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Welt, Begriff, Sprache

Hinter Zahlen, Buchstaben, Linien und Flächen verbirgt sich eine aufregende Welt. Das zeigt der Künstler Heinz Gappmayr seit bald 50 Jahren. Für Quart hat er fünf Doppelseiten gestaltet. Vorweg eine An­­näherung an den „visuellen Poeten“, den „konkreten Dichter“ Heinz Gappmayr. Von Günther Dankl

1 – Heinz Gappmayr wurde am 7. Oktober 1925 in Innsbruck, wo er auch heute noch lebt und arbeitet, gebo­ren. Weit über die Grenzen Tirols hinaus bekannt, hat er seit dem Beginn der 60er Jahre ein Œuvre von erstaunlicher Konsequenz erarbeitet, das in der Kunst- wie Literaturgeschichte einen festen Platz einnimmt. Sein bisheriges Schaffen ist in Form von Arbeiten auf Papier oder Leinwand, Rauminstallationen, Wandarbeiten oder Mappenwerken erschienen und in zahlreichen eigenständigen Veröffentlichungen, vor allem in dem zwischen 1993 und 2005 erschienenen dreibändigen „OPUS · HEINZ GAPPMAYR“ publiziert.

Gappmayrs Arbeiten werden zumeist zur „Visuellen Poesie“ und „Konkreten Dichtung“ gezählt. Dennoch – oder gerade deshalb – sieht der Künstler Sprache nicht als Mittel zur Schaffung von Literatur und Poe­sie, sondern vielmehr als „Möglichkeit von Kunst“ (so der Titel des 1982 an der Städelschule in Frankfurt gehaltenen Vortrages). Aus diesem Grund bezeichnet er seine Werke lieber als Texte. Auch unter­lässt er in Bezug auf diese bewusst die Unterscheidung in bildende Kunst und Literatur, sondern unter­streicht in seinen theoretischen Ausführungen immer wieder den Zusammenhang seines Schaffens mit der bildenden Kunst, die für ihn von großer Bedeutung ist.
Von Anfang an nimmt Gappmayr an der sich interna­tional formierenden Bewegung der „konkreten Poe­sie“ teil. Rückhalt sucht er in erster Linie bei den Vertretern der zeitgenössischen „konkreten Kunst“, etwa bei der Gruppe um das im nahen München beheimatete Studio UND sowie jener um Antonio Calderara oder beim Kreis um das „Studio di Informazione Estetica“ in Mailand.
Sehr früh sieht er sich auch dem ästhetischen Anspruch des holländischen Künstlers und Begründers der „De Stijl“-Bewegung, Piet Mondrian, verpflichtet. In Mondrian sieht Gappmayr vor allem eine philo­sophisch-fundierte Suche nach neuen Formen, durch die das Streben nach Klarheit ausgedrückt werden kann. Mondrians strenger Reduktion auf die Elemen­te des Bildes entspricht die in den Texten Gappmayrs erfolgte Reduktion allein auf die konstitutiven Elemente der Sprache und der Schrift. Wichtig und vor allem für die internationale Rezeption seines Werkes bedeutend ist die enge Verbindung zur ameri­kanischen „Minimal Art“ eines Carl Andre, Sol LeWitt oder Donald Judd und der sich daraus entwickelnden Kon­zeptkunst der 60er und 70er Jahre. Mit der „Minimal Art“ teilt Gappmayr die Tendenz zur Objektivität, Entpersönlichung, Klarheit und Logik. Mit den Konzeptkünstlern verbindet ihn nicht nur die Verwendung von Sprache anstelle eines Kunstobjektes, mit ihnen teilt er auch die Erkenntnis, dass Begriffe etwas Selbständiges nicht nur auf Wirklichkeit verweisendes sind und dass bloß Gedachtem die gleiche Realität wie Gegenständen zukommen kann.

2 – Das „Vokabular“ von Gappmayrs künstlerischen Texten setzt sich aus Buchstaben, Begriffen und Zahlen sowie einfachsten grafischen Linien, Punkten oder Pfeilen zusammen. Ihn interessieren in erster Linie die Kategorien Ort, Zeit und Raum sowie die äußerste Reduktion auf die Pole der Farbigkeit Schwarz und Weiß, Zahl und Maß. Seine Texte kann man nicht „lesen“, man muss sie sehen. Seine Strategie ist die der Präsentation. So benutzt er den Gegenstand seiner Arbeiten – die Sprache – nicht argumentativ, sondern gleichsam präsentativ. „Der visuellen Poesie geht es um das Erscheinen von Ideen im Wortzeichen“, schreibt er darüber bereits 1968 (Heinz Gappmayr, Visuelle Poesie, 1968).

3 – Gappmayr hat die „Sprachform“ seiner Arbeiten einmal folgendermaßen beschrieben: „Isolierte Substantive, Verben, Präpositionen, Adjektive, Adverbien, Wortsilben. Keine oder nur angedeutete Syntax im gewohnten Sinne. Meist ohne Titel. Die einzelnen Wörter stehen für sich. Keine Metaphern“ (Heinz Gappmayr, Visuelle Dichtung, 1967).
Das bedeutet, es braucht keine grammatikalischen Kennt­nisse, um die Texte von Heinz Gappmayr zu verstehen. Wichtig für den Künstler sind allein die Begriffe, die für ihn etwas Allgemeingültiges und Ideenhaftes sind, sowie deren visuelle Erscheinung auf dem Blatt, der Leinwand oder der Wand eines Ausstellungs­raumes. Gappmayrs Texte verweisen somit nicht auf äußere Botschaften oder Informationen, vielmehr wird bei ihm die Sprache selbst zum Thema und Inhalt.
Dies zeigt sich bereits in der diesem Text folgenden ersten Arbeit „REDUKTION DURCH DISTANZ“.
Der von ihm selbst vorgegebenen „Sprachform“ folgend, evoziert der Künstler mittels Sprache ein visuelles Denkbild, ohne jedoch eine rein sprachliche Beschreibung zu bieten.

4 – Das kontrastierende Verhältnis von „schwarz“ und „weiß“ hat den Künstler von Beginn seines Schaffens an fasziniert. Bereits in der 1962 erschienenen ersten Veröffentlichung „zeichen“ (Reprint Innsbruck 2000) finden sich drei Texte zu „Weiß“ (WVZ 18 / 1962; WVZ 34 / 1962; WVZ 35 / 1962). Stand dort sowohl ihre in schwarzen Buchstaben geschriebene begriffliche Erscheinungsweise und die „Lesbarkeit“ selbst im Vordergrund, so kommen in den daraus resultierenden Farbtexten immer mehr die Kategorie der „Sichtbarkeit“ sowie die Aspekte des „Raums“ und der „Farbe“ selbst zum Tragen.
Farben beziehen sich immer auf sichtbare Gegenstände, sind selbst aber nicht sichtbar. Die Feststellung „WEISS IM DUNKELN“ stellt damit die Frage nach der Differenz zwischen der rein gedanklichen und rein visuellen Ebene ebenso wie jene nach der Gebundenheit und Sichtbarkeit sowie Ungreifbarkeit und Instabilität der Farbe selbst.
Ähnliches gilt auch für den Text „ROTE FARBE
ROTE FLÄCHE“. Nicht die Bezeichnung einer konkreten „roten“ Farbe oder Farbfläche ist der Inhalt dieses Farbtextes, sondern „die Differenz zwischen der Farbe als Sprache und als Wahrnehmungsrealität“ (Siegfried J. Schmidt, Sprache und Farbe, 1996). Ein vorgestelltes (begriffliches) „Rot“ sowohl als Farbe und auch als Fläche enthält alle Nuancen von Rot, während ein Rot, das man sieht, ein unverwechselbares, einzelnes Rot bedeutet.

5 – Den Gegensatz von „nichts“ und „etwas“ hat der Künstler schon 1972 erstmals thematisiert (WVZ 280 / 1972). Fast parallel dazu hat er ebenfalls zum ersten Mal in einem Text die örtliche sowie zeitliche Bewegung „von bis“ sowohl begrifflich als auch visuell zur Anschauung gebracht (WVZ 228 / 1970). „VON NICHTS ZU ETWAS“ bedeutet mehr als die Kombination dieser beiden Texte. Äußerst präzise oper­iert der Künstler darin mit jenen begrifflichen Unschärfen aber auch philosophisch-existenziellen Zuständen, die zu definieren den Künstler immer wieder herausfordern und die zu „lesen“ zugleich auch die Anforderung an den Betrachter bilden. „Es gibt im Werk Gappmayrs keine Darstellung im Sinne einer objektiven Realität, sondern jeder einzelne Betrachter entwickelt angesichts seiner Werke auf der Grundlage allgemeiner Begriffe eine subjektive Auffassung, die zu höchst persönlicher Vorstellung von Realität führt: die Realität des Gedachten“, schreibt darüber die Kunsthistorikerin und Galeristin Dorothea van der Koelen (Dorothea van der Koelen, Wort – Zahl – Zeichen oder: die Realität des Gedachten, 1999).

6 – Den Text „AUS DER NÄHE“ hat der Künstler gemeinsam mit dem Pendant „aus der ferne“ geschaffen. Beide Texte beinhalten örtliche und zeitliche Bestimmungen ebenso wie begriffliche und definieren den unbestimmten Grad des Übergangs, der sich je nach Betrachter aufs Neue konstituiert. „Aus der Nähe“ betrachtet lassen sich in dem seit 1962 geschaffenen Œuvre, das über 2600 Texte umfasst, immer wieder bestimmte Werkgruppen und Themenbereiche ausmachen. Neben den Kategorien Raum und Zeit sowie den Farben kommt den Zahlen / Ziffern bereits sehr früh eine immer wiederkehrende Bedeutung zu. Die seit 1972 auftretenden Zahlen-Texte sind entweder konkret mit Zahlen ausgeführt oder aber auch mit Linien, Flächen und Buchstaben, die auf Zahlen verweisen, gebildet.
Wie van der Koelen bemerkt, besitzen Zahlen so­-wohl den „Charakter von Quantitäten“ als auch den
von „Qualitäten“. In eine bestimmte Anordnung gebracht, bringen sie eine Folge oder Hierarchie zum Ausdruck oder lassen in Verbindung mit Sprachelementen „kognitive Konstellationen“ entstehen. In
„1 2 3 4 5 6 7 8 9 2 7 4 9 5 8 1 6 3“ folgen die Zahlen / Ziffern zunächst der geordneten Folge 1–9 und gehen dann in ein ungeordnetes, chaotisches System über. Wie so oft in Gappmayrs Konzeptkunst liegt auch hier die „Wahrheit“ zwischen der „Ähnlichkeit und Verschiedenheit“ der Zeichen und Begriffe. „Das macht die Zahlentexte so lesbar, irritierend und paradox wie das übrige meditative Spiel des Heinz Gappmayr in der Kunst“ (Siegfried J. Schmidt, Heinz Gappmayrs „zahlentexte“, 1992).

7 – Die Beschäftigung mit dem Begriff „ECHO“ geht bis in die späten 80er Jahre zurück. 1989 hat Gappmayr erstmals den Begriff in einem Text zur Anschauung gebracht (WVZ 846 / 1989). Als Verschmelzung des Wortes mit seiner Spiegelung ausgeführt, setzt der Künstler den „Widerhall“ selbst rein zeichenhaft in schwarzen Großbuchstaben auf den weißen Karton. In der in Quart erstmals veröffentlichten Form des Textes erscheint der Begriff viermal in Form eines Quadrates. Durch die untereinander gesetzte Wiederholung des Begriffs (zweimal richtig, zweimal verkehrt) gibt Gappmayr eine von links oben beginnende und nach links unten führende Leserichtung, durch die sich der Begriff dem Auge des Betrachters wie sinnlich wahrnehmbare Klangwellen präsentiert.
„ATEM“ ist einer jener Texte, die der Künstler bisher nur in einer singulären Form geschaffen hat. Bewusst halblaut gelesen, verweist der Text zum einen auf seinen Inhalt, nämlich das Ein- und Ausatmen. Zum anderen erscheint die rein visuell gesetzte Form des Zeichens äußerst abstrakt und von der Tätigkeit selbst losgelöst und dazu in einem Gegensatz, wenn nicht gar Widerstand zu stehen. Wie alle Texte Gappmayrs fordert er damit den Betrachter dazu auf, sich über die Beziehung zwischen den optischen Erscheinungen und dem, was durch diese Erscheinung bezeichnet wird, Klarheit zu verschaffen.

8 – Einen Text mit den örtlichen Begriffen „oben“ und „unten“ hat der Künstler in der Publikation „zeichen“ von 1962 erstmals veröffentlicht (WVZ 23 / 1962). Vermittelt Gappmayr darin mit den Begriffen eine von links oben nach rechts unten bzw. rechts oben nach links unten gehende Leserichtung, wobei sich die Begriffe in der Mitte spiegelverkehrt ineinander verwoben treffen, so kombiniert er 15 Jahre später das Begriffspaar mit grafischen Elemen­ten (Linien, die das Blatt auf- bzw. unterteilen), die sowohl die örtlichen Bestimmungen selbst als auch ihre Erscheinung /Anordnung auf dem Blatt unterstreichen und zugleich hinterfragen (WVZ 366 / 1978). „In der traditionellen Dichtung spielt die(se) Abhängigkeit zwischen Schrift und Begriff keine besondere Rolle. Ihr genügt es, daß ein Gedicht mit Hilfe der Schrift zugänglich gemacht werden kann. Die Anordnung der Worte dient hier im wesentlichen nur der besseren Lesbarkeit. Ganz anders in der visuellen Poesie. Ihre Entdeckung ist es, daß die Zeichen und alles, was zu ihnen gehört, den Begriff auf subtile Weise verändern. Entscheidend in der visuellen Poesie ist die Größe der Buchstaben, ihre Stellung auf der Seite, ihre Farbe, ihr Abstand voneinander, ihre Anzahl und die Leserichtung, immer im Hinblick auf den Begriff und seine Beziehung zum Sinnlich-Wahrnehmbaren, das ihn ‚be­zeichnet‘“ (Heinz Gappmayr, Visuelle Poesie, 1968).
In dem hier aufgenommenen Text „OBEN UNTEN“ setzt Gappmayr die Begriffe jeweils in weißer Schrift auf kleine schwarze Rechtecke, die er wiederum auf dem Blatt oben und unten platziert. Zugleich erscheinen die Begriffe aber auch wie aus dem schwarzen Recht­eck geschnitten bzw. aus der weißen Fläche des Blattes gebildet. Gappmayr operiert damit nicht nur mit der örtlichen Anordnung von oben und unten, sondern bringt auch die damit verbundenen Begriffe „auf“ und „unter“ ins begriffsphilosophische und zeichenhafte Spiel seiner visuellen bzw. konkreten Texte. „In der konkreten Poesie erscheint – paradox gesagt – das Erscheinen von Etwas, die Identität und zugleich Differenz von Zeichen und Begriff, das Kate­go­riale, die Begrifflichkeit und das Ideenhafte des Denkens und der Zeichen, als das Schöne selbst“ (Heinz Gappmayr, Die Poesie des Konkreten, 1965).

9 – Die Auseinandersetzung mit dem Begriff „sichtbar“ nimmt im Werk Gappmayrs eine zentrale Rolle ein. Suchte der Künstler noch zu Beginn die Kategorie der „Sichtbarkeit“ durch das Auslassen einzelner Buchstaben oder Buchstabengruppen des Begriffs „sichtbar“ zu machen, so häuft sich ab den 90er Jahre die Zahl jener Texte, in denen Gappmayr die Erfahrung der „Sichtbarkeit“ an abwesende, lediglich als Idee oder Vorstellung existierende Gegenstände oder Ereignisse bindet. „Noch nicht sichtbar“, „nicht mehr sichtbar“ lautet daher auch konsequenterweise ein als Diptychon ausgeführter Text (WVZ 1512 /  1992), in dem der Künstler die der „Sichtbarkeit“ zugrunde liegende räumliche wie zeitliche Bestimmung thematisiert.
Der Text „NUR JETZT SICHTBAR“ ist eine Modifikation einer 1993 entstandenen Arbeit (WVZ 1429 / 1993), in welcher die allein in der Gegenwart existie­rende „Sichtbarkeit“ zusätzlich durch ein in die Mitte gesetztes kleines schwarzes Quadrat unterstrichen wird. Die hier aufgenommene Version stellt eine weitere Verknappung – und damit Radikalisierung dar. In ihr manifestiert sich jene „Einheit von Ideen und Zeichen“, die der Künstler als die Wurzel aller konkreten Poesie betrachtet.
Von Alois Riegl, einem der bedeutendsten Vertreter der Wiener Schule der Kunstgeschichte, stammt der Begriff des „Kunstwollens“. Mit diesem Begriff verband Riegl das „Plädoyer, die Kunst der eigenen Zeit ebenso wie die vergangener Zeit zu achten“ (Andrea Reichenberger, Riegls „Kunstwollen“. Versuch einer Neubetrachtung, 2003). Es handelt sich dabei also um eine Forderung, deren allgemeine Anerkennung und Achtung verlangt bzw. erwartet wird: „Nicht wir sind es, die der Kunst zu sagen hätten, was sie zu wollen habe, sondern die Kunst ist es, die uns in ihrem ‚Stil‘, wie sie die Dinge darstellen will, etwas zu sagen hat.“ Gappmayrs „Kunstwollen“ ist es, nicht die Welt oder Begriffe mit den Mitteln der Sprache zu beschreiben, sondern visuelle Denkbilder zu erzeugen, Kategorien zu visualisieren und somit mit elemen­taren Mitteln das Verhältnis von Begriff und Zeichen vor Augen zu führen. „Nur (noch) jetzt sichtbar“ sind daher nicht nur die nachfolgenden Texte des Künstlers im Moment ihrer Betrachtung, sondern auch die­se einführende Annäherung, die im Moment des Umblätterns aus dem Sichtfeld des Lesers entschwindet.

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