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Brenner-
Gespräch (2)
Eine Sache des Respekts

So viele Leute fahren über die Alpen. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause mit Gespräch. Folge 2: der Triestiner Autor, Essayist und Germanist Claudio Magris über biografische Geografie und Kartenspiele, die Todesinsel und die zarte Seele.

Robert Renk: Verzichten wir bei unserem Gespräch auf das Thema Triest und auf das Thema Grenzen. Sie werden ja so oft als Autor der Grenzen bezeichnet und noch öfter werden Sie zu Triest im Allgemeinen und im Speziellen befragt …

Claudio Magris: Ja, dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar. Ein schöner, ein unerwarteter Einstieg.

R.: In Ihrem neuesten Roman „Blindlings“ geht es unter anderem um das Thema Identität oder besser: mehrere Identitäten in einer Person. Sie selbst sind ja eine sehr, sehr vielschichtige Person. Sie sind Germanist, Essayist, Erzähler, Journalist, sie sind oder waren Politiker …

M.: Ich war immer politisch interessiert und engagiert. Aber meine einzige Waffe ist das Schreiben. Ich schreibe z. B. für den „Corriere della Sera“ über Lite­ratur und über Reisen. Aber oft schreibe oder schrieb ich auch stark engagierte Artikel und Kommentare, besonders über die Regierung Berlusconi. Da die Poli­tik mit der allgemeinen Situation der Menschen zu tun hat, muss man sich engagieren. Auch wenn man nicht unbedingt Lust dazu hat.

R.: Sie waren ja auch selbst politisch tätig.

M.: Ja, ich war zwei Jahre lang Mitglied des Parlaments. Aber das ist eine sehr komplizierte Geschichte.

R.: Wollen Sie uns diese „sehr komplizierte Geschichte“ erzählen?

M.: Ich hatte nie die Idee zu kandidieren, habe auch öfters abgelehnt. Auch Anfragen von Parteien, die mir durchaus nahe standen. Im Januar 1994 aber – ich war auf Grund eines Förderpreises der Humboldtstiftung gerade in Lausitz – kam dieser plötzliche und völlig unerwartete Aufstieg Berlusconis. Die fünf Parteien, die in Triest gegen Berlusconi waren, haben mich daraufhin gebeten zu kandidieren. Ich fand mich in einem breiten politischen Spektrum wieder, das von liberalen und erzkonservativen Leuten bis hin zur extremen Linken, der Volkspartei und der PDS (Demokratische Partei der Linken, Anm.) reichte. Es war mir peinlich, aber ich hatte das Gefühl, ich dürfte nicht nein sagen. So habe ich zugesagt. Ich konnte keinen Wahlkampf führen, denn ich war ja der Humboldtstiftung verpflichtet. Genau deswegen habe ich dann gewonnen, weil ich keinen Wahlkampf gemacht habe – mit Ausnahme der letzten zwei Tage!

R.: Wie ist es zur Parteigründung gekommen? Sie hatten sich ja keiner Partei angeschlossen.

M.: Meine Freunde haben für mich im Café San Marco eine Partei gegründet und alles für einen Wahlkampf organisiert. Sie hatten „nur“ vergessen, sich selbst als Parteimitglieder einzutragen. Ich habe natürlich mit anderen Parteien zusammengearbeitet – gegen Berlusconi. Formell aber war ich völlig selbstständig. Ich war eine Partei, die nur aus mir selbst bestand. Nicht einmal Trotzki hat von dieser direkten Demokratie geträumt: die völlige Deckungsgleichheit von Repräsentanz und Basis. Ich war ja das einzige Mitglied.

R.: Wenn Sie das einzige Parteimitglied waren, dann konnten Sie sich mit hundertprozentiger Zustimmung zum Vorsitzenden wählen. Ich glaube, das hat nicht einmal Stalin geschafft.

M.: (lacht) Sie unterschätzen meine Begabung in Sachen Persönlichkeitsspaltung! Es lief völlig anders. Die Majorität war sehr schwach, wohingegen mein Unbewusstes eine wilde Opposition bildete! Jetzt sage ich das im Spaß, aber damals war es nicht so lustig.

R.: Zurück zur vielschichtigen Person Claudio Magris; dem Germanisten, dem Kurzzeit-Politiker, dem Schriftsteller, dem Professor …

M.: Bin ich nicht mehr.

R.: Sind Sie in Pension?

M.: Ja, seit dem 1. November.

R.: Gratulation! Nun: Für mich sind Sie – neben dem schon erwähnten Personalienmix – auch und vor allem literarischer Historiker. Und zwar ein Historiker der kleinen Leute. Ein Zeitzeuge. Wie gehen Sie mit diesen verschiedenen Rollen um?

M.: Ich bin Ihnen sehr dankbar für die Bezeichnung Historiker der kleinen Leute oder sagen wir Historiker der Unbekannten. Das ist sehr wichtig für mich. Denn, wenn ich zum Beispiel Germanist bin und ich eine Biografie über Goethe schreibe, muss ich sehr genau recherchieren, ob Goethe Friederike Brion am Dienstag, den 20. oder am Mittwoch, den 21. zum ersten Mal geküsst hat. Und ich meine, jeder unbekannte Mensch sollte dasselbe Recht auf Genauigkeit, auf Philologie haben, wie die sogenannten Gro­ßen. Das ist eine Sache des Respekts.

R.: Sie fühlen sich zum Kleinen und Unbekannten hingezogen, sind selbst aber sehr bekannt. Soeben standen Sie auf der Liste der Anwärter auf den Literaturnobelpreis. Und auf der offiziellen Homepage der Stadt Triest sind Sie in der Rubrik „berühmte Triestiner“ aufgeführt. Was sagen Sie dazu?

M.: Was soll ich sagen? Im Sinne der Anklage unschuldig.

R.: Wenn Sie den Fokus auf das Unerforschte, das Marginale legen, kann es mitunter sehr komisch werden, aber oft auch äußerst tragisch – wie man in Ihrem neuesten Roman „Blindlings“ nachlesen kann.

M.: Ich habe 18 Jahre an diesem Buch „gekocht“. Natürlich habe ich auch andere Bücher geschrieben, vieles ist mir inzwischen passiert, im Guten wie im Bösen. Aber der Hauptplan war immer, dieses Buch zu schreiben. Es gibt verschiedene Themen, aber eines hat mich immer fasziniert, das war die Geschichte von Goli Otok, der Todesinsel in der Adria. Leider nicht von mir erfunden, sondern von der grausamen Wirklichkeit. Ich musste nun warten, bis ich die Stimme gefunden hatte, bis ich dieser Stimme auch glaubte. Die erste einheitliche Fassung von „Blindlings“ habe ich im Jahre 2001 in Paris geschrieben.

R.: Der Roman ist nicht linear geschrieben, nicht gerade sehr einfach zu lesen. Er hat eine sehr verschachtelte, verspiegelte Erzählstruktur. Wie kam es dazu?

M.: In der Literatur muss das „Wie“ identisch mit dem „Was“ sein. Man kann solche schrecklichen Geschichten wie die von Goli Otok nicht linear erzählen.

R.: Können Sie uns kurz die historischen Hintergründe für Ihr Interesse an Goli Otok schildern?

M.: Ja. Nach dem Zweiten Weltkrieg verließen 300.000 Italiener Istrien, das inzwischen jugoslawisch geworden war. Nach der italienischen Gewalt gegen die Slawen war die Stunde der Revanche gekommen. Kurze Zeit später hat es einen anderen, kleineren und tragischeren Exodus gegeben: 2.000 italienische Arbeiter aus Monfalcone, einer kleinen Stadt in der Nähe von Triest, gingen freiwillig nach Jugoslawien, um den Kommunismus im nächstliegenden kommunistischen Land zu unterstützen. Sie waren militante Kommunisten, die die faschistischen Gefängnisse, den spanischen Bürgerkrieg, die deutschen Lager – Dachau vor allem – erlebt hatten. Als Tito mit Stalin brach, wurden sie in diesem Land potenzielle Feinde und wurden auf kleine Inseln der oberen Adria deportiert. Eben auch nach Goli Otok, wo sie gefoltert und wie in einem Gulag gehalten wurden. Sie leisteten Widerstand, mit unglaublichem Mut, im Namen von Stalin, der für sie damals natürlich die Freiheit, die Gerechtigkeit, die Revolution verkörperte, der aber – hätte er gewonnen – die ganze Welt in ein solches Lager verwandelt hätte. Die Leute aus Monfalcone wurden ignoriert von allen, denn Jugoslawien schwieg natürlich über diese Schande. Die Sowjets verleugneten Titos Jugoslawien mit allen nur erdenklichen Mitteln und schwiegen ebenfalls über die Gulags, schließlich hatten sie selber noch mehr davon. Italien wusste, wie so oft, gar nichts von dem, was an seiner Ostgrenze passierte. Die Engländer und Amerikaner interessierten sich überhaupt nicht für die Tragödie von ein paar tausend Leuten. Für sie war die Rolle Titos in ihrer anti­sowjetischen Politik viel wichtiger.
Als die Überlebenden nach Italien zurückkehrten, wurden sie wieder sehr schlecht behandelt. Von der Polizei, weil sie als gefährliche Kommunisten galten, die aus dem Osten kamen. Von der Kommunistischen Partei Italiens, weil sie unbequeme Zeugen der stalinistischen Politik dieser Partei waren, an die man sich nicht gerne erinnerte.

R.: Kann man so etwas erfinden oder nur finden?

M.: Hätte ich das erfunden, dann wäre es eine kitschige, übertriebene, sentimentale, pathetische, schlechte Literatur gewesen. Aber die Realität ist eine oft grausame, illegitime Konkurrenz zur Erfindung. „Truth is stronger than fiction“, wie Herman Melville gesagt hat, der doch einiges von der Fiktion verstand. Ich glaube, dass jeder von uns ein zerrissenes Ich hat, jeder von uns ist ein Archipel – es hat zum Glück nicht jeder so eine tragische Geschichte wie der Held in meinem neuen Roman. Verschiedenste Sachen, die wir nicht kennen, die wir nicht kennen wollen, lauern in unserer biografischen Geografie.
Aber was diese Vielfalt, diese wirklich wichtige, bereichernde, beunruhigende, schreckliche Vielfalt meiner Person betrifft – um auf ihre Eingangsfrage zurückzukommen –, da spüre ich keinen Widerspruch: In der Vielfalt des Tuns fühle ich mich einheitlich. Ich unterscheide mich hier nicht wesentlich von anderen. Denn jeder von uns hat, glaube ich, seine religiösen oder philosophischen Ideen, verliebt sich oder hat einen Hund, liebt das Meer oder fürchtet sich.

R.: Wie gehen Sie in Ihrem Schreiben mit diesen gelebten Widersprüchen um?

M.: Es gibt natürlich ein Auseinanderdriften zwischen dem Wunsch, den man hat, der Welt, dem Leben einen Sinn zu geben, und dem Gefühl: alles ist nichtig … „am End is olles nichts“, wie eine Gestalt von Nestroy in etwa sagt. Der Widerspruch in mir, bewusst oder unbewusst, spiegelt sich auch in meinen Büchern wider. Um es mit Ernesto Sabato zu sagen: Es gibt ein taghelles Schreiben, in dem sich eine Welt erschafft, in dem sich Gefühle, Weltanschauungen ausdrücken. Und ein nächtliches Schreiben, wo man plötzlich Dinge schreibt, die man nicht hätte schreiben wollen, die einen selbst denunzieren, die aus Tiefen aufsteigen, als ob sie ein Doppelgänger geschrieben hätte. Und selbst wenn wir möchten, dass unser Doppelgänger andere Dinge sagen sollte, müssen wir ihm dennoch das Mikrofon übergeben. Anders gesagt, es ist so, als ob man plötzlich vor der Medusa stehen würde und man kann sie nicht zum Friseur schicken.

R.: Selbst die stärkste Fiktion hat also autobiografische Anteile, bei denen auch der böse Doppelgänger im Spiel sein kann?

M.: Ja, wir erleben eine glückliche Liebesgeschichte, die uns dazu bringt, eine gänzlich erfundene Erzählung über eine glückliche Liebesgeschichte zu schreiben. Aber wir können auch eine glückliche Liebesgeschichte erleben, die uns plötzlich fühlen lässt, wie fürchterlich ein Leben ohne Liebe wäre, und die uns dazu bringt, eine tragische Erzählung zu schreiben. Die Autobiografie, die für das Schreiben wichtig ist, hat mehr mit den Gedanken, Gefühlen, den plötzlichen, blitzschnellen, manchmal schrecklichen Gedanken und Gefühlen zu tun, als mit konkreten Fakten.

R.: Wenn wir über den Brenner Richtung Triest blicken, würde unser Blick über den Ort Antholz in Südtirol schweifen. In Ihrem Buch „Die Welt en gros und en détail“ beschreiben Sie eine Szene in Antholz, in der gewattet wird (ein in Tirol verbreitetes Kartenspiel, Anm.). Könnte ich mit Ihnen jetzt watten?

M.: Nein. Sie könnten mit mir Cotecio spielen. Das Cotecio interessierte mich aus mehreren Gründen. Es hat – wie viele Kartenspiele im Übrigen – mit der Unmittelbarkeit des Lebens zu tun. Und: Cotecio ist ein Spiel, bei dem paradoxerweise derjenige verliert, der die meisten Punkte macht. Um zu siegen, muss man verlieren. Dabei hilft, wenn man den Gegner mit möglichst viel Geschwätz betäubt – für mich die einzige Möglichkeit, manchmal auch zu gewinnen. Ich bin nämlich ungeschickt, was die unerbittliche papierene Logik des Kartenspielens betrifft.

R.: Das glaube ich Ihnen nicht.

M.: Nein, nein, ich bin nicht schwach in der Logik an sich, denn ich glaube an die Logik, an die Syntax. Die Logik hat auch mit der Moral zu tun. Die Logik hat auch mit Ironie zu tun. Aber die mathematische Logik beherrsche ich wenig. Ich weiß, die Logik ist sehr wichtig, genau wie die Syntax. Es ist wichtig, dass man das Subjekt im Nominativ und das Objekt im Akkusativ benennt, denn sonst kann man nicht wissen, wer wen bestohlen hat und man schickt das Opfer – und nicht den Täter – ins Gefängnis.

R.: In Ihren Artikeln scheint mir manchmal, dass Sie den Verlust einer moralischen Logik nachzeichnen. Stimmt das?

M: Diese Logik verschwindet tatsächlich immer mehr, das ist schrecklich.
Ich nenne Ihnen zwei Beispiele.
Vor ein paar Jahren durchtrennte ein amerikanisches Flugzeug im trentinischen Cavalese die Kabel einer Seilbahn. Die Gondel stürzte in die Tiefe, 20 Menschen kamen ums Leben. Tagelang hat man nicht darüber diskutiert, wer dafür verantwortlich war, ob es ein Fehler des Piloten oder des Kontrollturms war. Man hat sich nur gefragt – aber ernsthaft –, ob das Flugzeug in dem Moment, in dem es das Seil durchtrennte, auf der richtigen oder auf der falschen Route war! Wie kann eine solche Route richtig sein? Wenn jetzt, in diesem Augenblick, ein Flugzeug in das Hotel rast, in dem wir hier gerade sitzen, dann gibt es in meinen Augen nur zwei Möglichkeiten. Entweder das Hotel hat einen Sprung in die Höhe gemacht und hat das Flugzeug gerammt. Oder das Flugzeug war zu tief und somit doch irgendwie auf einer falschen Route. Man konnte viel sagen zu diesem Unfall, nur nicht das, was der unsägliche General Guy Vanderlinden – immerhin Oberbefehlshaber der US-Marinetruppen im Mittelmeerraum – dazu gesagt hat. Er hat allen Ernstes behauptet: Das Flugzeug befand sich in dem Moment dort, wo es sich befinden sollte! Was bedeutet das? Entweder, die Gondel war auf der falschen Route, oder aber es handelte sich um eine Art terroristischen Akt des Piloten. Ich habe dann vorgeschlagen, man solle zur Strafe den General Vanderlinden dazu zwingen, sechs Monate lang je vier Stunden die Logik des Aristoteles oder des Heiligen Thomas oder von mir aus auch von Moltke zu studieren.
Ein zweites Beispiel: Bei der Wahlkampagne 2001 ist etwas Merkwürdiges passiert – ein Manifest von und für Berlusconi, gemacht von seinem unglaublich intelligenten und effizienten Propagandachef, in dem Berlusconi als der „Präsident der Arbeiter“ tituliert wurde. Berlusconi als „Präsident der Arbeiter“ zu bezeichnen, das hätte wirklich eine witzige, eine ironisch-parodistische Erfindung von mir sein können. Denn er hat nichts von einem Arbeiter! Es wäre ebenso lächerlich, wenn ich mich als Kandidat der Arbeiter verkaufen würde. Ich bin genauso wenig ein Arbeiter. Das ist keine Schande, aber es wäre lächerlich, würde ich mich als Arbeiter verkaufen. Also habe ich gedacht: Eine beschimpfende, aggressive Ironisierung, die von mir kommen könnte, wird von einem effi­zienten Propagandabüro als Werbung benutzt. Das bedeutet, dass da eine andere Logik herrscht, die ich nicht mehr verstehe. Ich fühl’ mich wirklich ein bisschen out.

R.: Sollten Schriftsteller Ihrer Erfahrung nach wie Sie in die Politik gehen oder besser nicht?

M.: Natürlich muss ein großartiger Schriftsteller nicht zwingend ein guter Politiker sein. Ich glaube, das Interesse an Politik ist eine allgemeine Pflicht. Aktiv in der Politik engagieren soll sich allerdings nur, wer auch die technischen Qualitäten hat. Mit „technisch“ meine ich nicht nur, dass man weiß, wie man Reden hält usw. Die Politik ist ein großes Gebiet, man muss wissen, ob man diese Dinge tatsächlich beherrscht. Wenn ich aus edler Gesinnung jemanden operieren will, reicht es nicht aus, dass ich gute Absichten habe, aber keine Ausbildung. Politik hat mit Arbeitslosigkeit zu tun, mit Schule und Familie. Sie ist nicht dazu da, um eine zarte, edle Seele glücklich zu machen.

 

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