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An alle Bühnen der Welt

Auf den folgenden Doppelseiten denkt Silke Otto-Knapp die Normalbühne von Kurt Schwitters weiter. Dazu hat sie einen Text geschrieben:

„Man setze riesenhafte Flächen, erfasse sie bis zur gedachten Unendlichkeit, bemäntele sie mit Farbe, verschiebe sie drohend und zerwölbe ihre glatte Schamigkeit. Man zerknicke und turbuliere endliche Teile und krümme löchernde Teile des Nichts unendlich zusammen. Glattende Flächen überkleben. Man drahte Linien, Bewegung, wirkliche Bewegung steigt wirkliches Tau eines Drahtgeflechtes. Flammende Linien, schleichende Linien, flächende Linien überquert. Man lasse Linien miteinander kämpfen und sich streicheln in schenkender Zärtlichkeit. Punkte sollen dazwischensternen, sich reigen, und einander verwirklichen zur Linie. Man biege die Linien, knacke und zerknicke Ecken würgend wirbelnd um einen Punkt.“ (Kurt Schwitters, An alle Bühnen der Welt, Schwitters V, 1919)

Ein Ausflug zum Sommerhaus von Edvard Munch führte mich durch die Berge an der Westküste Norwegens, dorthin, wo Kurt Schwitters sich nach seiner Flucht aus Deutschland in den 1930er Jahren niedergelassen hatte. Die Landschaft inspirierte ihn zu zahlreichen, großteils kaum bekannten Bildern. Schwitters ist schon seit Langem eine wichtige Figur für mich – ich bin aufgewachsen im ländlichen Niedersachsen, nicht weit von Hannover, seiner Heimatstadt, in der er lebte und arbeitete, bis die Nazis ihn in die Emigration zwangen. Während meines Studiums in einer kleinen Stadt in der Nähe von Hannover verbrachte ich viel Zeit im Sprengel Museum, das neben vielen anderen Arbeiten des Künstlers eine Replik des Merzbaus und das Kurt Schwitters Archiv beherbergt.

Vor ein, zwei Jahren stieß ich auf einige Entwürfe für Bühnenbilder, die Schwitters in den 1920er Jahren für die von ihm so bezeichnete Normalbühne geschaffen hat. Beeinflusst vom Pragmatismus und der Sparsamkeit des Konstruktivismus versuchte er, Bühnenbildelemente zu kreieren, die für jede Art von Text oder Produktion geeignet wären. Nach seiner Vorstellung sollten diese Requisiten und die für ihren Einsatz erforderlichen technischen Anleitungen in jedem Theater zur Verfügung stehen. In den Entwürfen finden sich abstrakte Formen wie Würfel, Kugeln, Kreise, Stufen, Rechtecke, Quadrate etc., die zur Schaffung eines Bühnenraums genutzt werden, der mit räumlicher Tiefe und Illusion spielt. Manche Elemente sind flach, andere dreidimensional. Aus Schwitters’ Zeichnungen und Notizen geht hervor, dass diese Elemente sich auf einer beweglichen Bühne befinden sollten, wobei man sie mithilfe einer speziellen Konstruktion von oben zu unterschiedlichen Konstellationen kombinieren könnte.

Alles, was sich neben den Skizzen noch zu diesem Thema finden ließ, waren ein kurzer Essay über die Normalbühne und eine Serie von Fotografien, die ein etwa zur selben Zeit entstandenes Modell zeigen. Das Modell selbst existiert wohl nicht mehr. In der einschlägigen Literatur zu Schwitters werden diese Bühnenbildentwürfe kaum je erwähnt, wenn überhaupt, dann meist im Zusammenhang mit dem breiter angelegten Projekt der Merzbühne, die als multidisziplinäres Gesamtkunstwerk gedacht war.
Ausgehend von Schwitters’ Anleitungen und den noch vorhandenen Unterlagen, wenn auch auf Basis einer sehr freien Interpretation des Materials, habe ich im vergangenen Jahr ein großformatiges fünfteiliges Gemälde fertiggestellt, das frei im Raum stehend, wie Kulissen auf einer Theaterbühne, ausgestellt wurde. Meine kürzlich entstandene, als Bühnenbilder betitelte Serie von Collagen beruht auf demselben Konzept. Dafür habe ich alte Bilder – Aquarell auf Papier – verwendet und mit im Monodruck hergestellten Formen zu neuen Konstellationen kombiniert, die auf den Bühnenbildentwürfen von Schwitters basieren.
Vielleicht ist der Grund für mein Bedürfnis zur Schaffung eigener Entwürfe und Variationen darin zu suchen, dass Schwitters’ Bühne niemals realisiert wurde, dass sie nur in Form von Erinnerungsstücken existiert.

„Die normale Bühne Merz ist einfach, zeitgemäss, billig, stört nicht die Handlung, ist leicht zu verändern, unterstützt die Handlung durch Unterstreichen der beabsichtigten Wirkung, kann mitspielen, sich bewegen, passt für jedes Stück.“ (Kurt Schwitters, An alle Bühnen der Welt, Schwitters V, 1919)

 

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