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Brenner-Gespräch (11):
„Das Problem ist wie so oft die Angst.“

So viele Leute fahren über die Alpen nach Italien. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause und einem Gespräch. Folge 11: Arash T. Riahi, der österreichische Filmemacher mit iranischen Wurzeln, spricht mit Michael Kerbler über seinen jüngsten Film „Everday Rebellion“, die Macht des gewaltfreien Widerstandes, das Verschmelzen mit der Kamera und ein gelungenes Leben.

Michael Kerbler: Stéphane Hessel, der große alte Mann der französischen Menschenrechtsbewegung, initiierte den Aufruf „Empört euch!“ Er schrieb: „Neues schaffen heißt Widerstand leisten, und Widerstand leisten heißt Neues schaffen“. Ihren Film „Everyday Rebellion“ könnte man auch mit „Empört euch!“ übertiteln. Wann ist die Idee zu diesem Film entstanden?

Arash T. Riahi: Anlass für das Projekt, das ich mit meinem Bruder Arman gemacht habe, war im Jahr 2009 die grüne Protestbewegung im Iran. Da gingen Millionen Menschen auf die Straßen, um friedlich zu protestieren. Es gab einen großen Schweigemarsch und da kam plötzlich Hoffnung auf. Bis dahin hatten wir uns immer gefragt: Wie kann es sein, dass im Iran nichts passiert, warum akzeptieren die Menschen dieses System?
Wir sind ja beide Kinder von Flüchtlingen. Anfang der 1980er-Jahre sind wir mit unseren Eltern nach Österreich gekommen und seitdem können wir nicht zurück in den Iran. Das heißt, wir haben ein prinzipielles, natürliches Problem mit Diktaturen und mit der Diktatur im Iran. Wir hatten auch schon vorher eines – mein Vater war als Linker auch unter dem Schah fünf Jahre lang im Gefängnis. Uns ist durch die Erziehung der Eltern – sagen wir – ein humanistischer Geist in die Wiege gelegt worden. Als 2009 diese grüne Bewegung im Iran entstand, dachten wir: Wir müssen etwas machen! Es war auch die Zeit, wo Mobiltelefone zu Zeugen der Ereignisse, zu Zeugen der Realität wurden. Die Protestbewegungen begannen, ihre eigenen Medien zu kreieren und sich nicht mehr darauf zu verlassen, dass Massenmedien über ihre Bewegung berichten müssen, um als relevant dazustehen. Plötzlich standen hunderttausende Videos auf YouTube, und zwar sofort, man konnte sie nicht alle löschen und verschwinden lassen. Plötzlich gab es eine neue Art von Rebellion.

M. K.: Sie wollten also einen Film über die grüne Bewegung im Iran, über das Aufbegehren dort, machen?

A. R.: Ganz genau, der Arbeitstitel lautete „Iran Evolution“. Es ging uns um das Phänomen „zwei Gesellschaften in einer“, darum, dass hinter einer Fassade plötzlich etwas ganz anderes geschieht. Doch dann kam der Arabische Frühling, die Indignados-Bewegung entstand und „Occupy Wall Street“ wurde zu einem weltweiten Phänomen. Allen diesen Bewegungen war ihre horizontale Struktur gemeinsam, keine hatte einen „Führer“, auch die Maidan-Bewegung nicht, die später entstand.

M. K.: Aber es gab noch ein weiteres gemeinsames Merkmal dieser Bewegungen.

A. R.: Ja, wir haben erkannt, dass alle diese Bewegungen gewaltlos agieren, dass das eigentlich der wichtige gemeinsame Nenner ist. Der historische Erfolg von Gewaltlosigkeit ist inzwischen empirisch bewiesen. Erica Chenoweth und Maria Stephan haben ein Buch verfasst – „Why Civil Resistance Works“ – und die beiden haben Protestbewegungen seit 1900 bis 2006 untersucht. Erica Chenoweth kommt eigentlich aus dem Militärberaterbereich, sie war selbst von dem Faktum überrascht, dass gewaltloser Protest eine um zwei Drittel höhere Chance hat, positive Veränderungen zu bewirken. Auch wenn wir heute unglaublich viel Gewalt in den Medien sehen, in der Realität gibt es heutzutage weniger Gewalt als vor 100 Jahren – statistisch gesehen.

M. K.: Die Botschaft Nummer eins des Films lautet: Gewaltfrei Widerstand zu leisten ist on the long run erfolgreicher als gewaltsam Widerstand zu leisten. Die zweite Botschaft haben Sie schon kurz angesprochen: Die neuen Bewegungen sind „kopflos“.

A. R.: Es ist eine Tatsache, dass man einen Anführer oder eine Führerriege leichter fassen und eliminieren kann. Der Demokratisierungsprozess, der in den Aufstandsbewegungen stattgefunden hat, macht die Gruppen stärker. Es gibt eben nicht mehr die Anmaßung zu sagen: Ich weiß es besser als ihr, ihr macht, was ich euch sage und ich werde dann später zum nächsten autoritären Herrscher. Das ist etwas, so glaube ich, was die Menschen aus der Geschichte gelernt haben. Dieser Demokratisierungsprozess hat bewirkt, dass man jetzt versucht, aus der Kraft der Community heraus und mit der Gemeinschaft eine neue Welt zu bauen und nicht aus der Intellektualität eines Führers oder eines charismatischen Rebellen heraus. Wir haben ja in der Geschichte gesehen, wie schlecht das gelaufen ist.

M. K.: Was man akzeptieren muss, ist, dass gewaltfreier Widerstand dort eine Chance hat, wo es eine aufgeklärte Öffentlichkeit und demokratische Massenmedien gibt, die als Kontrollinstanzen fungieren. Gewaltfreier Widerstand gegen die Dschihadisten des Islamischen Staats (IS) oder gegen Baschar al-Assad oder in autokratischen Systemen wie in der Volksrepublik China würde bald enden, weil es weder eine große Öffentlichkeit noch freie Massenmedien gibt, die darüber berichten dürfen. Mahatma Gandhi hatte das Glück, es mit einem demokratisch verfassten Staat, nämlich England, zu tun zu haben. Hätte er es mit Muammar Gaddafi zu tun gehabt, hätte der Aufstand sicherlich nicht so geendet, wie es geschichtlich gelaufen ist – wage ich jetzt mal zu behaupten.

A. R.: Ich wage das Gegenteil zu behaupten. Was sagen Sie zu Ägypten? Mubarak war genauso. Oder in Tunesien? Was ist mit Polen gewesen – Solidarnos´c´? Was ist mit der Apartheid-Bewegung in Südafrika gewesen? Es gibt genug Gegenbeispiele. Es geht um die Taktiken des gewaltlosen Widerstands. Empirisch ist belegt: Wenn man es schafft, eine gewaltlose Kampagne mindestens zweieinhalb Jahre durchzuhalten, dann hat man Erfolg. In Syrien waren es nur sechs, sieben Monate. IS wäre nie so schnell vorangekommen, wenn die Landlords und die Stämme und Stammesfürsten in diesen Gegenden nicht mitgemacht hätten. Natürlich, wenn man sich auf der Straße gegen blutrünstige Mörder stellt und gewaltlos protestiert und demonstriert, dann kennen die kein Erbarmen. Trotzdem – die können 100 Leute erschießen, aber sie können nicht 100.000 Leute erschießen. Das Problem ist wie so oft die Angst. Alle Populisten, alle rechten und nationalistischen Parteien, alle islamistischen Parteien beziehungsweise radikal-religiösen Parteien – all diese Gruppierungen benutzen das Instrument der Angst. Und ein Grundsatz des gewaltlosen Widerstands lautet: Den Menschen muss man die Angst nehmen, durch lebendige Proteste, durch Humor, durch’s Lachen. Menschen, die lachen, haben weniger Angst, die trauen sich etwas.

M. K.: Wenn man Ihre „Everyday Rebellion“-Website besucht, kann man lesen: „Everyday Rebellion ist ein Kino-Dokumentarfilm mit Crossmedia-Plattform über die Macht des gewaltlosen Widerstands und neue Formen des zivilen Ungehorsams in einer Zeit des globalen Umbruchs.“ Zusätzlich gibt es auch eine App für Smartphones. Wozu dient die? Als eine Art Anleitung zur Frage „Wie organisiere ich gewaltfreien Widerstand“?

A. R.: Nein. Unser Ziel war es, einen Kino-Dokumentarfilm zu drehen, der verschiedene Aktivisten über einen bestimmten Zeitraum begleitet, was auch als eine Art Zeitzeugnis über die Bewegungen „Occupy Wall Street“, Indignados, FEMEN, die iranische Bewegung und die arabischen Bewegungen gesehen werden kann. Überdies nutzen wir die Online-Plattform, weil wir die Grenzen des Kinos, des Kinobetriebs und des Films überwinden wollen. Ein Film wird vielleicht irgendwann alt, er kann ja nicht mehr verändert werden, wenn er fertig ist. Für uns ist das Ganze eine Art Lebensprojekt, weil wir wollen, dass das Thema weiter besteht und auf dieser Plattform weiterentwickelt wird, da wir neue Inhalte hinzufügen können. Aus diesem Grund haben wir jetzt auch diese mobile App, diese „Everyday Rebellion“-App kreiert. Mit der kann man spielerisch umgehen. Die zwei Hauptideen sind: Erstens kann man Graffitis oder Slogans, die man auf der Straße sieht, fotografieren. Wir laden auch internationale Graffiti Artists ein mitzumachen. Wir wollen diese Fotos von den Künstlern und den Aktivisten bekommen, damit wir sie verewigen können, denn die Graffitis, die am nächsten Tag vielleicht wieder weg sind, sollen für immer erhalten bleiben. Zweitens hat jeder Benützer der App eine Auswahl von Slogans zur Verfügung, zum Beispiel „The only good system is a sound system“ oder „Their fear is our power“ – diese Sprüche kann man der App entnehmen. Zusätzlich gibt’s über die Plattform Zugang zu Videos oder Programmen, die man im Alltag brauchen kann, etwa wenn man mithilfe einer Software wie Callnet miteinander in Verbindung treten möchte oder wenn das Internet abgedreht wurde. Oder wie man einen Protest filmen soll, ohne jemanden in Gefahr zu bringen. Wie man eine Presseaussendung schreibt und eine Message darin versteckt. Was man machen kann, wenn man in einen Tränengasangriff gerät.

M. K.: Das heißt, dieser Film wird nie zu Ende sein.

A. R.: Ja … und das wiederum beschert uns ein Problem, denn Filme haben nur eine bestimmte Summe Geld, mit der man arbeiten kann. Uns geht deshalb das Geld aus. Wir wollen im nächsten Monat eine Crowdfunding-Kampagne starten, um die Community, die wir aufgebaut haben, zu mobilisieren, damit sie uns finanziell unterstützt, um die Plattform weiter am Leben zu erhalten.

M. K.: Der deutsche Soziologe Wolf Lepenies hat, als die 68er-Bewegung aktiv war, zum Thema Film und Revolution gemeint: „Der Film mag Revolutionen zeigen. Durchs Zeigen kann er keine Revolutionen stimulieren, auch kein revolutionäres Bewusstsein und erst recht keine revolutionäre Gewalt.“ – Kann „Everyday Rebellion“ etwas, was der Film damals nicht gekonnt hat?

A. R.: Ich bin zu hundert Prozent überzeugt, dass ein Projekt wie „Everyday Rebellion“ gesellschaftspolitische Zustände verändern kann, ja. Wir sehen, dass die Web-Plattform benützt wird. Zum Beispiel wurden von syrischen Aktivisten 23 Videos angefordert, die sie arabisch untertitelt haben und jetzt im syrischen Untergrund verwenden. Wir bekommen laufend Anfragen, letztens aus Ungarn. Die wollen, dass wir dort das Projekt präsentieren, weil die politische Situation dort so schlimm geworden ist, dass sie Anleitungen bekommen möchten, wie sie was machen sollen. Und wir haben zum Beispiel von der Gezi-Bewegung in Istanbul gehört, dass der Link zu unserer Website und der Trailer permanent verschickt werden.

M. K.: Sie kennen sicherlich jenen Gedanken von Jean-Luc Godard, es gelte, keine politischen Filme zu machen, sondern Filme politisch zu machen. Ist das, was Sie gedreht haben, ein politischer Film, oder ist es ein Film, der auch eine politische Botschaft hat, aber nicht in dem Sinne, als Werkzeug, als Aufruf zur Rebellion oder Revolution zu dienen?

A. R.: Ich glaube, beides fließt ineinander. Das kann man nicht so kategorisch voneinander trennen. Die Plattform ist sicher ein Werkzeug, um Tools des Widerstands, Inspiration und Ideen zu verbreiten. Was den Film angeht: Wir sehen uns vordergründig auf jeden Fall als Filmemacher und wir haben versucht, einen Film zu machen, der als Kinofilm funktioniert, auch wenn man viele Inhalte und Tipps mitbekommt. Diesmal wollten wir in den Vordergrund stellen, dass es verdammt viele Menschen gibt, die etwas gegen diese ungerechten Zustände unternehmen, und dass jeder von uns ein Teil davon sein kann. Aber noch etwas wollten wir vermitteln: die Sinnlichkeit des Protests. Deswegen sieht der Film auch so aus, wie er aussieht. Er ist kein verwackelter Aktivistenfilm, sondern einfach ein schöner, ästhetisch ansprechender Film, der allerdings nicht ästhetisierend ist, sondern – und das wurde in sehr vielen Kritiken positiv bewertet – versucht, dieses besondere Gefühl zu vermitteln, die Poesie und Schönheit dieser Menschen. – Schönheit in dem Sinne, dass jeder, der aufsteht und etwas macht, etwas Schönes an sich hat.

M. K.: Hätte Godard den Film gesehen, dann hätte er vielleicht seine Aussage wiederholt: „Ein guter Regisseur ist eine Person, die die Kamera dazu benutzt, um etwas zu sehen, was man ohne Kamera nicht sieht.“ – Es gibt einige Filmsequenzen, wo ich mir gedacht habe, solche Details sieht man nur mit der Kamera. Ich meine damit etwa jene Filmszene, wo ein junger Mann vor einem Berg gelb-oranger Pingpong-Bälle sitzt und etwas in arabischer Schrift daraufschreibt.

A. R.: Ja, „free Syria“.

M. K.: Später kollern hunderte dieser Pingpong-Bälle, einem Wasserfall ähnlich, die Treppen hinunter und die Menschen heben die Bälle auf und lesen und beginnen miteinander zu reden. Diese Gesichter, die man dann sieht, die Reaktionen, die Überraschung, das alles sieht man so nur mit der Kamera.

A. R.: Oder die Szene, wo dieser eine Luftballon in New York zwischen den Autos und der Polizei schwebt – und nichts kann ihn aufhalten. Das ist schon etwas, was für mich persönlich ganz wichtig ist, diese poetischen Elemente, diese Dinge, die man eben, wenn man ganz tief drinnen ist, entdecken kann und die auch nie in einem Massenmedium gezeigt werden würden, weil man sich nie die Zeit nehmen würde in unserer schnelllebigen Zeit der Schlagzeilen.

M. K.: Ein letztes Mal Godard –

A. R.: Ich liebe ihn!

M. K.: Er hat diesen wunderbaren Film „Der kleine Soldat“ gedreht. Da lässt er seinen Protagonisten sagen: „Das Kino ist die Wahrheit 24 mal pro Sekunde.“ – Welche Wahrheit wollen Sie mit dieser Art von Dokumentation in „Everyday Rebellion“ zeigen?

A. R.: Ich will Bilder zeigen und Menschen, die sonst nicht so zu Wort kommen. Bilder, die man vielleicht nicht sehr oft sieht. Ich schere mich nicht um Dogmen, um die Dokumentarfilm-Polizei, die sagt, ein Dokumentarfilm darf keine Musik enthalten, das oder jenes darf nicht vorkommen. Mir geht’s eigentlich um die Frage: Was genau ist das Thema und wie spricht das Thema zu mir? Ich glaube, es war Michelangelo, der einmal gesagt hat: „Man muss die Statue vom Marmor rundherum befreien.“ So ist das oft auch mit Filmthemen. Ich sehe etwas in der Realität, und die Realität des gewaltlosen Widerstands ist extrem vielseitig, extrem lebendig. Es wäre, finde ich, nicht der richtige Zugang, wenn man dort einen trockenen, rein beobachtenden „Direct Cinema“-Zugang wählen würde. Dann würde man sehr vieles nicht verstehen.

M. K.: Ursprünglich waren Interviews in „Everyday Rebellion“ nicht vorgesehen, richtig?

A. R.: Ja, richtig, die waren eigentlich nur für die Recherche gedacht. Wir sind dann allerdings draufgekommen, dass es einen großen Unterschied macht, ob ich von der amerikanischen Aktivistin Monica Hunken selbst erfahre, warum sie auf der Straße demonstriert und dass ihr Vater in einer Fabrik Krebs bekommen hat, weil die Lüftungsanlagen verseucht waren und nichts dagegen getan wurde. Es ist auch wichtig, dass ich bei jemandem wie Inna Schewtschenko von FEMEN verstehe, dass ihr Hintergrund ein ganz anderer ist: Sie kommt aus einer guten Familie und hat in der besten Universität Journalismus studiert. Und einmal, an einem Tag, wo sie protestieren ging – nicht einmal „oben ohne“ – hat ihr der Arbeitgeber am nächsten Tag gesagt, entweder du protestierst oder du arbeitest. Ihre Motivation war: Sie kämpft für die anderen. Deshalb wurde sie entlassen. Das sind wichtige Aspekte, die man sonst nicht erfahren hätte. Im westlichen Kino spielt die Distanz immer eine sehr wichtige Rolle. Man betont, es sei wichtig, dass man Distanz zu seinem Thema bewahre. Ich will eigentlich das Gegenteil. Ich will ganz nah ran, ich will das verstehen. Wenn ich einen Film über einen Obdachlosen mache, dann kann ich den nicht die ganze Zeit beobachten, sondern muss mit dem in sein Loch gehen, ich muss vielleicht dort schlafen, ein Teil von seinem Leben werden, um das wirklich mit Haut und Haar zu spüren. Und so haben wir auch bei den Aktivisten gearbeitet. Wir haben denen gesagt, wir sind da, das ist unser Background. Wir waren mit denen Tag und Nacht unterwegs, und deswegen haben sie sich uns gegenüber geöffnet.

M. K.: Um bei dem Satz zu bleiben, den Sie eben von Michelangelo zitiert haben: Sie sitzen im Schneideraum vor hunderten Stunden Material und dort entsteht doch tatsächlich erst die Statue. Wie wichtig ist der Schneideraum als Entstehungsort der finalen Filmversion?

A. R.: Der Schneideraum war in diesem Fall extrem wichtig. Dokumentarfilme entstehen für mich definitiv im Schneideraum – es sei denn, man hat sie gescriptet. Wir hatten 1.400 Stunden Material, daraus haben wir über ein Jahr lang diesen Film herauskristallisiert. Es gäbe hunderte Versionen, hunderte Möglichkeiten, wie dieser Film hätte sein können. Wir haben uns schließlich darauf konzentriert herauszuarbeiten, was bei jeder einzelnen Bürgerbewegung besonders gut darzustellen war. Bei „Occupy“ war sehr gut aufzuzeigen, wie man sich auf der Straße organisieren kann, wie sich Gruppen bilden. Bei den Indignados in Spanien war die Community-Geschichte sehr gut nachzuvollziehen, also die Art und Weise, wie man gemeinsam in der Community einzelnen Menschen helfen kann. Bei den Bewegungen im Iran und in Syrien wollten wir dokumentieren, was man trotzdem machen kann, auch wenn man in Diktaturen lebt.

M. K.: Ich habe mit Schriftstellern, die aus ihrer Heimat flüchten mussten, gesprochen. Ilija Trojanow etwa sagt, eigentlich sei die Sprache seine Heimat geworden. Ist es in Ihrem Fall die Bildersprache, in der Sie beheimatet sind?

A. R.: Ich glaube, meine Heimat ist eigentlich meine Fantasie, manchmal ist es auch die Kamera. Wenn ich selbst die Kamera mache, dann verschmelze ich mit ihr. Es gibt Augenblicke, wo man der ganzen Sache noch näher ist, weil man sich bestimmte Aspekte heran­zoomen und Details sehen kann, die man mit dem
bloßen Auge wahrscheinlich nicht erfassen könnte. Das ist dann wirklich ein Glücksgefühl, das ich verspüre. Genauso ist es auch, wenn man im Schneideraum sitzt und aus gutem Material etwas anderes bauen kann. Wenn also ein Bild und ein weiteres Bild ein drittes Bild ergeben und dadurch etwas anderes entsteht und in dieser Kombination, in dieser assoziativen Art der Montage eine höhere Wahrheit, ja eine Wahrhaftigkeit entsteht, die man so nicht sehen würde, dann sind das jene Momente, in denen man glücklich ist. Beim Filmemachen gibt es auch solche Momente, zum Beispiel bei meinem Spielfilm „Ein Augenblick Freiheit“: Am Ende des Films geht eine Frau, deren Mann sich umgebracht hat, zurück in den Iran, um dort weiterzukämpfen, also den Weg ihres Mannes fortzusetzen. In dem Augenblick, wo ich das gedreht habe, habe ich eine Gänsehaut bekommen. In diesem Augenblick wurde die Schauspielerin zu einer echten Person und ihr Gehen zu einem Akt des Widerstands. Und der ganze Film und dieser Prozess, in dem wir drinnen waren, wurde zu etwas Größerem. Ich finde diese Momente sehr schön, die mir das Gefühl geben, okay, das ist es: Trotz Dauerstress und Mühe ist es wirklich das, was mich erfüllt. Manchmal beobachte ich im Kino die Zuschauer, die sich den Film anschauen, und ihre Gesichtsausdrücke. Es ist ergreifend, wie bestimmte Szenen eine so universelle Wirkung haben, wie Menschen lachen und weinen. Da spürt man die Kraft des Kinos. Da weiß man einfach, es passiert etwas in diesen Menschen, weil sie Emotionen zeigen. Und das ist der gemeinsame Nenner all meiner Arbeit: Mir sind Emotionen wichtig und ich habe keine Angst davor, dass man vielleicht weint oder jemanden zeigt, der weint.

M. K.: Theodor Adorno hat gesagt, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch. Adorno ging es darum, in seiner ästhetischen Theorie eine Vorstellung vom Nichtsagbaren zu formulieren – zu dem, was nicht gesagt oder erzählt werden kann. Mich würde interessieren, was Sie nicht zeigen, was für Sie das Unzeigbare ist, was Sie in Ihren Filmen nicht herzeigen können oder auch nicht wollen.

A. R.: Wir haben jetzt im Zuge von „Everyday Rebellion“ sehr viele Videos aus dem Internet heruntergeladen, die Menschenrechtsverletzungen der brutalsten Art zeigen, in denen Menschen geköpft oder geschändet werden. Eine unserer Assistentinnen hat sogar einen Nervenzusammenbruch erlitten, als sie das Material aufbereiten, sichten und kategorisieren musste. Es gibt Bilder, die wir nicht zeigen wollen, weil sie einfach in die falsche Richtung gehen. Gewalttätigkeiten, Brutalitäten wollen wir deshalb nicht zeigen, weil wir nicht jene Bilder nutzen wollen, die bestimmte Menschen oder eine bestimmte Gruppe von Menschen generiert haben, um Angst zu erzeugen. Ich finde es übrigens echt absurd, dass zum Beispiel auf Facebook Bilder Geköpfter gezeigt werden können, aber die Facebook-Seite von FEMEN schon mehrmals mit der Begründung gesperrt wurde, dass „Oben ohne“-Fotos von Frauen zu sehen sind. Diese Doppelmoral ist wirklich hirnverbrannt! Wir wollen also Gegenbilder schaffen, die man nicht jeden Tag in den Massenmedien sieht.

M. K.: Wann ist ein Film ein gelungener Film?

A. R.: Da gibt es für mich drei Kategorien. Die erste Kategorie sind Filme, die mich emotional berühren, die mir die Augen öffnen. Zur zweiten Kategorie gehören Filme, die mich intellektuell berühren, die vielleicht kühler, analytischer sind, aber bei denen ich mit Hochachtung aus dem Kino rausgehe und mir denke, wow! Und dann gibt es die Filme der dritten Kategorie, das sind zum Beispiel gute Actionfilme, die ich mir auch gern anschaue, etwa Teil 2 von Spiderman oder Batman Dark Night. Auch vor diesen Filmen habe ich Hochachtung, weil sie es schaffen, ein Massenpublikum zu erreichen. Sie sind handwerklich so perfekt und auch fantasiemäßig so speziell, dass sie es schaffen können, Haltungen oder Einstellungen von Menschen zu verändern. „The Day After Tomorrow“ von Roland Emmerich – nicht gerade ein Superbeispiel für einen super kommerziellen Film – hat nachweislich die Meinung der Amerikaner zum Klimawandel verändert, weil ihn so viele Menschen gesehen haben. Das ist etwas, was man als Art House-Filmregisseur oder Dokumentarfilmemacher akzeptieren muss. Eine bittere Pille ist das, die man schlucken muss, nun ja, vielleicht keine wirklich bittere Pille, aber eine Tatsache, die man nicht ignorieren darf: Dass es nämlich gut ist, etwas Kommerzielles zu machen, mit dem man viele Menschen erreichen kann und in dem man seine Botschaften versteckt.

M. K.: Was ein gelungener Film ist, ist wahrscheinlich leichter zu beantworten als meine nächste Frage: Was ist ein gelungenes Leben?

A. R.: Ein gelungenes Leben … ein gelungenes Leben ist, wenn man seinen Träumen nachgehen kann, dass man sich frei entscheiden und auch falsche Entscheidungen treffen kann, die man dann, weil man frei ist, auch wieder ausbessern kann, wenn’s geht. Bewusst zu leben, glaube ich, ist ein wichtiger Punkt. Und nicht zu egoistisch sein. Ich glaube auch, das Glück liegt in der Gemeinschaft, das Glück liegt nicht nur in einem selbst, sondern in dem, wie man für seine Umgebung da ist und was man für die Gesellschaft leisten kann, ohne ein Opfer der Leistungsgesellschaft zu sein. Es geht vielmehr darum, wie man eigentlich Widerstand den Dingen gegenüber leisten kann, die nicht passen, um zu einem Fortschritt in der Gesellschaft, zu einem humanistischeren Weltbild beizutragen. Und was im Endeffekt von einem übrig bleibt, das gehört wahrscheinlich doch auch zu einem gelungenen Leben.

M. K.: Wenn Ihr Leben ein Film wäre, welchen Titel würden Sie denn wählen?

A. R.: Gute Frage. Letztens kam mir der Gedanke, welchen Spruch ich auf mein Grab schreiben würde, und irgendwo habe ich einen Spruch gelesen: „Dieses Grab ist zu klein für mich, ich will raus.“ – Ich weiß es noch nicht. Ich werde darüber nachdenken. Vielleicht schreibe ich den Satz dann auf mein Grab.

 

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