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Landvermessung
No. 1, Sequenz 2
Beschreibung Tirols entlang der Linie Hochwilde–Sandhof–Hochplatte

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: Stefanie Holzer und Walter Klier folgen südlich des Alpenhauptkammes einer pfeifgeraden Linie, die vom äußersten Winkel des Südtiroler Vinschgaus zur Wallfahrtskirche von Obermauern im Osttiroler Virgental führt. Auf dem zweiten Teilstück kehren die Autoren beim „Sandwirt“ im Passeier ein, um ein 12-gängiges Menü zu lesen, treffen auf einen „Christus als Apotheker“ sowie Sportalm-Hervorbringungen der Extraklasse und wissen zu berichten, dass Mücken unter Umständen stärker sind als eine Kuh.

1. Landvermessung vor Ort
Alpine Fun. Innsbruck – Pfandler Alm und retour

Da Anfang Mai nur Pensionisten reisen, verläuft die Anreise bis Sterzing problemlos. Die Gewerbe- und Industriezone im Westen der Stadt wächst beängstigend schnell. Moderne Zweckbauten schauen aus wie gigantische, kurios noble Wellblechhütten. Sie sind nicht für die Ewigkeit gebaut wie die Ziegelbauten des 19. Jahrhunderts, sondern für einen Konjunkturzyklus oder zwei. Die alten Fabriken werden, wenn das Produkt, das in ihnen hergestellt worden ist, nicht mehr gebraucht wird, bisweilen als Veranstaltungszentren für Kulturelles genutzt, die Hightech-Blechbüchsen werden nicht einmal zu Bierdosen verarbeitet werden können.

Die Straße auf den Jaufen ist von blühenden Büschen gesäumt. Um zehn am Vormittag kommt schon die erste Radlerin auf dieser Seite des Jaufen herunter von ihrer schweißtreibenden Tour. Schlüsselblumenteppiche liegen über den eben ergrünenden Wiesen. Kurz vor dem Weiler Kalch annoncieren Schilder einen „Gosthof“. Der Unkundige meint, es handle sich um einen Schreibfehler. Und irgendwie hat er recht, denn der Gosthof ist ein Gast- und Bauernhof.

Je höher wir hinaufkommen (Kehre 5, 1620 m), desto matter ist das Grün der Wiesen; bald recken sich nur mehr gelbe Huflattichblüten und weiße Pestwurzstengel aus dem Winterbraun. Da tritt zum ersten Mal die Jaufenspitze ins Blickfeld: Sie ist tatsächlich spitz, ein kecker Gipfel. Wir hatten soeben das Jaufenhaus bei Kehre 8 passiert, als ein Herr auf der Gegenfahrbahn neben seinem abgestellten Auto uns zuwinkte. W. blieb stehen, kurbelte das Fenster hinunter und fragte, was los sei. „Hallo!“, sagte eine tiefe Stimme einschmeichelnd. Der Mann war ungefähr fünfzig, offenkundig war seine Muttersprache nicht Deutsch, soviel konnte man schon nach dem gedehnten „Hallo!“ sagen. „Ich habe Schmuggelware“, fuhr er fort. „Hast du Interesse?“

Was konnte der Mann in seinem kleinen PKW haben, das wir brauchen könnten? Das einzige, was W. interessiert hätte, wären Kunstschätze aus dem Irak gewesen, doch die Tafeln des Hammurabi sind nun doch nicht außer Landes gebracht worden. Schmuggelware, denkt man, müsste hinter der Grenze angeboten werden, aber nicht kurz vor einem innersüdtirolischen Pass. Vielleicht war ja der Jaufen ein idealer Verkaufsplatz? Jede Menge Touristen zockeln in beiden Richtungen zwischen Sterzing und St. Leonhard in Passeier.

Von der Passhöhe auf 2094 m bewunderten wir nicht nur die Aussicht auf die umgebende Mondlandschaft inklusive Hoher Kreuzspitze (2.743 m), sondern beobachteten weitere Versuche der Geschäftsanbahnung drunten bei Kehre 8. Unser Verhalten war typisch für die zufällig gebildete Gruppe der Jaufenpassfahrer gewesen: Auch alle anderen, die der Vertreiber von unrechtem Gut (Raubkopien von CDs oder Rolex?) anhielt, blieben bereitwillig stehen – und fuhren nach einem Weilchen weiter, ohne auch nur ausgestiegen zu sein, um den Kofferraum des abgestellten Wagens zu inspizieren. Möglicherweise sollte der Jaufener Geschäftsmann seine Strategie überdenken. Er hielt nicht alle Autos auf. Vielleicht sind seine Parameter falsch, und die anderen, denen er kein Angebot gemacht hatte, wären ganz wild auf seine Waren gewesen.

Die Straße über den Jaufen ist in einem viel besseren Zustand als sie es schon einmal war. Dennoch sind der fehlende Mittelstreifen, die nicht überall durch Leitplanken ersetzten rostigen Geländer und die Schilder, die vor Felsvorsprüngen (rocce sporgenti!) warnen, keineswegs arm an Reizen.

Auf der anderen Seite des Passes bewillkommnete Walten, genauer „Lina’s Hofschenke“ den Reisenden. Wie im intensiven Obstbau stehen Beregnungsanlagen in den trockenen Wiesen, wo gerade wunderschöne Kuckucksnelken blühen. Walten ist der Geburts- und Heimatort von Georg Klotz. Unser Ziel war jedoch das Geburtshaus eines älteren und noch berühmteren Helden des Passeiertales, nämlich der Sandwirt an der Straße zwischen St. Leonhard und St. Martin.

Die Dimension des Parkplatzes vor dem Haus lässt darauf schließen, dass der Sandwirt heutzutage eine Goldgrube ist. Endgültig zum Krösus wird der Wirt wohl nur deshalb nicht, weil manche ältere und/oder gehbehinderte Menschen es nie schaffen, vom Parkplatz über die vielbefahrene Straße ins Gasthaus zu kommen. Denn in St. Martin haben Zebrastreifen noch nicht jene Autofahrer domestizierende Wirkung entfaltet, die sie in größeren Ortschaften durchaus haben.

„Das Andenken Andreas Hofer’s ehrend weilte Se. Majestät unser Allergnädigster Kaiser Franz Joseph I. umjubelt vom begeisterten Tiroler Volk am 21. September 1899 am Sandhof. In bleibender Erinnerung an dieses freudige Ereignis setzt die Tiroler Adelsmatrikel diesen Gedenkstein“, liest man an der Fassade des Sandwirts im Passeiertal, der im Übrigen immer noch ein Gasthaus ist. Allerdings nicht mehr im Besitz der Familie Hofer, die den Hof 1890 hoch verschuldet für 8.835 Gulden an die Tiroler Adelsmatrikelstiftung (früher Adels-Matrikel-Genossenschaft) verkaufte. Hofers Nachfahren kamen überdies in den Genuss von Leibrenten.

Der Eingang des Gasthauses wurde seit Hofers Tagen verlegt. Man betritt das geschichtsträchtige Haus durch einen Anbau, der für den Kaiserbesuch 1899 aufgeführt wurde: eine ausnehmend schöne Veranda mit Kassettendecke, Holzboden und einfachen Tischen und Stühlen aus Holz war der Ort, in dem der Kaiser mit seiner Entourage bewirtet wurde.

Das Kaisermenü, erfährt der Besucher des angeschlossenen Museums, war folgendermaßen zusammengestellt:
Kraftbrühe vom Huhn
Caviar und Sardinen
Passeirer Forellen, gesulzt
Schinken und Zungen
Ochsenlenden, Rehrücken
Gänseleberpastete, Hasenbrot, Rebhuhn
Gefüllter Fasan
Steirischer Kapaun
Verschiedene Salate
Kleine Bäckerei
Verschiedene Käse
Butter

Kaiser Franz Joseph ist berühmt für seine Genügsamkeit, angesichts solch üppiger Menüs wundert einen seine sonst gepflogene asketische Zurückhaltung nicht mehr so sehr. „Hasenbrot“ ist übrigens eine Bezeichnung
für ein Stück trockenes Brot.

Der bizarre Gastgarten des Sandwirts ist liebevoll gestaltet mit Birke, Föhre, Yucca, Wandelröschen, Oleander, Lorbeer – alles in riesigen Blumentöpfen, die zum Überwintern ins Haus gebracht werden. Wein gegen die Straße hin vervollständigt das grüne Bild dicht neben der Straße, das seine Abrundung mit Fuchsie, Begonie und Kaktus am Fenster findet. Das rundheraus Wahnsinnige an diesem Gastgarten ist eine unauffällig angebrachte Lautsprecherbox, aus der ein auch friedvolle Bürger rasend machender, wie maschinell hergestellter, frohsinniger Ziehharmonikasound erklingt. Kaum ist ein Stück glücklich zu Ende gebracht, fängt das nächste an. Es bleibt nicht soviel Zeit, auch nur einmal durchzuatmen.

Bemerkenswert im Inneren des alten Hauses ist die renovierte Gaststube, in der Hofers Getreue ein oder zwei Glasl getrunken und das Pfeiferl geschmaucht haben mögen. Allfällige Spuren davon wurden gründlich getilgt. Die Gaststube ist heute den Nichtrauchern vorbehalten. Die getäfelten Wände schmücken u.a. Bildnisse von Hofers nobilitierten Nachfahren, zum Beispiel von dem in Fischamend geborenen Enkel Hofers, Dr. Andreas von Hofer; er war ein „Edler von Passeier“.

Eines der Wirtschaftsgebäude neben dem Gasthof wurde zum „Museum Passeier“ adaptiert. Nicht ein jeder, der im Gasthaus einkehrt, zahlt auch die fünf Euro Eintritt ins Museum. Als wir die Aufsicht habende Dame in ein Gespräch verwickeln, nutzt eine Touristin die Gelegenheit und schleicht sich, ohne zu zahlen, ins Museum ein. Als nach einer Weile auch noch der Mann der Einschleicherin auftritt, um nach dem Verbleib seiner Frau zu forschen, wird ihm kundgetan, sie sei in die Schauräume verschwunden. Ob er auch hineinwolle? Rätselhaft seine Antwort: „Ich weiß es nicht.“

Als der bayerische Schriftsteller Ludwig Steub (1812– 1888) 1871 in der „Wirtschaft am Sand“ zukehrte, wurde er von der Kellnerin in die Schlafkammer „des Sandwirts“ geführt, um dort seine Sachen zu sehen. 1838 wurde das Gewand Hofers von seinem Schwiegersohn zum letzten Mal öffentlich getragen. Seither wurde es nur mehr vertrauenswürdigen Reisenden wie Steub gezeigt, dem man den Reliquienstatus der Kleidung des Tiroler Freiheitshelden nicht erklären musste. „Sonst hat man immer große Sorge, es vor den Engländern zu hüten, welche verschiedene Summen dafür geboten …“ Im Gedenkbuch fand Steub viele Eintragungen von Engländern und Tiroler Studenten. „Einer von letzteren gab als seine Gedanken an dieser Stelle Folgendes:

Ganz nahe an der Passer Strand
Ich Hofers kleines Häuschen fand.
Wohl, dacht’ ich mir, du großer Held,
Dich nennet schier die ganze Welt –
Doch leb’ ich lieber ungenannt,
Als wie gestorben weltbekannt.“

Kaiser Franz Joseph wohnte 1899 der Einweihung der Andreas-Hofer-Kapelle bei, die von niemand Geringerem als dem Kardinal und Erzbischof von Salzburg Johannes Evangelist Haller (1825–1900) vorgenommen worden war. Haller stammte übrigens wie der mit der Kapelle Geehrte aus St. Martin in Passeier. Aus diesem Grund ist im Museum auch die „Vollständige Ordnung des Leichenzugs zur Bestattung der irdischen Hülle Seiner Eminenz des Hochwürdigen Hochgeborenen Herrn Herrn Johannes Evang. Haller“ ausgestellt. Dieses kuriose Dokument listet 58 Punkte auf. Die Kreuzträger führen mit zwei Laternenträgern den Zug standesgemäß an. Waisenmädchen, Volksschulen, Witwen- und Waisenunterstützungsvereine und und und folgen bis endlich – auf Platz 48 – „die hohe Leiche von Geistlichen getragen und begleitet“ an der Reihe ist. Den Abschluss macht unter Punkt 58 „die übrige Begleitung weiblichen Geschlechts“.

Im Halbstock des Museums, sozusagen im Übergang zwischen Hofer- und Heimatbereich steht als Bindeglied ein Touch-Screen, auf dem man sich Begleitmusik zum Schauen aussuchen kann: Die Palette reicht von Volkstümlicher Musik über Chormusik und Volksmusik weiter zur Modernen Musik. Unter letzterer Überschrift wurde unter anderem angeboten: Quo vadis mit dem Titel „I hon lei getramp“ und „Have you ever seen the rain“ von Santoni Peter. Unfähig, hier eine Wahl zu treffen, entschieden wir uns für Stille.

Als das Museum im Jahr 2000 eröffnet wurde, gaben ältere Passeirer ihre Sicht auf das Museum zu Protokoll: „Wegen den olten Plunder brauch i nit ins Museum zi gian … des hoben mir derhuam kopp!“ Jüngere Bewohner des Tals, die damit aufgewachsen sind, in fahrbaren Untersätzen über den Jaufen zu brausen und die viel zu langsam dahinzockelnden Touristen waghalsig zu überholen, begegnen im Museum einem modernen Phänomen: Eine Kopfkraxe steht für den Warentransport über die Alpen, dafür, dass das Passeier das Tal der Träger war. Die Passeirer waren „privilegierte Fernfahrer von früher“. Sie transportierten Obst, Wein und Schnaps ins Inntal und nach Bayern hinaus. Auf dem Rückweg trugen sie Flachs, Salz und Getreide. Als 1903 die Jaufenpassstraße eröffnet wurde, kam es zu Protesten, da die gutverdienenden Träger als Modernisierungsverlierer um ihre Existenz fürchteten. Wie man sieht, zurecht. Ob die Südtiroler Frächter von heute als Symbol für den Niedergang ihres Gewerbes dereinst eine oder zwei Nummerntafeln im Heimatmuseum abgeben werden, hängt einerseits von der Halsstarrigkeit der EU und andererseits, möglicherweise maßgeblicher, vom mangelnden Verhandlungsgeschick der Österreicher ab.

Nach der letzten Bergiselschlacht versteckte sich der Sandwirt bekanntlich in der Pfandleralm, wo er von Franz Raffl verraten worden ist. Vor dem Aufstieg zur Alm stärkten wir uns in Prantach beim Pfandlerhof mit einer Speck- und Käsejause. Der Pfandlerhof lässt nichts Geschichtsträchtiges erahnen. Wohnhaus und Stallungen sind neu erbaut, das Holz ist noch so frisch – beinahe zitronengelb. Weder Mensch noch Tier hat den Hof bezogen. Deswegen gibt es auch die auf einem Schild annoncierte Buttermilch nicht, die erhitzte Wanderer gern verkostet hätten. Die Gastlichkeit wirkt insgesamt rudimentär. Vor dem Stallgebäude steht ein Baustellenkabäuschen, aus dem die Getränke geholt werden. Franco, der Wirt, und die Kellnerin, die im Kontakt mit ihren Gästen immer wieder „So, woll, bitte“ sagt, essen eine bloße heiße Wurst zu Mittag. Die deutschen Gäste rufen immer wieder begeistert nach Franco, vielleicht weil dieser Name für sie eine Intensivierung des Urlaubsgefühls mit sich bringt.

Die Tiroler Tageszeitung berichtet an diesem Tag in landeseinheitlicher Sorge, dass in Latsch eine Kuh an den zahlreichen Stichen der Kriebelmücke gestorben ist. Kühe erleiden einen Schock, wenn Kriebelmückenschwärme über sie herfallen. Der zuständige Südtiroler Landesrat riet, die Kühe nur mehr vor Sonnenaufgang und nach Sonnenuntergang zu weiden.

Der Aufstieg zur Pfandleralm erfolgt auf einem gut markierten Weg durch den Wald. 350 Höhenmeter sind es vom Hof zur Alm auf 1350 m Seehöhe. Dieser Weg wurde nicht nur vom Tiroler Helden eilig zurückgelegt, sondern seither von vielen Wanderern, die auf dem Europäischen Fernwanderweg E5 vom Bodensee an die Adria unterwegs sind. Als erstes sieht man die Fahnen der Alm: die grün-weiße der Schützen und die rot-weiße des Landes Tirol. Dann taucht das neue Almgasthaus auf und dann erst findet der suchende Blick die historische Almhütte hinter den Fahnen. Unten ist ein Einstellplatz für Vieh und darüber lagert das Heu. In dieser Hütte nahmen die Franzosen Hofer gefangen.

Der Hauptort des Passeiertals trägt den Namen des Hl. Leonhard. Dieser beliebte Heilige ist auch einer der 14 Nothelfer, auf dessen Beistand Bauern, Stallknechte, die Ställe selbst, das Vieh und die Pferde, die Schlosser, Schmiede, Fuhrleute, Lastenträger, Fassbinder, Obsthändler und Bergleute ebenso zählen wie Wöchnerinnen und Gefangene. „Leonhard erscheint oft als der bayerischste unter den bayerischen Heiligen“, in Bayern gab es in alter Zeit rund 150 Leonhardi- Wallfahrten. Heute sind es immer noch fünfzig. In Nord- und Südtirol zusammen gibt es sechs Ortschaften, die den Namen des Heiligen tragen: St. L. (Fraktion der Gemeinde Abtei), St. L. im Pitztal, St. L. (Fraktion der Gemeinde Brixen), St. L. (Weiler in der Gemeinde Kundl), St. L. (Rotte in der Ortschaft Äußere Großrotte der Gemeinde St. Jakob im Defereggen) und eben St. L. in Passeier.

Der Hl. Leonhard von Limoges hat leider nicht verhindert, dass der Hochaltar von der Hand des Tiroler Meisters Hans Klocker aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts im Zuge der Barockisierung der Kirche verkauft wurde. Zwei Figuren sind im Museum für mittelalterliche Kunst in Wien zu finden, zwei weitere stehen in Seefeld in Tirol. Und zu allem Überfluss musste später der barocke Altar wiederum einem neogotischen weichen.

Auf den ersten Blick einnehmend ist die Gewölbedekoration im gotischen Altarraum: Wo zwei Gewölberippen aufeinandertreffen, wurde ein Strauß Blumen (oder Heilkräuter, wie der Kirchenführer meint) hingemalt, die im Zusammenhang mit Glaubensfragen auf das Bild „Christus als Apotheker“ hinweisen: Christus bereitet „als Apotheker die Seelenarzneien zur Erlösung des an ihn glaubenden Menschen in seiner ,geistlichen Apotheke‘ selbst und ,dispensiert‘ umsonst, also ohne Gegenleistung, eigenhändig. Seit etwa 1650 taucht das Motiv auch in der katholischen Volkskunst auf. Der ursprünglich als Apotheker beim Wägevorgang dargestellte Christus wird dabei zum mit erhobener Rechten den Betrachter segnenden Heiland, der mit der Linken eine gleichgewichtige Handwaage als Symbol der Gerechtigkeit hebt. In enger Anlehnung an diese Motivgestaltung ist das katholische Sinnbild bis ins 19. Jahrhundert immer wieder als Andachts- und Kultbild und bis in die Gegenwart als besinnliches Schmuckbild in Apotheken und für Apothekerwohnungen gemalt worden.“

Über dem spätgotischen Taufstein aus dem Jahr 1545 wurde nicht nur Andreas Hofer 1767, sondern 1783 auch der nachmalige Beamte und Heimatkundler Johann Jakob Staffler getauft.

Auf der Anschlagtafel der Gemeinde sind unter dem Titel „Mädchen sein, Frau werden“ „Drei Gesprächsabende mit Mädchen ab 14“ angekündigt. Am 8. 5. behandelt man das Thema „Liebe, Freundschaft, Beziehungen“, am 13. 5. steht „der weibliche Körper“ im Zentrum des Interesses. Am 21. 5. wird das weite Feld des Frauseins auf eine praktische Frage eingeengt: „Verhütungsmittel und Methoden“. Der Nachsatz auf dem Plakat lautet: „Wichtig: Teilnahme nur mit Einverständnis der Eltern.“

Aus dem Frickhof, Johann Jakob Stafflers (1783– 1863) Geburtshaus, ist das Hotel Frick geworden, das sich auch als Restaurant, Café und Pizzeria bewirbt. Wir suchten nach einer Kaffeehausterrasse im Freien, doch damit allein war uns noch nicht geholfen, wir brauchten Schatten nach der sonnigen Mittags-Wanderung auf die Pfandler-Alm bei 30 Grad Celsius. Solchen Luxus bot der Stroblhof gleich nebenan. Die Kellnerin war eine fesche Person im Mini-Leinen- Dirndl, am ehesten vergleichbar mancher firlefanzreicher Sportalm-Hervorbringung aus der Speziallinie „Alpine Fun“, denn auf dem Kittel des Dirndls stand in Fraktur zu lesen: „Lebende Frau“. Sie war sozusagen als „weapon of mass seduction“ eingesetzt. Das hatte der Wirt gar nicht nötig, denn der Eiskaffee war verführerisch genug.

Der Franzosenfriedhof ist ein kleines Stück Rasen. Alle „im Gefechte beim Kolber und Ortsfriedhof allhier vom 19. bis 22. November 1809 gefallenen Franzosen“ liegen hier begraben. Es handelt sich um 200 Soldaten und 30 Offiziere. Auf Passeirer Seite kamen in diesen Kämpfen 23 Männer um.

Weiter hinten im Tal Richtung Timmelsjoch liegt die Gemeinde Moos in Passeier. Die berührendste Sehenswürdigkeit in Moos ist ein Grabstein an der Außenwand der Kirche zu Mariä Himmelfahrt, genauer die Tafel der ehemaligen „Haller’schen Grabstätte“. Das Bildnis des Alois Haller, Wirt in Moos, geboren 1874 in Walten und nach langem schweren Leiden in Moos 1922 gestorben, ist links und rechts von zwei Fotos flankiert. In der Mitte Vater Alois mit markantem Schnauzer, links sein Sohn Alois mit den Lebensdaten 1911–1917, rechts ist der nächste Sohn Alois abgebildet, ein Baby im weißen Kleidchen. Seine Lebensdaten lauten 1919–1920. Der Grabspruch „Das stille Grab erschreckt den Frommen nicht. Er hofft auf Gott und fürchtet kein Gericht“ klingt wie eine katholische Durchhalteparole angesichts des übergroßen Kummers, der Alois Haller senior angesichts seiner toten Buben bedrückt hat. Auf Friedhöfen werden Geschichten am lakonischsten erzählt: Der Protagonist der Geschichte lebte, bis er starb. Allfällige Bilder auf den Grabsteinen geben vor, ob die jeweilige Kürzestgeschichte in Dur oder in Moll zu denken ist. Alois Haller war, das ist sicher, ein trauriger Mann.

Der Pfelderer Bach hat sich tief in die Steine eingegraben. Donnernd stürzt und stäubt – Stuibenfall oder Stieberfall! – das Wasser ins Tal hinunter, um in die wilde Passer zu münden.

Auf dem Rückweg nach St. Leonhard passierten wir den Schildhof Gomion. Die Schildhöfe hatten besondere Rechte. Die Besitzer mussten keine Steuern zahlen, dafür hatten sie für kriegerische Auseinandersetzungen gerüstet zu sein. Die Schildhöfe selbst sind wehrhafte Gebäude, die Wohlstand anzeigen. Beim Schildhof Gomion steht eine im Jugendstil gestaltete, der Maria von Lourdes geweihte Kapelle.

Stuanegg, Waldegg und Tannenheim heißen, den Tatsachen entsprechend, Häuser außerhalb von St. Leonhard auf dem Rückweg in Richtung Jaufen. Und der Milchhof in Sterzing heißt Bayernland. Das wird wohl auch zu Recht so sein, eigenartig wirkt es doch. Was man darüber denken soll, überlegen wir uns bei der nächsten Etappe der Landvermessung in Sterzing.

2. Aus der Geschichte der Tiroler Freiheitskämpfe

Zwei der wichtigsten Tiroler Helden stammen aus dem hinteren Passeier: Die Geburtshäuser von Andreas Hofer und Georg Klotz liegen nur wenige Kilometer auseinander südlich bzw. nordöstlich von St. Leonhard. Nur wenig weiter im Süden beiderseits des Tales liegen zudem die Almen, auf denen sich die schicksalhaften Szenen von Verrat, Flucht und Niederlage abspielten: für Hofer die Pfandleralm östlich über St. Martin (s. Teil 1), für Klotz die Hütte auf den Brunner Mahdern etwas talaus hoch am westlichen Talhang. Die vier Punkte bilden ein sehr langgestrecktes Parallelogramm, wie eine Kompassnadel, deren Spitzen nach Südwest bzw. Nordost weisen und eine Linie bilden, die unter anderem Ortler und Olperer, St. Prokulus bei Naturns und Maria Rast bei Hainzenberg verbindet.

Die in diesem Landstrich verwurzelte Neigung, sich gegen übermächtige Feinde und ohne alle Hoffnung auf Erfolg mit der Waffe in der Hand zur Wehr zu setzen, könnte man vulgärhistorisch auf die Tradition der Schildhöfe im Passeier zurückführen oder vulgärgeografisch auf den Umstand, dass dieses Tal, wiewohl ziemlich genau in der Mitte des alten Tirol gelegen, so fern der Welt und von so hohen Bergen umgeben ist, dass ein realistischer Blick auf die Verhältnisse verunmöglicht wird.

Nach dem Frieden von Schönbrunn (14.10.1809) war die Sache der Tiroler bereits ganz offensichtlich verloren, die vierte Bergiselschlacht am 1.11. endete im Desaster, doch rief Hofer am 11.11. neuerlich zum Widerstand auf. „Fast alle Gerichte in Tirol ersuchten mich, gegen den Feind auf zu sein. Brüder, es ist nur um ein Kleins zu tun. Wenn wir nachgeben, ist Glaube, Religion, Volk und alles hin. Wer widerstrebt, ist ein Feind Gottes und des Vaterlandes.“

Doch von jenen Scharen, wie sie Hofers Laufzettel im Mai und August aus dem Boden gezaubert, war wenig mehr zu sehen. So mancher seiner vertrautesten Freunde blieb zu Hause trotz wiederholten Aufrufes oder machte sich unsichtbar, um den Insulten [= Anpöbelungen] Rasender zu entgehen. Der Sandwirt selbst zeigte sich abgespannt und unsicher. Er schreibt „Wenn die guten Patrioten die Sache noch nicht verstehen wollen, so wird es ihnen ergehen, wie es mir ergangen ist; hätte ich nicht freiwillig mitgewirkt, so hätten sie mir warmes Blei angetragen, und so wird es jedem gehen, der nicht mit der guten Sache halten will. Also tut ihr, was ihr nur könnt, damit wir miteinander leben und sterben.“

Am Abend des 17.11. marschierte eine französische Militärkolonne, vom Jaufen her kommend, in St. Leonhard ein. Die Franzosen sahen sich alsbald eng umschlossen, selbst die von ihnen noch besetzte nahe Jaufenburg mussten sie räumen und auf das Dorf sich beschränken. Eine eigenartige Kampfesszene entwickelte sich. Die festgebauten und höher ragenden Dorfhäuser wandelten sich in Festungstürme, in denen sich die einzelnen Soldatentrupps einnisteten. Gleich daneben in den anderen Hütten bargen sich die Bauern zur Blockierung, Beschießung und Stürmung des benachbarten Gegenüber.

Vier Tage lang tobte ein erbarmungsloser Kampf. Am Morgen des 22. sahen sich die Franzosen in die Dorfkirche und den Friedhof zusammengedrängt und mussten schließlich bedingungslos kapitulieren. An die tausend wurden gefangen genommen und vollständig ausgeplündert. Wilde Leidenschaft hatte zu lange regiert, als dass sogleich menschliche Regungen hätten Platz greifen können. Geld und Uhren waren besonders begehrt, auch die Mäntel und selbst die Rasierzeuge fanden Anwert. Hofer ließ aber die Beute bei sich im Hause aufstapeln, sie sollte jenen zugute kommen, die durch die Franzosen und Bayern ins Elend geraten waren. Nach seiner Flucht wurden Geld und Uhren verstreut und vergraben. Manches kam in den folgenden Jahren zum Vorschein. 1817 wurden darüber viele Verhöre angestellt. Bis dahin waren von den 40 erbeuteten Uhren 29 zustande gebracht und wurden in Bozen versteigert. Der Erlös, 272 Gulden, wurde dem Militärerziehungshaus in Hall zugewiesen.

Unmittelbar nach dem großen Sieg in St. Leonhard verliefen sich die Kämpfer, und was um Hofer im Sandhof zurückblieb, zechendes und lärmendes Gesindel, zusammengelaufenes Volk aus der Fremde und fragwürdige Existenzen der Heimat, das war jedem ruhigen und vernünftigen Gedanken unzugänglich. Als kurz darauf eine größere Truppe, 3000 Mann unter General Barbou, im Tal eintrifft, hat alles sich verlaufen; nicht ein Schuss empfängt sie. Auch Hofer wird nicht mehr gesehen.

Die Stimmung im Lande sei „sehr schlecht“, berichtet der bayerische königliche geheime Rat Baron Josef von Weichs anfangs Dezember. „Es blutet mir das Herz, wenn ich bei mir selbst überlege, wie die Gnade und Humanität unserer Regierung von dieser dummen, fanatisierten, hinterlistigen und doch feigen Nation gelohnt wird. Ich möchte stets mit Cato rufen, ceterum puto Tyrolim esse delendam. Wir erleben noch eine fünfte Insurrektion dieser niederträchtigen Kerls. Und wenn man mich in München auslacht, so erinnere ich daran, dass ich am 11. April auch ausgelacht wurde [d.h. vor der ersten Bergiselschlacht, Anm.].“

Hofer hielt sich im Pfandlerhof im Weiler Prantach, etwa eine Gehstunde über dem Tal, verborgen. Eine Delegation besonnener und geachteter Männer des Tales suchte ihn auf, um ihn dazu zu überreden, sich entweder den Franzosen zu stellen oder aber nach Österreich zu fliehen. Hofer lehnte dies barsch ab, immer unfreundlichere Worte folgten hin und her, bis er die Unterredung in barschester Weise abbrach: sie sollten sich marschieren!

General Baraguay d’Hilliers setzte einen Preis von 1500 Gulden auf dessen Ergreifung. Hofer fand es in seinem Aufenthalt nicht mehr geheuer. Er suchte mit seinem Schreiber Kajetan Sweth, genannt Döninger, die Alphütte seines Unterstandsgebers auf. Das eingelegte Heu war ihr Lager, ein Futtertrog das einzige, was sich als Möbelstück verwenden ließ. Gegen die grimmige Kälte mussten die Lucken zwischen den roh gefügten Bäumen notdürftig verstopft werden. Nicht bloß zum Kochen, sondern schon des Wärmens halber musste in dem unwohnlichen Raume tagsüber das Feuer beständig unterhalten bleiben. Noch immer gab es regelmäßigen Botendienst, doch mit einer gewissen Vorsicht. Hofer selber sprach von Flucht, doch der Gedanke daran, zu dieser Jahreszeit auch schwer ausführbar, gewann in Wirklichkeit niemals die Herrschaft über ihn. Wie festgewurzelt lag er in seiner Hütte. Gleich dem scheuen Wilde, das, aufgehetzt, in das Dunkel der Höhle sich birgt, um dann widerstandslos sich vom nachsetzenden Jäger fangen zu lassen, so blieb Hofer im unwirtlichen Versteck, taub gegen alle Vorstellungen der Getreuen.

Sein Hauswesen am Sand gehörte jetzt zu den ärmsten Häusern des Tales. Schon Mitte Dezember sprach man vom drohenden Konkurs. Die Gläubiger mussten, um das Wirtsgewerbe, die einzige noch mögliche Einnahmsquelle, nicht veröden zu lassen, mit eigenem Gelde Wein in den gänzlich entleerten Keller schaffen.

Gegen die Jahreswende erschien, nicht aufgehalten vom tiefen Schnee, Hofers Frau mit dem Sohne Johann; wenige Tage später gab es auf der Alm wieder eine Überraschung – keine willkommene. Angelockt durch Fußspuren und den aufsteigenden Rauch war Franz Raffl zur Hütte vorgedrungen, ein Mensch schlechtesten Leumundes. Höchlich erschraken die Insassen, mit einem Geldgeschenk hoffte der Sandwirt vom Unheimlichen Stillschweigen zu erkaufen. Doch umsonst!

Alle Welt kennt die Erzählung, wie der Kommandant von Tirol, sein Weib und Kind und sein treuer Döninger unter herzlosen Misshandlungen nach Meran geschleppt wurden. Tief ergriffen sah das Landvolk, das übrigens an diesem Tage nicht auf den Straßen Merans geduldet wurde, seinen gefesselten Führer einziehen, totenbleich, aber lebhaften Auges herumblickend, mit großen blutunterlaufenen Flecken im Gesicht und gerauftem Bart – Erinnerungszeichen an die Rohheit derer, welche sich seiner bemächtigt hatten. Das war am 28. Jänner; am 20. Feber wurde Hofer in Mantua nach einer Gerichtsverhandlung, deren Ausgang durch den Befehl Napoleons im Voraus feststand, erschossen.*

Georg Klotz, geboren 1919 in Walten in Passeier, gehörte zu jener Fraktion der Südtiroler Freiheitskämpfer, die in dramatischer Fehleinschätzung ihrer Kontrahenten die Italiener mit einem Schützenbataillon „bis hinter Trient“ hinunter jagen wollten. Darüber, was hinter Trient dann geschehen sollte, gab es keine detaillierteren Planungen. Nach den spektakulären Anschlägen des Jahres 1961 und dem brutalen Zurückschlagen der italienischen Staatsmacht gab es nur wenige, die nicht aufgeben wollten, unter ihnen Luis Amplatz und Georg Klotz, die nach Österreich geflüchtet und hier zum Aufenthalt in Wien verpflichtet worden waren.

Die Geschichte von der letzten gemeinsamen Aktion der beiden, dem Grenzübertritt, dem Feuerüberfall in der Nacht vom 6. auf 7. September 1964 in der Hütte auf den Brunner Mahdern über Saltaus im Passeier, bei dem Amplatz erschossen wurde und Klotz sich schwer verwundet und barfuß über die Berge zurück nach Österreich retten konnte, ist bis heute nicht restlos aufgeklärt. Der dritte im Bunde, Christian Kerbler, höchstwahrscheinlich ein Agent der Italiener, seither wegen Mordes gesucht, ist bis heute flüchtig und unbekannten Aufenthalts.

Klotz, schon vorher kein einfacher Zeitgenosse, wird in einer Zeit der intensivierten Versuche, zu einer gütlichen Einigung in der Südtirolfrage zu kommen, ob seiner unbeugsamen Haltung zunehmend zum „Störfaktor“, wie seine Tochter, die Südtiroler Politikerin Eva Klotz, schreibt. „Gesundheitlich angeschlagen, vom ,Gastland‘ Tirol im Stich gelassen, zieht er sich in die Waldeinsamkeit zurück. Dort ereilt ihn, den Heimwehgeplagten, 1976 der frühe Tod.“ Zuletzt hatte er unter elenden Umständen als Köhler in der Sillschlucht bei Innsbruck gelebt.**

Fortsetzung folgt.

* Material nach Josef Hirn, Tirols Erhebung im Jahre 1809, 2. Auflage, Innsbruck 1909, S. 785 ff.
** Lit. Walter Klier, Aufrührer, Roman, Wien 1991. Eva Klotz, Georg Klotz. Freiheitskämpfer für die Einheit Tirols. Eine Biographie. Wien 2002

 

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