bei ihr im Laden kauften. Obwohl allesamt Fremde, habe sie sich wohlwollend über diese Leute geäußert. Mehr weiß er nicht mehr, zeigt mir Schwaz auf der Landkarte, wie es südlich des Inns liegt, hingegen nördlich des Flusses das Örtchen Vomp mit dem Vomperberg, dann etwas westlich Vomperbach, von wo es zum Vomperloch, einem Seitental ins Karwendelgebirge geht.

Die Kirchen
Dieser seltsame Kontrast schroffer Natur und der kräftigen Farben des Tiroler Barock. Flimmern vor den Augen, ein byzantinisches Schauspiel (im Übergang zum Orientalischen?). Dass Menschen aus einer solch vertikalen Landschaft zu Reisenden werden und die Weite suchen, verwundert nicht. Theo erzählt von Gert Chesi, dem Fotografen und Journalisten aus Schwaz (der heute im westafrikanischen Togo lebt), der 1995 mit Exponaten seiner Reisen das Haus der Völker, eine ethnografische Sammlung, begründete. Während einer Fahrt in die Sahara war Chesi einem Beduinen begegnet, der mit einem Stück Rohr der Pipeline, neben der er hockte, phantastische Musik machte (im Studio bearbeitet, wäre vom Klang in der Wüste allerdings nichts geblieben, fügt Theo hinzu).

Da Theo Peer von der Ergriffenheit spricht, die ihn angesichts der Naturgewalt wie auch der Dramatik von Architektur und Musik erfasst (unter der mächtigen Kirchenorgel, die wir in der Stadtpfarrkirche bewundern), fügt er dann doch eine kleine Geschichte über das Malheur seiner Endlichkeit hinzu, in dem der Mensch sich befindet. Sein Vespererlebnis in der Stiftskirche Fiecht (östlich von Vomp gelegen) trägt er keinesfalls schadenfroh vor, vielmehr ähnelt diese Geschichte den Figürchen an den Dachrinnen und Vorsprüngen der Kirche, die – überaus grotesk und verloren wirkend – letztendlich einen einzigen Zweck verfolgen, nämlich das Dasein in seiner ganzen Unvollkommenheit zu bejahen. Während er einmal in der Stiftskirche Fiecht, so Theo, dem Vespergesang der Klosterbrüder lauschte, bückte sich ein Pater ganz vorne im Gestühl neugierig zu ihm herab, versank dann wieder ins Gebet, um abermals über die Brüstung zu seinem Zuhörer zu spähen. So hin und her gerissen, stand der Mönch an einer bestimmten Stelle des Gebets mit seinen Mitbrüdern auf, schaute herunter und vergaß dabei, den Klappsessel zu fixieren, weswegen er beim erneuten Niedersetzen mit einem Plumps auf dem Hintern landete.

Dies könnte eine Szene im Kreuzgang der Franziskanerkirche sein. Die verblassten Wandzeichnungen, ein Panoptikum mittelalterlicher Spiritualität, verbinden die Schilderung alltäglichen Lebens mit der Lektüre des Neuen Testaments. Da es sich um einen geschlossenen Rundumweg handelt, wähnt man sich in einem vollkommenen Universum, und doch ist es ein Tableau von Unfällen, kleiner und großer Desaster.

Vor der Stadtpfarrkirche weist mich Theo auf den ungewöhnlichen Bau hin, der die Geschichte der Stadt Schwaz zu verstehen hilft. Das Kupferschindel gedeckte Kirchendach zeugt davon, dass neben dem Silber auch der Abbau von Kupfer die Stadt reich werden ließ, und da die Glocke für den Kirchturm zu mächtig war, musste daneben gar ein zweiter Turm errichtet werden.

„Hier riecht es überall nach vergangenem Reichtum!“ Die Fugger, Herren der Silberstollen, liehen den Habsburgern Geld und verhalfen ihnen damit zur Macht. Ungewöhnlich die vier Schiffe der Stadtpfarrkirche. Aus sozialen Gründen fügte man im ausgehenden Mittelalter den ursprünglich dreien ein viertes hinzu. Den zugewanderten Bergleuten stand nämlich eine eigene Gerichtsbarkeit zu, und um den sozialen Frieden zu wahren, wurden den Knappen und der Bürgerschaft je ein Kirchenschiff zugesprochen, befanden sich also in der Liebherrenkirche von Schwaz zwei Kirchen unter einem Dach.

Das Marterl in der Friedhofsmauer
Bis vor wenigen Jahrzehnten befand sich um die Kirche der Friedhof (befindet sich heute ein Park), noch Theos Großeltern wurden hier begraben. Theo öffnet das Türchen eines bronzenen Marterls in der Friedhofsmauer. Ignaz Zöhrer, der junge Soldat auf dem Fotomedaillon, war sein Onkel, Vergolder und Kaufmannssohn, der als Soldat in den Ersten Weltkrieg zog und als Kriegsgefangener mit neunzehn Jahren in Sibirien starb, „Für Gott, Kaiser und Vaterland“, wie zu lesen steht, oder „Nicht für, sondern durch das Vaterland“, wie Theo die Formel kommentiert.

Das Café Heiss
Für die Fahrt auf den Vomperberg stärken wir uns im Café Heiss. Das heimelige Café im ersten Stock empfängt uns mit Tradition – 1809 gegründet als die erste Konditorei und Zuckerwaren-Fabrikation, Sodawasser-Fabrik, Wachs- und Stearinwaren-Handlung zu Schwaz, mit Prima Chocolade und feinsten Bonbons. Es geht uns prächtig, und angesichts der Holzmeister Brücke über den Inn entsinnt sich Theo der alten Holzbrücke, welche die beiden Stadtteile verband, die aber nur gegen Bezahlung einer Maut benützt werden durfte. Unweit von hier befand sich die Fabrik der Austria Tabak, die einst vielen Schwazern Arbeit bot, auf dem Gelände wird derzeit eine Shopping City errichtet.

Der Gral am Vomperberg
Wir unterqueren eine Autobahn, mit Blick auf das Kloster Fiecht rollen wir durch zersiedeltes Land, an Baumärkten, Supermärkten, Tankstellen, Lagerhallen vorbei, den Parzellen mit Einfamilienhäusern, Richtung Dorfzentrum Vomp, folgen zunehmend schicker werdenden Gebäude, Banken, Hotels, Richtung Gebirge alpine Villen, in den Hang hinein gebaute Tiroler Schlösschen, hinauf in die Fichtenwälder zum Vomperberg.

Auf dem Hochplateau angekommen (bei prächtigem Sonnenschein, unter uns das Inntal, das die schroffen Bergwände von den sanften Bergrücken der Südalpen trennt), staunen wir über die esoterische Idylle. Wir entdecken mehrere Gehöfte auf den Plateaus zwischen den Hängen und Wiesen, weiter oben eine kleine Siedlung, vor der wir Halt machen, um das Alpengasthaus Weberhof zu besuchen. Die Häuser sind gepflegt, gut erhalten, und obgleich im Alpenstil erbaut, in ihrer Farbigkeit (den bunten Türen und Fensterläden, dem freundlich hellen Holz) der Gegend fremd. Wir sehen Autos, landwirtschaftliche Maschinen, ein Verwaltungsgebäude, das zu einer Kuranstalt passen würde, und doch erinnert mich das Ambiente an das Amish Land in Pennsylvania. Ob wir als Eindringling den Kopf senken oder uns willkommen fühlen sollen? Die Geschlossenheit dieser durchorganisierten Welt wirkt zugleich anziehend wie beengend, vermittelt Geborgenheit und löst Fluchtreflexe aus.

In Theo hat sich der Hunger zu Wort gemeldet, daher geht er auf den erstbesten Menschen zu, der zu sehen ist, und bekommt die freundliche Antwort, das Gasthaus habe bis zum Frühjahr geschlossen. Da er wissen will, wo die Gralsritter auf dem Vomperberg wohnen, erntet er ein verlegenes Lächeln, wir befinden uns bereits in der Gralssiedlung, weiter drüben steht die Andachtshalle und dort oben die Pyramide des Abd-ru-shin, das Grabmal des Gründers.

Sketches für Beton
Wir belassen es beim Augenscheinlichen, haben die Gralsritter aus Theos Kindheit gefunden, sind uns einig, dass sie diese Berghöfe vorbildlich führen (was für ein Gegensatz zu den mit Beton und Schneemaschinen zerstörten Skiregionen Tirols). Zwei liberale Seelen begeben sich zurück ins Tal, nicht frei von spöttischer Ironie (ein Gralsanhänger wollte laut Pressebericht entdeckt haben, vor drei Jahrtausenden als Agamemnon von seiner jetzigen Frau, die damals Klytämnestra hieß, ermordet worden zu sein, was ein weiteres Zusammenleben unmöglich mache), und doch erleichtert, hier und jetzt zu leben (und nicht in Oskar Ernst Bernhardts Jahren; jener Weltenbummler und Erleuchtete, der als Abd-ru-shin 1929 auf den Vomperberg zog, wurde von den Nazis enteignet, musste von hier flüchten und starb 1941 von der Gestapo bedrängt).

Im profanen Fremdenverkehrsort Vomp haben zur Mittagszeit die Hotels und Gasthäuser geschlossen. Die Landkarte weist uns weiter nach Terfens, und bald durchqueren wir das Areal eines Betonwerks zwischen Autobahn und Eisenbahn-Trasse, landen in Vomperbach, wo uns eine Anrainerin das Gasthaus Stoanergroben zeigt. Für die Lang Betonwerke produzierte Theo vor zwanzig Jahren Werbe-Skechtes und erntete für seine absurden Szenen Lob von der Betriebsleitung. Nun essen wir im Gasthaus unweit des Werks, das Mittagsmenü wird täglich im Internet angezeigt, damit die Werksarbeiter wissen, was sie erwartet. Eine herb charmante Wirtin bedient uns, eine schüchterne Köchin serviert uns ausgezeichnetes Szegediner Gulasch, danach trinken wir Praxmarer Kaffee (mit dem Emblem einer Hieroglyphenfigur) und verlassen die gemütliche Stube mit dem rar gewordenen Gefühl, zu einem vernünftigen Preis gut verköstigt worden zu sein.

Das Loch
Vorbei an Arbeiterunterkünften und Containerburgen wagt sich Theo ins Vomperloch. Vor dem Kraftwerk der Stadtwerke Schwaz wirft er das Handtuch. Die enge Straße ist vereist, links erheben sich Felswände und Tafeln warnen davor, das Bachbett zu betreten, wegen des Schwellbetriebs des Kraftwerks könne der Wasserspiegel innerhalb weniger Sekunden ansteigen. Eine Tafel, vom Bild eines Adlers gekrönt, heißt im Alpenpark Karwendel willkommen. Wir kehren um.

 

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