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Der Schnee und sein Betrachter

Von Andreas Maier

Es geht von Innsbruck über Landeck weiter mit dem Bus nach Pians, Pians Gurnau, Pians Silvretta, dann nach Kappl, Kappl Dorf, Kappl Höferau, Ischgl, Ischgl Silvretta bis hin zu Galtür Paznaunerhof, Galtür Edelweiß, Galtür Postamt. Ich notiere ab Landeck: Was zuerst auffällt, ist das Mädchen mit dem Sabberfaden beim Einstieg in den Bus. Lange Haare, verwachsenes Gesicht, der Sabberfaden entsteht langsam, weht nach hinten und legt sich über die Schulter. Wirkt glücklich, bleibt nur bis Pians Abzweigung Silvretta. Der Busfahrer hört: „Nur eine Nacht Liebe / Nur eine Nacht Liebe mit dir“. Die Nachrichten sprechen von der Bürgermeisterstichwahl in Mutters. Es ist Dienstag, der fünfte März. Ab der Station See im Paznaun ist eine deutliche Anballung von Skifahrern und Schulbuben bzw. -mädchen merklich. Zwischen den (deutschen) Skifahrern und den (einheimischen) Schulmädchen kommt es zu den erwartungsgemäßen, einseitigen Interferenzen. Am Straßenrand, im Schnee, steht ein einsamer Tramper mit einem Schild: Innsbruck. Er will raus hier aus dem Tal, wirkt verzweifelt … Die erwartungsgemäßen „Interferenzen“: Die Skifahrer gucken den nach unten guckenden Schulmädchen hemmungslos in die Gesichter, worauf die Mädchen immer mehr nach unten gucken. Mann, rufen zwei beim Einsteigen, wassen das für ne Stimmung hier. Iss ja gar keine Stimmung hier. Iss ja gar nix los hier. Setzen sich und gucken sofort die Mädchen an. Habter grad Schulaus, was, fragt einer grinsend (fickificki), die Antwort bleibt verschüchtert. Solche Demütigungen müssen die jungen Paznaunerinnen im Zuge des Massentourismus also täglich ertragen. (Ich lese ein Ortsschild: Quadratsch.)

Ausstieg Postamt. In Galtür ist alles weiß. Ein weißer Ort in der Sonne, umgeben von eher vereinzelt dastehenden weißen Bergen. Man kommt sich vor wie im Tal, ist aber auf etwa eintausendfünfhundert Meter Höhe. Man lernt mit der Karte, indem man sich einmal um die eigene Achse dreht und dabei die Karte in den jeweils richtigen Winkel bringt: Gorfenspitze, Hochnörderer, Gaisspitze, Grieskopf, Fädnerspitze, Ballunspitze. Zur Ballunspitze windet sich etwas hinauf, was auf Entfernung wie eine Spur Dreck aussieht. Dort also ist das Skigebiet, wo sie alle hinwollen. Nochmal Namen: Klein-Zeinislift, Alpkogellift, Birkhahnbahn, Ballunspitzenbahn. Das ist nur der Südteil. Im Norden kann man hinauf mit der Breitspitzbahn, dem Kopsseelift I und dem Kopsseelift II, nicht zu vergessen den sogenannten „Rückbringerlift“. Das ist die Ballunspitze. In der Tourismusbroschüre heißt es: „Galtür ist anders. Und das war schon immer so. Ein intaktes Dorf in einer intakten Natur – diesem Grundsatz ist man in Galtür immer treu geblieben. Bei uns soll man vom Skilift aus noch Berge ohne Skilift sehen.“ Aha, denkt man und wendet sich von der Ballunspitze ab.

Ich suche ein Zimmer. Gebucht ist eines im Haus Cultura. Das Haus Cultura liegt an der Straße. Freilich gibt es Autoverkehr dort. Kennzeichen D. Ich zähle in einer Minute: Maintaunuskreis, Stuttgart, Dannenberg, Hamburg, Fürstenfeldbruck, Kreis Borken, Minden, Frankfurt, Darmstadt, Wiesbaden, Offenbach, München, Offenburg, Freiburg, Lahndillkreis, Bamberg, Bielefeld. Ich erinnere mich, wie ich dort an der Straße stehe und dem Bielefelder hinterherblicke (drinnen eine Familie in Skianzügen), an das „Bielefelder Gesetz“. Es gibt eine Theorie, die lautet, die Stadt Bielefeld existiere nicht, sondern sei eine Erfindung von Hannoveraner Kunststudenten. Die Stadt bestehe nur aus einer Kulissenzone um den Bahnhof, ansonsten sei sie eine bloß mediale Simulation. Das Bielefelder Gesetz lautet: „Niemand kennt Bielefeld, aber jeder kennt eine Person, die schon einmal in Bielefeld war.“ Also, denke ich, handelt es sich bei den Insassen des Bielefelder Autos möglicherweise um genau jene Hannoveraner Kunststudenten, denen es einen Heidenspaß macht, hier mit diesen absurden Skianzügen herumzufahren und eine Bielefelder Skitourismusfamilie zu mimen. Eine Idealsimulation.

Ich frage die Wirtin, warum das Haus „Cultura“ heißt. Ob es neben dem Pensionsbetrieb eine im weitesten Sinne kulturelle Einrichtung sei, eine Art maison de la culture. Sie sagt nein. Sie wisse auch nicht, warum das Haus „Cultura“ heiße. Da ich mein Zimmer nicht beziehen kann, gehe ich zum Tourismusverein und frage nach einem Zimmer ohne Maintaunuskreisler, Stuttgarter, Hamburger, Bielefelder etcetera. Also rückwärtig gelegen und straßenabgewandt. Die Angestellte sagt: Sie haben aber eigenartige Wünsche. Ich sage: Ja. Übrigens, wissen Sie vielleicht, warum jenes Haus gegenüber der Kirche „Haus Cultura“ heißt? Hat das was mit Kultur zu tun? Sie: Nein. Cultura ist der alte Name für Galtür. Eigentlich heißt das Haus Galtür. Die junge Frau drückt mir einen Hotelplan in die Hand. Ich lerne: Galtür besitzt etwa achtzig Hotels und noch ein oder zwei Dutzend Pensionen („… ein intaktes Dorf in einer intakten Natur …“). Zum Studieren des Hotelplans gehe ich in die nächstgelegene Gaststube: Die „Tiroler Stube“. Ein Hirschkopf an der Wand, ein Adler, der ein Eichhörnchen schlägt, alle tot und ausgestopft (ich mag Einhörnchen). Ein Bild des Jägers aus den Siebziger Jahren, mit der Hirschleiche im Kofferraum seines braunen Audis. Er sitzt auf dem Kofferraumrand und hält den Hirschkopf fotogerecht hoch und Richtung Kamera. (Eines verwirrt mich: Als Kind durfte bzw. mußte ich immer mehrere Wochen im Jahr in einer Pension namens Kranebitt in einem kleinen Südtiroler Ort verbringen, dort hatte es einen spezifischen Geruch, den ich hier, im Eingangsbereich der Tiroler Stube, zum ersten Mal seit fünfundzwanzig Jahren wieder rieche.) Die Täfelung der Stube stammt wohl ebenfalls aus den Siebziger Jahren, Jägerbilder, seit dreißig Jahren zugerauchte Vorhänge. Galtür bei Tag. Der Ort besteht also fast ausschließlich aus Hotels. Wäre ich nicht durch Ischgl gefahren, eine nach Cinderella-Schloß- Art aufgebaute Tiroler Disney-Ski-Stadt mit Discotheken, Funclubs und Tabledance, ein allgemeinsportliches Fickificki (wie hoch aber ist die Koitalrate wirklich in Ischgl bei Nacht?), dann wäre mir Galtür noch viel grotesker erschienen. Jaja, liebe Galtürer, freilich, im Vergleich zu Ischgl habt ihr fast recht. Ein intaktes Dorf. Das heißt, der Tabledance hat die Tiroler Stube noch nicht erreicht. Also Graukäse und ein Viertel Zweigelt! Überall Touristen in Skianzügen, Wander- und Skipistenpläne wälzend. Es gibt: Tiroler Knödel, Tiroler Hauswurst, Tiroler Geselchtes, Nusseler, Waldler. Die Bedienung ist abgehalftert, der einzige Galtürer (mit Käppi und rotem Gesicht) sitzt an der Theke, angetrunken. Manche Kunden lassen sogar ihre Sonnenbrillen auf. Weihnachtssterne auf den Fensterbänken, Hosenträger auf den Leibern. Seit Jahrzehnten habe ich keine Hosenträger mehr gesehen. Die halbentblößten Skitouristen zeigen fast alle Hosenträger. Ach, denke ich und schaue aufs Blau und Rot und Gelb und Orange und Pink der Skihosen, wo ist das klare, reine Licht der Bilder Ruedi Baurs, wo ist der Himmel, wo der Schnee, wo ist die Seele dieser Menschen, was ist der geheime Verbund der Knödel und der Gipfel, der Strudel und der Einsamkeit im Licht der Sonne droben über den Spitzen und der Erde, dem man so nahe sein kann – gerade hier in dieser Knödel- und Strudelhölle der bunten Chemofaserleibchen und der stinkenden Holzvertäfelungen, Herr Wirt, einen Schnaps …

Da kommt ein zweiter Galtürer herein! Ein Mann wie von Egger-Lienz. Kantet sich an die Theke, schaut schief, glotzt. Ein Original, vollkommen betrunken. Nicht mal die Bedienung geht auf ihn ein. Hernach kommt ein Müllmann in die Stube und entsorgt den Papiermüll. Die Kinder kriegen eine Kinderkarte und bestellen Fischstäbchen oder einen Pinocchiobecher. Zwei Alte werden unter dem Tisch zu Polarbären, sie tragen nämlich weißgraue Zottelstiefel, beide die gleichen. Der eine Alte: Gelber Rolli, Goldkettchen über dem rechten Pullibündchen, eine Uhr (dick) über dem anderen Bündchen, Hosenträger. Ach, die Deitschen! Nachtisch: Pflaumenbrand, Obstbrand, Zweigelt, Topfenstrudel, Kaiserschmarrn. Die Deitschen trinken zumeist Bier und zum Schluß: a kloans Bier. Sie tapsen in der Sprache wie draußen auf der Straße in ihren Skischuhen. Ogottogott. Ich denke immer wieder: Ogottogott. Herr Wirt, einen Schnaps ...

Dein Wort sei: Jou jou, naa, naa ... (Matthäus 5,37)

Und dann bin ich wieder heraus aus der Tiroler Stube. Das Zimmer, das ich finde, ist das letzte freie. Es ist eine Nebenkammer in einem zur Pension umgebauten ursprünglichen Einfamilienhaus, das Fenster geht auf einen Lichtschacht. Es ist ein Kellerloch, bunkerhaft still, bestens geeignet. Kein Licht, kein Schnee, als Aussicht nur Beton. Hier ist sie, die Wahrheit über das, was Galtür ist, ein intaktes Dorf in einer intakten Landschaft. Kein Skilift zu sehen!

Draußen ist ein strahlend sonniger Tag. Alles ist weiß, Schneehöhe geschätzte zwei Meter, aber sämtliche Straßen sind natürlich frei, Kennzeichen D. Ich laufe Richtung Wirl, also Richtung Ballunspitze, die Dreckspuren im Blick, die sich tatsächlich langsam in Skilifte verwandeln. Westlich von Wirl beginne ich den Aufstieg zwischen Ballunspitze und Fädnerspitze. Es geht ein schneidender Wind, das Atmen fällt schwer. Zwei, drei Windungen die Schlucht entlang, und fort ist dieses Wirl und dieses Galtür, jetzt ist nur noch Schnee und Sonne da, ich denke an das Licht und die Bilder Ruedi Baurs und frage mich, ob er die menschenleeren Bilder wählen wird, die Bilder ohne Menschen, wie hier, denn hier sind keine Menschen (abgesehen von mir, aber ich zähle nicht, ich trage keine Skihosen und keine Skischuhe, ich trage einen Stutzer, dunkelgrau). Nur hin und wieder kommt mir ein Trupp demonstrativ ausgelassener Touristen entgegen, und einmal versucht ein Langläufer zu mir, dem Fußgänger, aufzuschließen, kapituliert aber vor der Steigung und läßt sich wieder zurückfallen. Ich bin allein. Ich notiere: Nur wenige Nadelbäume halten die Abgänge aus. So wirkt der Schnee fast kahl. Mitten im Aufstieg ragt etwas aus der ansonsten reinen, weißen Fläche des Schnees. Ich stapfe hin und beginne es freizulegen. Es kommt ein Schild zum Vorschein, ich wische den Schnee ab. „Fischen verboten“. Hm. Erst ein Blick auf die Karte belehrt einen: Man ist in der Zeinisbachli- Schlucht. Im Sommer sind hier also Brunellen, Thymian, Kuhschellen, Veilchen, Gundermann, Ehrenpreis, Glockenblumen, Hauhechelbläulinge, Admiralfalter, jetzt ist hier nur Schnee. Der Schnee und sein Betrachter. Es geht in den späten Nachmittag hinein, die weißen Wände der Spitzen werden röter und röter, manche gehen in Wolken über. Die Schatten der Hüttchen werden länger wie die von Wichtelzwergen am Abend. Von oben aber ist alles weiß. Die Häuser halb im Schnee versunken, die Menschen noch nicht. Aber irgendwie doch … Vielleicht liegen sie alle hier unter dem Schnee, die Touristen der letzten einhundertzwanzig Jahre, seitdem das Paznaun ein Skiparadies für auswärtige Gäste ist. Man wartet auf einen ewigen Schnee, auf einen Abgang für ewig ...

Und immer menschenleerer wird es hier oben, auch im Kopf. Der Betrachter löscht sich zusehends aus in diesem Schnee und diesem Licht. Oben die Silvretta: Die Landschaft wird immer kleiner, die Berge auch, wie Scheinriesen, der Schnee wirkt nun fast zärtlich. Das Land liegt da wie ein zerknittertes Papier auf dem Tisch eines Giganten. Man selbst ist ein Gigant, ein winziger. Man steht der Welt auf der Schulter und lugt über sie hinaus. Man ist zu hoch für die Menschen und die Häuser, man sieht nichts mehr davon. Hier oben ist das schiere Nichts: die Welt.

Indem ich später wieder ins Tal gehe, werde ich größer, ja, ich werde größer, indem ich wieder kleiner werde, und etwa bei Höhe zweitausend Meter bin ich wieder vorhanden, entlöscht, wieder ein Mensch, und es kommen mir auch die ersten Menschen entgegen, hinaufwärts, sie winken, ich winke zurück und denke: diese Silvrettaschopenhauers. Ich habe einen Augenblick über der Welt geschwebt, eine reine Anschauung, ein bloßes Auge, wie die da wohl auch, wie Ruedi Baur, wie eben alle hier, alle lieben sie die Gipfel und die Berge und wollen hoch hinaus und wedelnd wieder hinunter.

Zurück ins Tal, nach Wirl, nach Galtür. Es ist doch nicht alles weiß hier. Die weißen Häuser wirken gegen den Schnee verschmutzt. Es wird Abend. Ein Langläufer fotografiert in der Loipe seinen Hund beim „Mach Sitz!“. Der Hund ist brav und macht Sitz. Der Hund ist schwarz. Was er wohl von den Bergen weiß? Von den Knödeln? Immerhin: er kann wedeln, Wedeln ohne Schnee. Wedeln im Schnee ohne Schnee. Das kann kein Mensch hier. Cheese!

Vor der Nacht informiert man sich in der heimatkundlichen Literatur, die in der Pension ausliegt.

1875: Galtür besteht aus einer Kirche, einem schlechten Gasthaus und sieben bis acht elenden Bauernhütten. Damals also noch kein „intaktes Dorf in einer intakten Natur“. Die Trisanna entsteht in Galtür aus dem Jambach und dem Vermuntbach … Schlucht = Gfäll …
Seehöhe 1580 Meter.
+ 3 Grad Celsius Jahresmittel.
164 Tage durchschnittliche Schneebedeckung.
Wintermitteltemperatur: – 5, 6 Grad Celsius
Walddichte: 3 %. Es heißt: „Der größte Reichtum von Galtür sind die Steine“.
Fehlen des Waldes = Lawinen (Abgänge).
Geschichte: Grundherrschaft der Marienberger, im 15 JH Niemandsland, als Allmende genutzt. Bebautes Land – Cultura – Cultüra. Das berühmte Zeugnis: eine Zinsanweisung aus dem Jahre dreizehnhundertzwanzig: „Homines dicti de Cultaur“.
Ballun – val – Tal. Man lernt Paznaunerisch. Lateinisch vallis. Talspitze.
„Auch das kleinste Tal mündet irgendwo in die weite Welt.“

Der Ort Galtür ist jedem bekannt seit dem dreiundzwanzigsten Februar neunzehnhundertneunundneunzig. Jeder Tag in der weiten Welt ist einer zuviel, wie immer.

Ich habe einmal eine Familie Wacholderdrosseln gesehen; eines der Jungen wurde von einem Raubvogel geholt. Zwei Minuten war die Familie in hellster Aufregung, Warnrufe, Warnflüge, dann allgemeine Beruhigung. Kurze Zeit später war nichts mehr zu merken. Alles sah aus wie immer. In die Köpfe der Drosseln schaut niemand hinein. Wäre ich zwei Minuten später vorbeigekommen, wäre nichts zu ahnen gewesen. Ich hätte eine Wacholderdrosselfamilie gesehen, friedlich auf einer Wiese … Einfach da, wie Bielefeld …

Wer schaut da hinein?
Galtür sieht aus wie immer, und jetzt ist es schon Nacht. Erste Station: Hotelrestaurant Sabine, Familie Kathrein. Ich notiere: Die Schlange am Salatbuffet, überall diese Ski-Hintern, jetzt in Jeans. Überhaupt dieser Kleiderordnungswechsel ab achtzehn Uhr abends, die alten Damen und Herren sind jetzt wieder alte Damen und Herren, letztere in Kordhosen und immer diese kleine Spur zu ausgelassen, wie in leichtem Fieber. Nur das Gesicht ist noch wie am Mittag, unausgewechselt, rot. Man ißt: Paznauner Käsespätzle, abgeschmelzt, mit gerösteten Zwiebeln. Sie erinnern an das Nationalgericht der armen Slowaken, Haluzni. Wie war das hier vor dem Beginn des Tourismus? Aus dieser Zeit müssen diese Spätzle stammen. Früher kam man von der Arbeit. Heute vom Skifahren. An der Theke zwei Schwestern, sie kämpfen am Hahn, als das Bierfaß leer ist. Da alle Plätze belegt sind, speise ich am Tresen. Radio. I’m just a dreeeaaaaamer, dreaming my life away … Jetzt erst erinnere ich mich und notiere, was in Wirl war. Dort war Udo Jürgens, superlaut, die ganze Loipe hoch. Und hier bei Sabine? Nein, die Musik ist immerhin leise. Überall höre ich hessisch hier im Paznaun und bei Sabine.
Eine der Schwestern: Und wo übernachten Sie?
Ich: Im Montania.
Sie: Bestimmt schön!
Ich: Nun ja. (Vom Lichtschacht sage ich lieber nichts.)

Zweite Station der Nacht: Café Günther. Dort sind die älteren Damen und Herren bereits beim Absacker. Rhythmisierter Toilettengang, die einen gehen ab, die anderen kommen wieder. Der Wirt (er trägt Filzpantoffel) rührt Topfen für einen Strudel, aber bloß als Beschäftigungstherapie, denn er rührt immer nur wenige Sekunden, dann redet er weiter mit einem Bekannten und lehnt dabei den Arm an den Tresen wie sein eigener Kunde. Auf dem Schrank ein Bierkrug mit zwei Henkeln, der wie eine Brezel aussieht. Oder das Emaille-Schild: „Wo eine Wille ist … ist auch ein Bier.“ Im Radio wird die Ernst-Mosch-Gold-Edition beworben („in bester Tonqualität“).

Ein Paar (A): „Wir kommen schon einundzwanzig Jahre hierher. Nur dreimal waren wir nicht hier.“ Das Nachbarspaar (B): „Dann fahren Sie von Bochum?“
A: „Nein, von Duisburg.“
B: „Wir kommen mit dem Bus, von Landeck.“
A: „Bekannte von uns haben das auch immer gemacht.
Die Sauerlandlinie war bis Würzburg frei, aber wir haben trotzdem acht Stunden gebraucht. Immerhin haben wir keinen Stau gehabt.“
Im Café Günther trinkt man Fohrenburger Bier. Irgendwo im Raum höre ich den Satz: „Mein Mann ist auch schon drei Jahre zu Hause.“ (Im Augenblick ist er wahrscheinlich auf der Toilette.)
B: „Wir fahren am dreißigsten März jetzt nach Japan. Vier Wochen Japan und noch zwei Wochen Bangkok. Jaja. Unsere Schwiegertochter hat uns zwei Tickets geschenkt. Die Kanaren waren bei uns bislang das
weiteste.“
A: „Kreta, Syrien, Tunesien, Mazedonien, bald haben wir alles durch. Unten wie oben und links wie rechts.“
Ein weiteres Paar (C): „Wir waren auch überall! Honduras, Mexiko, China, Norwegen. Zwanzig Jahre sind wir nach Jugoslawien gefahren. Wir sind das letzte Mal … also da war gerade der Krieg ausgebrochen, da sind wir nicht mehr hin.“
A: „Und wir mußten über Bulgarien fliegen. Kennen Sie das? Wir waren mal drei Wochen da. Total einsam. Deprimierend. Verrostete Telefonmasten. Da wird man tot von. Bulgarien ist ab acta.“
A, ab, e, ex, de, cum, sine, pro und prae haben stets den Ablativ.
Deklinieren in Galtür. Gibt es, analog zu Bielefeld, ein Galtürer Gesetz? Wo ein Wille ist, ist auch ein Ablativ. Quadratsch, praktsch, gutsch. Ich glaube, ich sitze vor meinem fünften Viertel. Wo ein Wille ist, ist auch ein Schlund. Der anämische, ziegenbärtige Wirt ruft ein zackiges Auf Wiedersehn!, als sein Kamerad geht. In der Ecke sitzen jetzt Würfelspieler. Polkavolksmusik bei Günther. Mit dem Finger testet der Wirt die Frischheit des Kuchens in der Vitrine, läßt auch einen weiteren Kameraden testen, dann stellt er den Kuchen zurück. Er wird wohl wissen, wie viele Tage der alte Kamerad (Topfenstrudel) in der Vitrine auf dem Buckel hat.
Hier enden meine Notizen.

Die dritte Station. Faßdaubenrennen um Mitternacht. Man steht an einer ausgeleuchteten Piste, nachts ist es wie immer am hellsten. Hier ist das Licht, das kein Fotograf je aufnimmt, das Licht des Glücks, das Licht der Seele, das Licht der Nacht. Man wechsle nur den einen Konsonanten, man mache aus dem Hauchlaut einen Explosivlaut, und aus Nacht wird Nackt. Aber soweit sind wir nicht. Noch köchelt die Stimmung. Nachts ist es wie immer am lautesten. Ein Animateur stellt die Rennteilnehmer vor. Und nun kommt der Toni (Doni), der Toni hat heuer zum ersten (erschten) Mal (Mol) auf den Skiern gestanden, und nun kommt er schon zum ersten Tor, da ist er schon der Toni (Doni) am ersten Tor (Dor) etcetera etcetera. Aufgabe dieses Rennens bzw. Inhalt dieses Amusements ist es, daß der Doni oder der Schorschi oder die Gisela möglichst bald und lustig auf dem Hintern liegen und die Menge johlt und sich freut, denn freilich hat man schon den ein oder anderen Frozen Daiquierie oder Caipirinha oder Jägermeister oder die ersten vier Liter Bier getrunken. Ich in meinem dunkelgrauen Stutzer wirke unter all diesen lustigen und ausgelassenen Leuten wahrscheinlich wie ein Blockwart. Aber ich bin nicht zum Skifahren hier, sondern zum Schreiben, und Schreiben hat etwas, im Gegensatz zu Skifahren, mit Wahrheit zu tun. Skifahren ist wahrheitsresistent. Und die Wahrheit ist kein Sport, so wenig wie das Leben. Also, kurz: Statt Skier haben sie Faßdauben unter die Füße geschnallt, wie früher. Ein Retro. Man ist ja urtümlich. Spätzle, wie damals, wie die Paznauner Bauern, und die Schnäpse, jaja. Die heißen nicht Astro-Beere oder Fun-Korn oder Mega-Apfel, sondern Paznauner Obstgeist oder Urgeist oder Alter Edelgeist bis hin zu Mirabellenbauerngeist etcetera.

Es scheint mir, daß die meisten für diesen Event wieder ihre Tagesklamotten angelegt haben, nur die Jacken stehen jetzt offen, denn man ist erhitzt. Die Jungen und die Sportlichen geben sich dabei, es ist ja Nacht, eine zunehmend laszive Note, kurze Tops unter Skijacken, aber das geht für hier schon wirklich weit, die betreffenden Damen sind mehr als nur naturbraun, selbst für Skihaserln, und sie hüpfen und hüpfen, als der Schorschi sich in den Schnee und auf den Hintern legt, sie hüpfen alle ein wenig demonstrativ. Was für Sehnsüchte liegen hier blank! Und was für Erfüllungen hat dieser Ort parat? Später nur noch einzelne Beobachtungen: Nicht wirklich viele Leute kotzen in diesen Nächten in Galtür, nicht wirklich hemmungslos werden die Gäste, nicht wirklich orgiastisch wird es in Galtür, dem intakten Dorf in intakter Natur, wo man vom Skilift aus noch nicht lauter Skilifte sieht. Nur im Hotel Giselle stehen zwei Mädchen auf den Bänken und entkleiden sich zu rhythmischem Biergegröhle … Nun ist es wirklich Nacht und schwarz, die Lichter aus, nun sieht man gar nichts mehr. Die einen sind nach Ischgl gefahren, die anderen haben sich neben ihre Ehebären ins Bett gelegt, und in den Hotelzimmern mit Fernseher werden die einen schlafen und die anderen Blue Movies schauen und onanieren. Ich schaue auf den Luftschacht. Auch dort ist es schwarz, wie überall. Am Ende nehme ich noch einmal die Notizen vor und formuliere endlich das Galtürer Gesetz, das Gesetz der Intaktheit dieses Galtür. Dann kann ich schlafen.

Galtürer Gesetz: Jeder, der nach Galtür kommt, weiß, daß es in Ischgl noch viel schlimmer ist.

 

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