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Fließtext*
Von Radek Knapp

Das Universum ist schon da — Ach, was bereitet die heutige Welt mir für eine Freude. Man weiß nicht wo zuerst hinschauen. Nehmen wir das Internet, da gibt es heute wieder mal allerhand Nachrichten, zuerst mal wie immer aus Japan. Dortige Wissenschaftler haben ein eminentes Problem gelöst, das japanische Frauen jeden Alters plagt. Sie erfanden eine Pille, die den unangenehmen Geruch des menschlichen Kots neutralisiert. Mehr noch, durch einen bestimmten Zusatz riecht der eigene Kot sogar nach Vanille, Lavendel oder einer anderen Duftsorte. Diese Pillen finden reißenden Absatz bei jungen Frauen, weil das Schamgefühl in Japan offenbar größer ist als sonst wo. Nachdem die Frau ihre Notdurft verrichtet hat, verbreitet sich in der ganzen Toilette der verführerische Duft von Lavendel. Glücklich der Mann, der eine Angetraute hat, die ihren Darmtrakt so unter Kontrolle hat. Aber das ist nicht alles, Japan, so buddhistisch es auch ist, versteht auch Weihnachten zu feiern. Auf Youtube stoße ich gleich neben der Videonachricht, dass Neil Diamond von uns gegangen ist, auf ein Filmchen aus einem Tokyoer Kaufhaus, wo in einem Wasserbecken ein Zitteraal schwimmt. Da gerade Weihnachtszeit ist, ist das Becken an einen Weihnachtsbaum angeschlossen. Sobald der Zitteraal einen Stromstoß generiert, erleuchtet der Weihnachtsbaum. Die ringsum stehende Menschenmenge applaudiert. Es ist unwahrscheinlich, dass der Zitteraal diesen Applaus hört, aber die japanischen Wissenschaftler arbeiten bestimmt schon daran. Da kriegt man gleich Sehnsucht nach Europa, und schon bin ich mit zwei Klicks mitten im europäischen Genius, denn unsere Wissenschaft schläft im Gegensatz zu unserer Kunst aber auch so gar nicht. ¶ Europa hat zwar keine mit Zitteraalen betriebenen Weihnachtsbäume und Duftpillen vorzuweisen, aber dafür haben unsere Jungs in Weiß herausgefunden, dass das direkte Schauen in die Augen eines anderen Menschen deshalb heutzutage kaum noch praktiziert wird, weil es für das Gehirn eine große stressbedingte Belastung darstellt. Beim direkten Augenkontakt werden bestimmte Gehirnregionen stärker aktiviert als bei einem Blick auf die Wand oder gar einem Blick auf ein Plakat mit der FPÖ. So weit so gut, diese Entdeckung ist ein Meilenstein in der Stressbewältigung unserer ohnehin schon so überspannten Mitmenschen und niemand ist froher darüber als solche Leute wie ich, die noch zu der Zeit auf die Welt gekommen sind, als man dem eigenen Gehirn den Stress zumutete, der ihm zustand. ¶ Ausgestattet mit diesen Neuheiten geht es sich viel leichter spazieren, also warum es nicht selber tun? Kaum bin ich auf der Straße, stelle ich fest, dass alles, was die Nachrichten sagen, stimmt. Niemand schaut einem heute tatsächlich in die Augen, aber dafür wird überall geduftet. Die Geschäfte riechen gut, die Lebensmittel noch besser und sogar die Jogger, die ständig heute an einem vorbeilaufen, duften nach Waschmittel, egal wie lange sie schwitzen. Um den Tag abzurunden, und, um ehrlich zu sein, insbesondere nicht ganz das „innere Gleichgewicht“, wie Schopenhauer zu sagen pflegte, zu verlieren, schaue ich vorbei bei meiner Lieblingsverkäuferin am Obststand. Sie heißt Geraldine, ist nymphoman und folglich erfreulich bodenständig. Sie strickt gerade einen Schal für einen Mann, den sie neulich kennengelernt hat. Sie gehört auf Facebook zu der Gruppe: „Frauen, die mit einem Flüchtling Sex haben“. Sie strahlt über das ganze Gesicht, als sie mich sieht, und schaut mir in die Augen, ohne mit dem Stricken aufzuhören. Wir reden über die Blödheit der Kunden und über die Schlechtigkeit der Welt. Und von Minute zu Minute wird es besser. Und als es nicht mehr besser werden kann, zieht Geraldine ein Buch heraus und sagt: „Schau was ich gerade lese“, und zeigt mir den Titel: „Das Universum steckt in dir“, lese ich laut vor und staune erfreut. „Wo soll es sonst stecken?“, nickt Geraldine und fragt: „Soll ich dir auch einen Schal stricken?“ ¶ „Warum nicht?“, sage ich, „Der nächste Winter ist praktisch schon da.“

— * Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u. Ä. gesetzt wird.
— Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.

 

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