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Das Gesehene schlägt zurück

Peter Kogler hat den Umschlag dieser Ausgabe von Quart gestaltet: In seinem jüngst in der Innsbrucker Galerie im Taxispalais errichteten Raum inszeniert er den menschlichen Körper in einer „Strömungsanlage“. Von Thomas D. Trummer

Ein engmaschiges Liniengewirr überzieht alle Flächen. Die Striche durchziehen Decke, Boden und Wände ohne erkennbare Unterbrechung. Die meisten laufen parallel, andere durchschneiden, überkreuzen oder verweben sich. Eigentlich besitzen die Linien gleiche Stärken. Doch führen Überlagerung und Engführung zu lokalen Schwärzungen. Ordnungen sind unter diesen Vorzeichen schwer auszumachen, eher chaotische Kurven, Verdichtung und beständiges Fließen. Am ehesten formiert sich Stabilität an den Wänden, wo – mit einiger Mühe – Rasterstrukturen vernehmbar werden. Allenthalben bilden waag- und senkrechte Strichlagen ein dürftig intaktes Maschenwerk. Jedoch werden diese Segmente empfindlich gestaucht. Linien schwingen aus, formen Wülste, Beulen treten auf und Schwellungen. Die Kubatur wird verabschiedet. Die diskrete Form wird derart üppig von linearen Adern durchzogen, dass ein optischer Überschuss entsteht, der dem Auge Unendlichkeit aufdrängt. Gefühlt am stärksten sind die Wölbungsenergien an Decke und Boden. Flächen dringen nach vorn oder nach rückwärts, je nach Blickweise, stülpen ein oder aus, stoßen wie bauchige Wellen aus dem Gemäuer oder schaffen Tiefen und Höhlungen. Fixpunkte gibt es unter diesen sturmgetriebenen Streck- und Dehnschocks keine. Vielmehr wogt der Festkörper des gebauten Raumes unter der Einwirkung spontaner Stürme, quillt unter mysteriösen Druckwellen oder wirbelt wie in einem Sog unwillkürlichen Seegangs.

Die Grafik
Von Peter Kogler stammen Bild, Raum und Inszenierung. Für seine jüngste Arbeit in Innsbruck wählt er einen rechtwinkeligen Raum in der Galerie im Taxispalais. Maße und Gegebenheiten werden nicht verändert, nur die Bedingungen der Wahrnehmung. Kogler benutzt Grafikprogramme für die Entwicklung raumgreifender Illusionen. Die am Computer entworfenen 3-D-Bilder werden mit Großprintern ausgedruckt und an die realen Wände des Palais appliziert. Jede Arbeit Koglers ist in situ, das heißt auf den Raum abgestimmt und unverwechselbar. Die Erfahrung mit großformatigen Räumen ist seine Exzellenz. Man denke an die großartige Deckeninstallation am Grazer Hauptbahnhof. Software und Designfacetten sind dafür weniger entscheidend als das Ergebnis, eine Verzahnung aus Raum, Höhle, Bühne und Zeichnung. Am Innsbrucker Raum ist nichts schematisch. Modulstruktur und wiederkehrende Einzelelemente, wie früher, als keine Großplotter zur Verfügung standen, gibt es nicht mehr. Am Ende entsteht eine raumgreifende Grafik, die in ihrer Feinstruktur einem monumentalen Holzschnitt ähnlich wird, so als würde man sich in einer Nahansicht von Dürers Stichwerken verlieren. Doch Kogler geht es weniger um grafische Raffinesse. Programmatisch wird die Veränderung der Bestandsarchitektur durch digital generierte Effekte: die komplette Ausgestaltung eines Realraums und seine optische Mobilisierung durch Wahrnehmungssuggestion.

Der Raum
Tatsächlich ist der Raum kaum wiederzuerkennen. Aus dem bestehenden White Cube wird eine schwimmende Zelle, eine Strömungsanlage, ein progressiver Sammelraum dynamisierter Perspektiven. Wie im Zeitalter des Barock, als sich an Kirchendecken illusionistisch Räume dehnten, verursachen die Linien bei Kogler famose Täuschungen. Im Barock waren konkrete Punkte am Boden vorgesehen, meist im zentralen Mittelschiff oder unter der Vierung. Von dort aus erhielten reich bevölkerte farbige Decken eine stimmige Fassung. In Koglers Arbeit gibt es diesen irdischen Punkt nicht. Die pointierte Übersicht für das wachende Auge ist aufgegeben. Kogler bedient sich weder einer zentralen Perspektive noch eines klaren Gegenübers, ja selbst die Schwerkraft gerät ins Wanken, da der ganze Raum von der Zentrifugalkraft der fahrenden Schwingungen durchsetzt ist. Es ist die Eigenaktivität des Betrachters und nicht nur ein perfekt gesetzter Augenpunkt, der zum Hauptfaktor für die Illusion wird. Das Sehen wird dabei in gewisser Weise dynamisch reflexiv. Wer nämlich den Raum betritt, spürt die Kraft der fließenden Vektoren, die vom eigenen Betrachten ausgehend auf die Befindlichkeit zurückschlagen. Sehen unter solchen Umständen ist irritiertes Eingenommen-Werden. Der Raum umfängt Betrachter/innen mit einer Intensität, die bei manchen Schwindel erzeugen wird, in jedem Fall die Unterscheidung von Selbst und Anderen, von Sehendem und Gesehenem, ins Wanken bringt. Wechselwirkungen treten auf, wobei Verunsicherungen überwiegen. Reale Begegnung trifft auf Verfehlung, Fokus auf Irritation, Bedürfnis nach Selbst- und Sehversicherung auf Irreführung.

Das Bild
Die Auflösung des herkömmlichen Wahrnehmungsbegriffs erweist sich schon seit Längerem als das stärkste Instrument der zeitgenössischen Kunst. In diesem Sinne denkt Kogler Dasein stets als ein Wahrgenommen-Werden. Angeregt durch die Computerisierung werden die Distanzverhältnisse von Befindlichkeit und Wahrnehmung umgekehrt. Dazu kommen speziell Räume, die Fluktuation und Verteilung kennzeichnen – wie U-Bahn-Stationen, Flughäfen oder Treppenhäuser – die Kogler immer wieder bespielt. An allen diesen Orten drehen sich Wahrnehmungsautoritäten. Das Gesehene schlägt zurück; wahrscheinlich deshalb, weil durch virtuelle Raumgestalt Umgebungsatmosphären beginnen, mit Beobachtungsräumen zusammenzufallen. Die herkömmliche Hochachtung vor dem Bild, zum Beispiel dem historischen Gemälde, das als visueller Eintritt in die dargestellte Situation verstanden wurde, wird durch den tatsächlichen Eintritt in das Bildgefüge unterhöhlt und zugleich überboten. Aus dem gerahmten Bild, dem Möglichkeitsraum eines Sehfeldes, wird ein Wirklichkeitsraum und Bewegungsareal. Keine Frage, dass dies zur Erschütterung gewöhnlicher Zeigeverhältnisse und Repräsentationsfragen führen muss. Während die traditionelle Kunstausstellung überwiegend gerahmte oder auf Postamente gestellte Objekte zeigt, präsentiert der von Kogler entworfene Raum das Eingebettete und das Einbettende zugleich.

Immersion
Von Immersion zu sprechen, ist wahrscheinlich der richtige Hinweis, um jene Einebnung zu begreifen, die sich durch konsequente Entrahmung vollzieht. Es wurde schon klar: was Augen hier registrieren, ist nur die halbe Wahrheit. Bewegung scheint nötig, doch diese provoziert nur noch mehr Irritation. Bilder verfügen über Rahmen. Diese Rahmen markieren die Grenzen, nach denen klar wird, was sich innerhalb der Illusion und jenseits von ihr zuträgt. Mit anderen Worten, Unterscheidungen sind nötig. Fiktion entsteht nur, wo sich der Vergleich mit dem Realen darbietet. Immersion bedeutet dagegen eine Außerkraftsetzung des Sehens als Distanz-Wahrnehmung und zudem die Aufhebung seiner ontologischen Differenz. Betrachtung zerschmilzt zum Binnenphänomen des Bilds. Der fiktive Aufenthalt vor einer gemalten Illusion, zum Beispiel vor dem Tisch eines Stilllebens, in einem mythologischen Garten oder auf hoher See, erwirbt in diesem Raum Wahrheitsdimension. Wir sehen diese Motive nicht nur, wir befinden uns in ihnen. Seinsunterschiede werden sich dann keine mehr ergeben.

Die Sinne
Immersion im Visuellen, das ist an diesen Beispielen klar abzulesen, bedarf noch weiterer struktureller Bedingungen, um glaubwürdig zu werden. Optisches Eintauchen kann nämlich nur dann gelingen, wenn sich Visuelles den räumlichen Sinnen vergleichbar macht. Sehbares wird in erfülltem Raumvolumen Hören und Riechen ähnlich werden. Klangereignisse erschüttern ganze Räume, Gerüche durchströmen sie, ohne konkret fasslich zu werden. Das heißt, erst wenn sich der Fokus der Wahrnehmung aufhebt, tritt die ontologische Verwirrung in Kraft. Tatsächlich verliert bei Kogler das Sehen im Wettbewerb der Köpererfahrungen seine Vormachtstellung. Denn wo es keinen Halt und Horizont gibt, wird die blickgerichtete Aufmerksamkeit absurd. Anders gesagt: Betrachter/innen sind erst im Bilde, wenn sie den Bezug zu ihm verlieren. Erfahrungen wie in Koglers Innsbrucker unwirklichem Schnittraum sind solche Erfahrungen. Sie sind de facto Schwingungserlebnissen ähnlich, in denen zu Seherfahrungen die körperlichen der Bewegung, des Raumgefühls und der Befindlichkeit hinzutreten. Der starre Raum verflüssigt sich in Resonanz und Rückbezüglichkeit.

Leere
Neben den optischen Überschuss tritt sein Gegenteil: das Gefühl der Leere. Die Leere ist die Folge der Überforderung durch das dynamisierte Liniengeschehen. Dabei ist sie weder innen noch außen. Sie resultiert aus einer gefühlten Wahrnehmungsgefährdung. Bekannte Festgrößen des Erlebens werden bipolar und widersprüchlich. Die Standfestigkeit zum Beispiel wird gefährdet, Vagheit überkommt das Körperempfinden, die konvulsivische Bodengestaltung verunsichert den Tritt. Tatsächlich wird angesichts der kontrahierenden Raumenergien die Gravität, die uns normalerweise den aufrechten Gang sichert, wie zu einem zweitrangigen Gesetz. Wer sich in den Raum einfühlt, wird kaum vermeiden können, Zustände psychophysischer Spannungen zu entwickeln oder die Transgression in das Unendliche als erleichternde Selbstauflösung zu betrachten. Nicht unwahrscheinlich, dass es sich bei Koglers Kunstraum um eine letzte anthropogene Insel handelt, eine Vision zukünftigen Daseins und Einfindens, wo Menschen sich in elastischen Raumgrenzen bewegen, als wären sie Weltraumgänger in biegsamen Allstationen. Kogler weist mich im Gespräch auf „2001: Odyssee im Weltraum“ (1968) hin. Der bekannte Science-Fiction-Film von Stanley Kubrick zirkelt menschliche Bewegungen ohne Gravität. Schauspieler und Figuren werden aus Koordinaten und filmischer Kadrierung entkoppelt, schweben, gleiten, treiben, schwingen. Und trotz dieser Bewegungen bemüht sich Kubrick um eine Langsamkeit. Es ist die geronnene Stille, mit der er Oberflächen – ganz ähnlich wie Dürer – geschmeidig wie Seide werden lässt. So auch bei Kogler, der auf Oberflächen großen Wert legt. Mensch und Raum scheinen wie Symbioten, die in einem optischen Treibhaus koexistieren. Alles Anderssein ist darin verdrängt, vergessen, verschwunden. Vielleicht sei das Wortspiel von einer visuellen Strömungsleere hier erlaubt. Eine Nische für Privatraum oder Persönliches, oder gar ein Raum für Selbstverhältnisse ist nicht vorgesehen.

Das Modell
Der Raum im Taxispalais ist in diesem Heft als Bild wiedergegeben. Anders ist dies nicht möglich. Wir sehen eine inszenierte Fotografie. Die Aufnahme erinnert ein wenig an Lehrbilder mathematischer Perspektive oder Schulbuchillustrationen zur Wahrnehmungspsychologie. Die Teilhabe an Resonanz, Unendlichkeitsgefühl, Schwindel und Mobilisierung tritt im Foto merklich zurück. Aus dem Raumerlebnis wird in der Bildversion ein flächiges Derivat. Orthogonalen kommen ins Spiel, das festigende Rahmenwerk und ein geschlossenes Bildgefüge. Kogler kompensiert den Sinnverlust mit der Implementierung eines Fremdkörpers, der der eigene sein könnte. Ein weibliches Modell steht in der Mitte. Sie ermöglicht Größenvergleich und Identifikation, zudem gibt sie den wichtigen Körperbezug mit seinen möglichen Bewegungsradien wieder. In einem Foto blickt sie uns entgegen. In einem zweiten Bild sehen wir sie von hinten, wie sie nach vorne hin wegschreitet, so als würde sie vor uns in den bewegten Raum hineinführen. Das Modell trägt einen körperengen Anzug. Nur Füße, Hände und Kopf sind frei. Ihre Beine sind in elegantem, körperbetonendem Schritt hintereinandergesetzt. Ihr Auftritt erinnert an einen Catwalk, perfekt inszeniert auf einer virtuellen Probebühne. Anstatt sich jedoch durch Mode und Accessoire abzuheben, findet eine optische Angleichung statt. Die Porträtierte nimmt das Liniengewebe des Umgebungsraums auf. Sie absorbiert den schwarz-weißen Strömungsverlauf, als hätte sie die Fähigkeit zu Camouflage und vollkommener Assimilation. Wenn herkömmliche Phänomenologie von Befinden spricht, dann müsste diese Figur als Netzwerkidentität und Containerexistenz benannt werden. Das Modell wird zu einer digital gerenderten Binnenfeldsilhouette, ein Umriss von Knotenpunkten im Kanal schwarzfiguriger Geflechte. Wer ist diese Frau? Ist sie eine Puppe oder eine vom Sockel gestiegene Skulptur? Warum wird sie typisiert wie ein Avatar? Warum ist ihre zweite Haut mit demselben Anstrich lackiert wie der durchgitterte Umgebungsraum? Wie steht es mit dieser Angleichung? Ist die Wesensgleichheit von Figur und Raum erworben oder digitale Vorbestimmung? Ist der menschliche Körper, der weibliche zumal, ein Simulakrum raumplastischer Bewegungskräfte? Oder sind nicht eher die Muskeln, Brüste, Gelenke usf. der Frau die entscheidenden Formreize, nach denen sich die architektonische Umwelt ordnet? Im Grunde gibt es nur zwei mögliche Antworten: Entweder die Mobilisierung des Raumes setzt Kräfte frei, in denen Menschen, die ihn betreten, zu Abziehbildern umweltlicher Spannungen werden. Oder Menschen entwickeln die Fähigkeit, durch Bewegungsverhalten und Illusionskraft bewegliche Raumprofile zu generieren, die der Raum nach ihrem Ebenbilde annimmt. Worin auch die Ursachen zu suchen sind, die virtuelle Welt verschmilzt mit der wirklichen.

 

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