zurück zur Startseite

Ausfahrt Autobahn

Wenn man ein Land nur von seinen Rastplätzen aus kennen lernt – wie wäre das? Martin Fritz besucht entlang der Inntal- und Brennerautobahn sämtliche Autobahnraststätten Tirols.

Ich mag Raststationen. Wie fast alle abgeschlossenen Versorgungssysteme beruhigen sie mich durch die Reduktion der Optionen. Zuverlässig aneinander gereiht gehören sie zu den Fixpunkten von An- und Ab­fahrt und haben längst schon ihren Platz in der regionalen Nahversorgung gefunden. Ohnehin unfähig zum erholsamen Wochenendurlaub war der Entschluss schnell gefasst: ein Aufenthalt in Tirol ohne die Autobahn zu verlassen, reduziert auf die Angebote der Raststationen, von denen gleich neun Stück an der 114 Kilometer langen Strecke zwischen deutscher und italienischer Grenze zu finden sind.

Freitag, 16 bis 18 Uhr
Konnte man sich bei der Vorausbuchung noch in Fantasien über obskure Schlafplätze für übernächtige Highwaykapitäne ergehen, empfängt mich das Motor-Hotel an der Raststation Angath Nord (bei Kilometer 14,2 der Inntalautobahn) mit allem, was man mit einem Autobahnhotel eben nicht assoziiert. Der Gratis-Willkommensapfel liegt beim Empfang bereit, die Tageskarte strotzt vor Vitaminen und die Rezeptionistin begrüßt im Dirndl. Alle Elemente führen in die aktuelle Frische & Ländlichkeit-Ideologie ein, die das Match um die Gäste an der Autobahn umso stärker prägt, als sich Rosenberger nach Jahren des Beinahe-Monopols nunmehr in Gestalt der Marke Land­zeit einer aggressiven Konkurrenz aus der eigenen Familie gegenübersieht. Während rechts die pausierenden Autobahnnutzer in Richtung Restaurant strömen, zweige ich nach links zu meinem Zimmer ab. Der Wunsch nach einem ruhigen Zimmer wäre mir angesichts des Standorts unpassend erschienen, doch ist tatsächlich kaum etwas von der nur 50 Meter entfernten Autobahn zu hören. Schon die ersten Stunden synchronisieren den Besucher mit dem dominanten Takt: Neben dem Basso Continuo des dahin ziehen­den Verkehrs bestimmen die zügigen Verrichtungen aller Beteiligten den Rhythmus. Abstoppen, Befüllen (den Tank und den Magen) und Entleeren (die Blase). Dieser Dreiklang liegt allem zu Grunde. Das ominöse Wort vom Zeitverlust aus den Verkehrsnachrichten klingt noch nach, und die Angst vor diesem elementaren, auch Einstein noch nicht bekannten Einschnitt liegt in der Luft. Kaum gerät eine Person ins Blickfeld, ist sie auch schon wieder verschwunden. Warteschlangen vor den Toiletten lösen sich ebenso zügig wieder auf wie sie gekommen sind, die benötig­ten Stärkungen werden zusammengerafft und schnellen Schrittes geht es zurück. Mit dem allgegenwärtigen Ton des Anstartens findet für die Abfahrenden das Intermezzo seinen Abschluss und beginnt an anderer Stelle sogleich wieder.

Zurück im Hotel hat sich das Bild scheinbar nicht verändert, doch der grammatikalische Unterschied erhellt die Situation: Der an derselben Stelle direkt vor dem Hotel stehende Bus ist nicht derselbe wie vorher, aber der gleiche; die Kleinfamilie am selben Tisch im Restaurant ist nicht dieselbe, deren Kind sich noch vor zwei Stunden auf „die Schoko“ gefreut hat, doch die Kellner sind dieselben, die wieder in atemberaubender Geschwindigkeit zur Stelle sind. Ich widerstehe dem Hirsesoufflée und nehme Tiroler Gröstl.

Freitag, 18 bis 22 Uhr
Bald nehme ich nur mehr Abweichungen im genorm­ten Leitsystem wahr: Am Hinweisschild zur Station Weer (Süd) findet sich statt der sonst allgegenwärti­gen dampfenden Kaffeetasse ein altmodisches Weinglas. Es kann vermutet werden, dass diese Einladung auf ein alkoholisches Getränk an Autofahrer aus der Mode gekommen ist, und daher sukzessive ersetzt wurde. Bei genauerem Hinsehen kann noch die übermalte Beschriftung eines Wienerwald-Restaurants gesehen werden, die aus einer ähnlichen Zeit wie das Weinglas stammt. Statt Wein wird es ein Croissant im Petit Bistro der Tankstelle, bevor es am Tourest vorbei wieder auf die Straße geht.

Radio Tirol bietet eine passende Untermalung mit Volkstümlichem, das sich bald in den CD-Ständern der Tankstellenshops wiederfinden wird. Die Ladiner warnen mit Dunkle(n) Augen so klar wie Kristall vor den außerehelichen Verheißungen auf Reisen, während danach ein dünnes Stimmchen folgendes verspricht: „Du kannst alles von mir haben, du kannst alles mit mir tun … aber liab musst du sein …“. Der in Lokalradios mittlerweile unvermeidliche Dialekt des Sprechers sorgt für den Ortsbezug, der dem Auto­bahnreisenden abgeht. Dennoch (oder gerade deswegen) fällt beim nächsten Stopp neben den zahllosen Zillertalern und Südtirolern die einzige Jonny Cash-CD ins Auge, die mir helfen wird, der weiteren Fahrt mit „Blue Train“ oder „Give my best to Rose“ etwas Weite und Sehnsucht abzugewinnen.

Wenn es den Harndrang nicht gäbe, hätten ihn die Manager von Raststationen erfunden, und wenn Sie saubere Toiletten suchen, fahren Sie auf die Autobahn. „Diese WC Anlage wird stündlich gereinigt und überprüft. Sollten Sie dennoch Anlass zu Beschwerden haben, wenden sie sich an die Mitarbeiter.“ Diese und ähnliche Hinweise finden sich mittlerweile an jeder Tür der WC-Anlagen in den größeren Raststationen und kennzeichnen das Herzstück der neuen Wohlfühlstrategie. Raststationen sind WC-Anlagen mit Zusatzangeboten. Schon längst sind sie nicht mehr an die Rückseite schäbiger Tankstellen verbannt, sondern befinden sich gut beschildert, über breite Treppen erreichbar, in den weitläufigen Souterrains der Rasthäuser. Blitzblank geputzt, ständig überwacht und hell sind sie das Kraftzentrum der Betriebe und ihre geheime raison d’être. Die Bezahlungsfrage ist mit einer Mischung aus früherer Burgtheatergarderobe („Was Sie gerne geben“), Vernunft­argumenten („Wenn Sie Interesse an der Sauberkeit haben …“) und kaum umschriebener Erinnerung an die prekäre Lage des – meist migrantischen – Personals gelöst („Dieser Service wird ausschließlich aus Ihren Beiträgen finanziert“).

Die gängigste Dimension hier ist die der „Busladung“ und zu jeder Tages- und Nachtzeit ist es das gleiche Schauspiel: Die 55-Sitzer spucken ihre Ladung aus, die sich zum Teil direkt aufs WC begibt, zum anderen linkische Dehnungsübungen betreibt, den Imbiss aufsucht oder raucht. Italienische Jugendliche, deutsche und heimische Pensionisten, Sportvereine oder Chöre – sie alle folgen der Choreographie des Zwischenstopps: etwas gelähmtes Aussteigen gefolgt von Auflockerung und Anschwellen der Lautstärke. Kontaktaufnahmen mit den im Bus weiter entfernt Sitzenden werden nachgeholt und für eine kurze Zeit stabilisiert sich der Austausch der Großgruppe, bevor er sich durch ängstliche Blicke in Richtung Bus wieder auflöst. Die meist an ihrer Krawatte identifizierbaren Fahrer (wieder so ein Zeichen für den diszipliniert durchgehaltenen Imagewandel der verkehrsnahen Dienstleister) setzen sich ans Steuer, um auf den unvermeidlichen Nachzügler zu warten, der doch noch die zweite Zigarette rauchen musste oder erst nach dem Getränk erkannt hat, dass der Besuch der Toilette der Hauptgrund für den Zwischenstopp gewesen ist.

Freitag, 22 bis 24 Uhr
Es ist das Nebeneinander von Gruppengeselligkeit, Familienidyll und Einsamkeit, das Raststationen mitten in der Dynamik eine spezifische Melancholie verschafft. Jede Ausformung moderner Mobilität existiert parallel und damit auch die Möglichkeit, den eigenen Zustand mit dem der anderen in Beziehung zu setzen. Das Vater-Sohn-Gespann im Campingmobil bereitet sich ein Abendessen zu und wird wohl die Nacht an dieser eher düsteren Station verbringen. Die Gruppe junger Männer – wie immer eine Spur zu laut, um wirklich cool zu sein – hat wohl „noch etwas vor“. Am besten scheinen die Stopps immer den ganz jungen Paaren zu gefallen. Sie verströmen am ehesten die Verheißungen des Wegfahrens. Das angestrebte Ziel lässt ihre Augen glitzern. Der Rückzug zu zweit, die Intimität der vielen gemeinsamen Stunden im Auto und die Befriedigung über das geglückte Entkommen aus dem Alltag kennzeichnen ihre Präsenz. Umarmungen und versonnene Posen unterscheiden sie von den routinierteren Paaren, die ihre Arbeitsteilung (er tankt und sie kauft ein, oder sie zahlt und er überprüft das Fahrzeug) längst gefunden haben, oder den Familien, für die der Aufenthalt nur eine weitere Etappe im beständigen Management des fragilen Gleichgewichts von Kinderwünschen und Fahrtfortschritt bedeutet.

Ob kindliches Quengeln oder väterliches Nikotindefizit: Die Angebote an den Autobahnen sind Musterbeispiele für die Orientierung an klar umrissenen Ziel­gruppen und deren aus der Reise folgenden Bedürfnissen. Der Konsument an der Autobahn muss der Traum jeder Marketingabteilung sein, da er schon mit standardisierten Defiziten an die Regale tritt und es nur mehr darum geht, ihn vor das Produkt zu lotsen, das zur Lösung des Problems dorthin platziert wurde: Ausgetrocknet greift er zum Drink, hungrig zum Snack oder verirrt zur Straßenkarte. Doch handelt es sich bei der Trias von Essen, Trinken und Straßenverkehr nur um die erste, offensichtlichste Angebotsgruppe – auf einer zweiten Ebene wird auf Missgeschicke und plötzliche Zwischenfälle reagiert: Nähzeug, Werkzeugsets, Toilettenartikel, Regenmäntel, Taschenlampen, Reservekanister … Hier gilt die Regel, dass verkauft wird, was in alten Zeiten vielleicht noch als Hilfsbereitschaft an der Straße erwartbar war. Die nächste Abteilung könnte mit Bord-Entertainment bezeichnet werden und beinhaltet das weite Feld der Kinderberuhigung und -belohnung (Spielzeug, Micky Mouse-Hefte, Süßigkeiten, Magazine etc.) und die komplementär dazugehörigen Produkte für Erwachsene.

Samstag, 14 bis 18 Uhr
Nur die Angebote an der Europabrücke erweitern das gängige Sortiment um zwei Optionen aus der Kategorie der Heilsversprechen: Ein 192-Meter-Bungee-Sprung führt nach unten, während die am Hügel liegende Kapelle die Verbindung zum Allerhöchsten verspricht. Der gemeinsame Nenner beider Angebote liegt in der durch die katholische Dialektik von Schuld und Sühne so tief in uns verwurzelten Überzeugung, dass jede Form von Glück und Zufriedenheit nur durch vorhergehende Demütigung oder Anstrengung erlangt werden kann – weswegen wir für den kleinen Aufstieg von der eigentlichen Station auch zuverlässig belohnt werden: und zwar durch einen spektakulären Durchblick in der Kapelle. Dient im herkömmlichen Kirchenbau der Altar als Fluchtpunkt der Blicke und als Hintergrund für den Priester, bietet hier der Fensterdurchbruch die Aussicht auf die Europabrücke und den Verkehr, der als fließend meditative Bewegung die Liturgie ergänzt. Ihm könnte auch von allen gemeinsam gehuldigt werden (der Priester müsste sich nur umdrehen). Diese Erweiterung religiöser Möglichkeiten steht im Einklang mit dem genius loci und einer anderen sympathischen Abweichung zum kirchlichen Normalprinzip von Dominanz und Unterwerfung: In dieser Kapelle sind die Gläubigen in einer Arena einmal höher positioniert und schauen auf den Altar herab. Hier muss zur Abwechslung einmal der Pfarrer die Nerven behalten, wenn er – mit dem Abgrund im Rücken – auf die schräg über ihm angeordnete Gemeinde blickt.

Ich ziehe wieder die Niederungen vor und wähle das zwischen Markt-Bar und McDonald’s gelegene Res­taurant, um den x-ten Espresso zu mir zu nehmen. Dass es auch edler ginge, beweist ein Paar am Nebentisch, das sich mit einem Glas Sekt zuprostet und so intensiv aufeinander eingeht, dass man ihm den sofortigen Gang zur Kapelle zutrauen würde. Nur mehr das leise Brummen im Hintergrund erinnert an den Ort des Geschehens, der dem Nicht-Wipptaler zumin­dest bisher nicht als idealer Ort für das romantische Rendezvous eingefallen wäre. Nebenan im Fast-Food-­Tempel hat die romantische Annäherung schon zu konkreten Ergebnissen geführt, ist doch der architektonisch nicht reizlose McDonald’s mit Panoramafenster unbestritten der beliebteste Ort für Eltern und Kinder auf der Durchreise oder aus der näheren Umgebung.

Samstag, 18 bis 23 Uhr
Irgendetwas kippt. Ab der Europabrücke wollen die Autofahrer scheinbar nur mehr weiter und die Angebote werden spärlicher. Meilenweit entfernt wirkt hier schon die Inntalstrecke, an der noch versucht wird, den Besuchern qualitätsvolle Abwechslung zu vermitteln. Mit dem Übergang auf die Brennerautobahn kommen zwar Elemente von Italianitá in die Angebote, wie um die nahenden Reiseziele vorwegzunehmen, und folgerichtig kündigt der Hinweis auf die nahe Station Schönberg noch eine Pizzeria an, doch mittlerweile prangt www.werkzeuge.cc in Leucht­schrift vom Dach des neben der Tankstelle stehenden Baus, der – wie alles hier – schon „bessere Zeiten“ gesehen hat.

Wie oft an der Brennerstrecke sind Zeichen des Niedergangs zu bemerken. Damit wird Schönberg jedoch schon wieder reizvoll, da es als pure Tankstelle mit wenigen Snacks, einer lauten Umgebung und wenigen Parkplätzen nichts von jener Frische-Ruhe-Kinderspiel-Propaganda zu bieten hat, die die großen Plätze entlang des Weges prägt. Die gegenüber dem Reisebeginn um 10 Grad gesunkene Temperatur tut ihr Übriges. Kein Paar herzt sich hier und kein Kind verlangt die Prämie für stundenlanges Stillsitzen. Nur ein einsamer junger Mann steht rauchend neben einem LKW und mustert mich aufmerksam. Ich wende mich ab, um keine Romantik aufkommen zu lassen, und stattdessen erschließt sich mir der Ausgangspunkt für eine Kurzwanderung der suburbanen Sonderklasse: Eine Treppenkonstruktion führt auf das begrünte Dach der Autobahn und bietet – links und rechts durch Maschendrahtzaun gesichert – einen Fußwegkorridor nach Schönberg mit Aussichten auf den vollständig von Auf- und Abfahrten und der Autobahn eingekesselten Ortsteil. Ein Fluchtweg par excellence, der als Drehort für eine Verfolgungsjagd im B-Movie noch seiner Entdeckung harrt. Die mörderisch gefährliche Ausfahrt aus der Station direkt in die rechte Fahrspur rundet das Erlebnis ab. Hier hat der gängige Landzeit- und Marktrestaurant-Euphemismus keine Chance: Der Verkehr dröhnt durch die Unterführung. Immerhin – hier wäre ein Ausweg mög­lich gewesen, aus der immer stärkeren Verengung, die Landschaft, Körper und Geisteszustand mittlerweile prägen.

Das System Autobahn zog mich schnell in seinen Sog. Wie viele abgeschlossene Systeme vermittelt es intra-uterine Qualitäten. Die Bedürfnisse, die es weckt, werden in unmittelbarer Nähe angeboten, und die dadurch mögliche vollständige Befriedigung weckt den Wunsch nach mehr. Doch ab Schönberg erweitert sich leider weder Horizont noch Sortiment. Was im Inntal mit zahlreichen Verheißungen beginnt, wird auf den letzten 20 Kilometern in Richtung Brenner wieder auf die Grundelemente reduziert. In Matrei kennzeichnet das Nebeneinander der Schilder von Agip (Espresso fantastico!) und Stroh Rum (The Spirit of Austria) die grenznahe Übergangszone, während der an der Gegenfahrbahn platzierte Autogrill für den letzten Hauch von Süden für die wieder nordwärts Ziehenden sorgt. Ich fahre im Schneetreiben noch die paar Kilometer an die Station Brennersee, ziehe mich als einziger Besucher mit den erworbenen in- und ausländischen Zeitungen in das VIVA-Café zurück, nippe an der heißen Schokolade – und habe es nett. Doch die Dosenhalterungen neben den Pissoirs der Station Brenner/Gries bringen es auf den Punkt: Rasten auf der Autobahn besteht trotz aller Versuche, daraus mehr zu machen, primär aus Tanken, Trinken und Pissen.

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.