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Manche mögen’s groß

Die Famile Wierer wurde reich mit Dachplatten aus Beton. In ihrem Heimatort Kiens im Südtiroler Pustertal errichteten sie eine Villa wie aus einem Film. Drehbuchreif auch die Gerüchte, die im Dorf die Runde machten: Die „Wiererischen“ zünden sich die Zigaretten mit 100.000-Lire-Scheinen an! Happy End aus­geschlossen. Logisch. – Sandra Unterweger über Aufstieg und Fall des Industrieadels auf dem Dorfe. Mit einer Fotografie von Günter Wett.

„Die Villa hat enorme Dimensionen gehabt. Ein Hallenschwimmbad und unten daneben in so einer gro­ßen Wanne ein Bananenbaum, der durch die Öffnung neben dem Wohnzimmer hinauf in den Wintergarten gewachsen ist, dort hat man nur den oberen Teil des Baums gesehen.“ Ein Hallenschwimmbad in einer Privatvilla in Kiens im Südtiroler Pustertal, 1970. Hollywood? „Hollywood, ja, das haben manche behauptet“, sagt Rudolf Wierer, der Besitzer der Villa, lapidar. Schwimmen kann er in seinem Pool heute nicht mehr.

Die Architekturzeitschrift rb-Illustrierte in Inns­bruck brachte im Oktober 1972 eine ausführliche Fotorepor­tage über die vom Südtiroler Architekten Franz Prey erbaute Wierer-Villa: weitläufige Räume mit flauschi­gen Teppichböden, großflächige Fensterfronten, eine Diele mit einer ins Untergeschoß führenden Wen­deltreppe, eine in den Boden eingelassene Badewanne in einem mit Teppichboden ausgelegten Badezimmer, noble schwarze Armaturen unter einem überdimensionalen Spiegel, ein offener Kamin mit Grillvor­richtung im Wohn- und Esszimmer, die großzügige Sitzcouchgruppe 30 cm tiefer gelegt als der restliche Raum. Großzügig, das ist auch das Wort, das Rudolf Wierer verwendet, um zu erklären, wie er und seine Frau sich diese Villa in der Planungsphase vorgestellt haben. „Wir haben dem Franz Prey ein paar Sachen gezeigt. Und natürlich haben wir ihm großzügige Sachen gezeigt, so muss man das sagen! Dann hat er ge­merkt, dass wir eigentlich schon was Schöneres, was Besseres, was Großzügigeres wollen. Die Villa hat wie gesagt enorme Dimensionen gehabt.“
Das will man Rudolf Wierer angesichts der Hochglanzfotografien gerne glauben.
„Deswegen hab ich’s Ihnen gezeigt.“
Die Fotos des Hauses sind allerdings das Einzige, was ihm geblieben ist. Denn die Villa, aus der Rudolf
Wierer und seine Familie 1987 ausziehen mussten, wurde 2005 abgerissen. Damals in den 1980ern muss-
te Rudolf Wierer erfahren, was es heißt, tief zu fallen. „In materieller Hinsicht ist das der absolute Fall gewesen, wir haben alles verloren, nicht das meiste, alles. Wenn du vom eigenen Haus gehen musst, dann ist es so.“

Abgebröselter Mörtel, kleine Tapetenfetzen über die Teppichböden verstreut, lose Kabel, eine dicke Staubschicht auf der Essbank und wild wucherndes Unkraut vor dem Haus. So präsentiert sich die Villa nach vielen unbewohnten Jahren kurz vor ihrem Abriss auf den Bildern des Innsbrucker Fotografen Gün­ter Wett. „Wie eine Bruchbude“, sagt Rudolf Wierer. Er kann nicht verstehen, wie man „so lange wartenkonnte, bis das so wird wie eine Bruchbude.“ Denn diese Villa, „das waren andere Dimensionen. Des­wegen hab ich Ihnen ja die Bilder in der Zeitschrift gezeigt!“

Andere Dimensionen hat auch die Geschichte des Rudolf Wierer – und damit die Geschichte der Betondachplattenfirma der Gebrüder Wierer. „Wir haben 1968 / 69 in 18 Monaten drei Werke gebaut, auf der grünen Wiese aus dem Boden gestampft: mitten in den Reisfeldern drüben im Piemont, in Pavia, mitten in einer Wiese in Curtarolo bei Padua und mitten in einer großen Wiese, zehn Hektar groß, in Rom. Vom Boden herausgestampft in 18 Monaten!“ In weite­r­er Folge entstanden in rasanter Geschwindigkeit ins­gesamt 15 Werke für Betondachplatten in ganz Italien, von Kiens bis Sizilien. Das war Anfang der 1980er-Jahre, der Höhepunkt des Wierer-Imperiums. So schnell der Aufstieg der Firma „Tegole Wierer“ erfolgte, so schnell kam auch der Fall. Eine gute Story: vom Bergbauernbub zum Millionär und zum Konkurs.

Als drittes von zehn Geschwistern war für Rudolf Wierer keine Arbeit am väterlichen Hof, also übernahmen er und sein Bruder Hermann in einem Stadel im Dorf ein kleines Baustoffgeschäft mit zwei Handschlagtischen zur Herstellung von Betondachplatten. „Man hat den Mörtel noch mit der Schaufel in einem Holztrog gemischt. Mein Bruder hat dann gemeint: Kümmere dich doch darum, ob man das nicht automatisieren kann.“ Von automatischen Betondachsteinanlagen erfuhr Rudolf Wierer aus der deutschen „Beton-Stein-Zeitung“. „Da drin hab’ ich halt geblättert und da ist ein Inserat gewesen von einer gewissen Firma Schlosser & Co., Michlbach, Nassau. Und denen hab’ ich auf meiner alten Schreibmaschine einen Brief geschrieben: Ich möchte ein Angebot haben für eine Anlage, um Dachplatten zu machen. Die haben vollautomatische Betondachsteinanlagen angeboten, mit denen man alle Farben herstellen kann, und und und … wie so ein Inserat eben ist!“

Das Angebot erreichte Kiens.
„Allerdings war für uns der Betrag … das waren 100 Millionen Lire allein für die Maschinen! Dann brauchst du noch einen Grund, du brauchst Wasser und Strom und Telefon und auf den Grund musst du eine Halle draufbauen und so weiter. Und wir haben nicht einmal fünf Millionen gehabt!“
Wie der Kauf trotzdem gelungen ist? „Ich bin auf die Mailänder Messe gefahren, weil ich gewusst hab’, dass dort der Herr Schlosser manchmal persönlich zu sehen ist. Und beiläufig bin ich bei dem Stand vor­beigekommen, als ich gesehen habe, dass der Herr Schlosser da ist. Und ich bin hin und der Herr Schlosser hat mich von der Korrespondenz gekannt. Der Schlosser war ein reiferer Mann und ich hab’ mit dem geredet und hab’ gesagt: Dachplattenmaschinen tät’ ich schon kaufen …“

Der damals knapp 25-Jährige lud Wilhelm Schlosser kurzerhand auf den väterlichen Bergbauernhof ein: „zu Speck und Brot und einem Glasl Wein und fertig“. Und der Herr Schlosser unterstützte Rudolf Wierer bei der Anschaffung der ersten automatischen Betondachsteinanlage: Wierer musste lediglich eine Anzahlung aufbringen. „Jetzt war das Problem … es waren natürlich mehrere Probleme, aber das erste war, die zehn Millionen für die Anzahlung aufbringen.“ Das konnte schließlich mit der finanziellen Hilfe des Vaters bewerkstelligt werden. Die Summe für den Kauf eines Grundstückes in Kiens stotterten die Brüder Wierer ratenweise ab, nicht ohne einen Teil des Grundstückes um einen höheren Preis an einen Mitbieter zu verkaufen. „Und der hat aber gleich zahlen müssen! Damit habe ich vier weitere Millionen gehabt.“ Dazu kamen private Sponsoren und die Unterstützung vom Land Südtirol – aber auch ungewöhnliche Geldquellen zapfte Rudolf Wierer an: Der damalige Brixner Bischof Joseph Gargitter wollte Südtiroler Firmen unterstützen, um Arbeitsplätze zu schaffen. „Und dann hat er gesagt, er tät’ gern einmal ein Gespräch führen. Da bin ich zu ihm hingegangen, hab ihm das dargelegt und erzählt und scheinbar hat ihm das eingeleuchtet. Er wird von sich hören lassen! Es hat nicht lange gedauert, da hat er mich angerufen und gesagt, ich soll zum Finanzminister der Diözese. Da bin ich zu dem hin und der hat gesagt, der Bischof hat gesagt, er soll mir 20 Millionen aushändigen.“

1963 verlassen die ersten Platten das Werk.
„Die erste Zeit haben wir schon herumgerauft. Ich hab’ da einfach eine Kartei mit den Namen von den Mitarbeitern gehabt und wenn einer 30.000 Lire zu bekommen gehabt hat, hab ich gefragt: Wie viel musst du haben, dass du überleben kannst? 10.000 oder 5.000 oder fast alles? Weil er zum Beispiel Haus gebaut hat oder eine größere Familie hat oder seine Kinder irgendwohin studieren gehen. So habe ich mir jeden Mann erhandelt! Das hat gepasst für die Mitarbeiter und es ist kein einziger weggegangen. Heutzutage undenkbar!“

Drei Jahre später errichten die Wierer-Brüder ihr zwei­tes Werk in Desenzano. Die Investitionssumme von 400 Millionen Lire wird in nur einem Jahr wieder erwirtschaftet. So geht es weiter. Bis 1979 die Firma Wierer Marktführer auf dem Dachplattensektor in Italien ist. Dann der folgenschwere Fehler. Wierer kauft sich 1979 in die Tondachziegel- und Baumaterialienfirma Valdadige in Verona ein. Was die Brüder aus dem Pustertal zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: die Zahlen bei Valdadige sind geschönt, die Firma steckt tief in den Schulden. 1983 muss Wierer Ausgleich anmelden. Alles ist verloren. „Man kann ja fallen, soll aber nicht liegen bleiben. Ich habe dann wieder eine Firma gegründet, danach.“
Danach.
Davor verkehrte Rudolf Wierer in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen in Italien und Deutschland, hatte Kontakte zur Managerriege führender Firmen in England, Holland und Deutschland, bezog öffentlich Stellung zur wirtschaftlichen Lage Italiens, sein Name war in Wirtschaftszeitungen in ganz Italien zu finden, er war Bürgermeister von Kiens, reiste um die ganze Welt, war Gast in den besten Hotels. „Damals haben wir Geld auf die Seite getan. Das erste Haus habe ich zwei Jahre nach dem Heiraten hergegeben, wir sind in Miete gegangen und haben die Villa gebaut.“ Und nicht irgendeine Villa. Ein Vorzeigemodell für den modernen Wohnbau hat der gebürtige Innichner Architekt Franz Prey für die Familie Wierer in Kiens geschaffen.

Das Traumleben in der Traumvilla endete nach dem Ausgleich der Firma. Der Auszug aus der Villa war „kein schöner Tag, das ist schon klar“. Doch Wierer hatte bald neue Pläne. „Ich habe ein anderes Haus gekauft, in dem wir 17 Jahre gewohnt haben. Ein schönes Haus, das ich wieder mit Schulden gekauft habe. Und irgendwann kommt dann der Nachbar, ein Hotelier, und sagt: Ich bräuchte dein Haus! Das Grundstück, wo unser Haus stand, hat nämlich davor seinem Vater gehört. Du bist gut, sag ich, wo soll ich dann hingehen?“ Schließlich hat sich Rudolf Wierer ein paar hundert Meter Luftlinie weiter nördlich in Kiens sein inzwischen viertes Haus gebaut, in dem er seither mit seiner Familie lebt.

 

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