zurück zur Startseite

Einatmen, Staunen

Christoph Keller ist bekannt als Schnapsbrenner, der mit seiner Destillerie „Stählemühle“ die Spitzengastronomie eroberte. In Kürze hört er damit auf. Hier seine Rede über die Ungewissheit:

Wenn ein Schnapsbrenner von einem kleinen Bauernhof am Bodensee die Eröffnungsrede für renommierte Festspiele zum Thema „Ins Offene, ins Ungewisse“ halten soll, muss etwas gründlich schiefgelaufen sein. Es kann sich nur um einen Systemfehler handeln.
Der Fehler muss wohl bei mir selbst liegen, und zwar womöglich darin, dass ich es nicht verhindert habe, dass mich die Medien in den letzten Jahren regelrecht als „Experten für das Ungewisse“ dargestellt haben, als gnadenlosen Hasardeur und Abenteurer, der gerne alles aufs Spiel setzt, um Neues, Überraschendes, Anderes an sich und in der Welt zu entdecken – und das alles nur, weil ich mehr oder weniger zufällig ein- oder zweimal meinen Beruf gewechselt habe und dabei auch tatsächlich eher die kleinen Trampelpfade eingeschlagen habe, die etwas verschlungener durchs Dickicht führen, als den bequemen, asphaltierten Weg geradeaus.
Aber ich kann Ihnen versichern, ich bin genauso wenig wie Sie ein „Fachmann für das Ungewisse“ – ganz im Gegenteil. Wir alle sind Teil einer Zivilisation, deren grundlegendes Bestreben ganz offenbar darin besteht, das Ungewisse, das Unsichere, die Fragezeichen so weit als nur irgend möglich aus unserem Leben zu verdrängen. Wir gehören einer Generation unserer Spezies an, die vor allem darin Experte ist, all jenes, das wir nicht wissen, das uns auf dem falschen Fuß erwischen könnte, das uns überraschen könnte, durch Wissen, Gewissheit und größtmögliche Sicherheit zu ersetzen. Vermutlich ist dieses Streben nach Absehbarkeit und Planbarkeit ein menschliches Grundbedürfnis, das uns instinktiv seit Jahrtausenden nur in eine Richtung vorwärts treibt: Nämlich weg von jeglicher Ungewissheit.
Stellen Sie sich einen Jäger und Sammler vor, der in unseren Breiten vor vielleicht 20.000 Jahren gelebt hat und morgens eben nicht wusste, ob er an diesem Tag genug Nahrung finden würde, um zu überleben, ob ihm wilde Tiere oder feindliche Clans den Garaus machen würden, und ob am Abend noch alle Mitglieder der Sippe vollzählig um das Höhlenfeuer sitzen würden.
Oder stellen Sie sich einen Menschen der Antike vor, dessen Geworfenheit auf den absoluten Willen der Götter nur eine einzige Gewissheit zuließ, nämlich die, ein „Spielball des Schicksals“ zu sein.
Stellen Sie sich einen Menschen der Renaissance vor, dessen Weltkarte noch mit allerlei weißen Flecken gespickt war, und dem nicht klar war, was diese unbekannte Welt, die „Terra incognita“, wohl bereithalten würde – und: wo diese Welt überhaupt zu Ende wäre.
Und stellen Sie sich eine Frau im 18. Jahrhundert vor, die bei jeder Niederkunft davon ausgehen musste, dass entweder das Kind – oder gar die Mutter selbst – die Geburt nicht überleben würde.

Man könnte meinen, wir sind weit gekommen. Schließlich bezeichnen wir unsere biologische Gattung als Homo sapiens – als wissenden Menschen, also als jenes Tier, dessen natürlicher Feind eben genau das „Ungewusste“ ist. Und so leben wir heute munter in relativer Gewissheit. Wir wissen genau, wo wir heute Abend schlafen werden, wie wir das Wochenende verbringen, wie und wann wir von A nach B kommen. Wir wissen genau, wie das Wetter in Leonberg in sechs Tagen sein wird, wo wir die Sommerferien verbringen und auch wie, wo und mit wem wir Weihnachten feiern werden. Diese Gewissheiten geben uns offensichtlich ein gutes, sicheres Gefühl von Kontrolle. Und wir erscheinen als Menschheit daher heute ganz weit entfernt von Norman Mailers naiver Aufforderung, das „kleine bisschen Ungewissheit, das uns im Leben noch bleibt“, doch bitteschön zu genießen.

Als Amerikaner müsste Mailer doch eigentlich die Aussichtslosigkeit seiner illusorischen Hoffnung auf den „Genuss von Ungewissheit“ begriffen haben. Im amerikanischen Sprachgebrauch existieren sogar gleich zwei (!) Begriffe für den Gegenspieler des Ungewissen, jenem vermeintlich so anstrebenswerten Gefühl der „Sicherheit“. Nämlich „Safety“, die Sicherheit, die uns vor aller Unbill des Lebens und der Naturgewalten schützen soll, und „Security“, also jene Sicherheit, die uns vor uns selbst schützen will.
Wenn Sie sich in Manhattan von einem Taxi vor einem Restaurant absetzen lassen, dann ruft Ihnen der Taxifahrer nach: „Take Care“ – „Passen Sie auf sich auf“. Na klar, so ein Restaurantbesuch kann verdammt gefährlich sein.
Vor allem in einem Land, das erst vor ein paar hundert Jahren der quasisteinzeitlichen Wildnis entrissen wurde, und in dem die „Frontier“, die Grenze zwischen dem bekannten, sicheren Terrain und der Ungewissheit noch in den Köpfen der Menschen lebt – und dies nicht erst seit der letzten Präsidentschaftswahl. Vielleicht seither aber wieder etwas lebendiger.

In der russischen Sprache hingegen existiert überhaupt kein Wort für Sicherheit. In Russland wird Sicherheit mit безопасность (bez-opasnost‘) wörtlich transferiert als „Un-Gefahr“ übersetzt. Hier herrscht also grundsätzlich erst einmal die Gefahr, hier ist es potentiell überall für den Menschen gefährlich und die wenigen Bereiche, in denen diese grundlegende Gefahr ausgeblendet werden kann, bilden – semantisch gesehen – eher die Ausnahme.
Vielleicht kann uns dies verdeutlichen, dass wir als Homo sapiens doch immer noch um unser biologisches Wesen wissen, um unsere tierische Herkunft, die uns folgerichtig auch zu einem Teil der Natur macht. Wir bestehen aus Atomen, Molekülen, Zellen – reine Biologie, oder besser, reine Chemie. Und: Alles vergänglich.
Vielleicht will uns der amerikanische Taxifahrer mit seinem „Take Care“ auch genau daran erinnern – dass wir nämlich Teil der Natur sind und nur eine einzige, wirkliche Gewissheit in unserem Leben haben, nämlich die, dass wir sterben werden. Dass das Leben in jedem Fall endlich ist, auch wenn wir uns noch so bemühen, es voll und ganz zu begreifen.

Und damit uns diese finale Gewissheit der Endlichkeit nicht permanent die Laune verdirbt, hat der Mensch durch seine kognitiven Fähigkeiten eine so umfassende Fiktion entworfen, die unser Hirn mit anderen Dingen zu beschäftigen vermag, als nur mit lebenserhaltenden Stoffwechselprozessen, Fortpflanzung und der Verlangsamung des Dahinscheidens. Wir haben Sprachen erfunden, Schriftsysteme, Hierarchien, Geld, Gesetze, Religionen und sogar etwas so Verrücktes wie die Menschenrechte. Alles reine Erfindungen, bar jeder biologischen, faktischen Grundlage. Erfindungen, die wir als tierische Wesen, als Säugetiere, auch überhaupt nicht zum Leben und Überleben benötigen.
Diese unsere Erfindungen – Schrift, Geld, Gesetze – helfen der Gattung Mensch jedoch sehr effektiv, sich beständig zu vergrößern, die Erde immer weiter zu beherrschen und jegliche Ungewissheit nach und nach durch Gewissheit, Sicherheit und Ordnung zu ersetzen.
Unsere Kultur, auch das, was wir als Kunst bezeichnen, dient zum allergrößten Teil leider ebenfalls genau dazu, dieses „phantasievolle“ Organisationssystem frei erfundener Konventionen zu stützen, zu festigen, zu kommunizieren, oder gar zu verherrlichen. Literatur, Theater, bildende Kunst funktionieren fast ausschließlich im Rahmen dieser Erfindungen, im Rahmen und zu Diensten dieser Fiktion, die uns ordnen und organisieren soll. Wer die Errungenschaften dieser künstlerischen Sparten genießen oder gar verstehen will, der muss wissen, der muss seine Fiktionen kennen, deren Geschichte, den Überbau, die Meta-Ebene.

Auch die Musik kann ein solcher Sklave des fiktionalen Ordnungsgebäudes der Menschheit sein, ich glaube aber – und daran können Sie vielleicht meine Naivität und die mangelnde Fachkompetenz erkennen – ich glaube fest daran, dass die Musik mehr kann und mehr ist als nur eine Erfindung des Menschen. Ich glaube tatsächlich, dass Musik Natur ist, dass Musik uns unserem biologischen Wesen als Mensch näherbringt.
Ich glaube, dass wir überhaupt nichts wissen müssen, um Musik zu erkennen und zu genießen. Ich glaube, dass ein noch unentdeckter Volksstamm im Amazonas-Dschungel eine Bach’sche Fuge genauso fühlen kann, wie wir archaische Volksmusik oder Gregorianische Gesänge erleben können. Ohne Kenntnis, ohne Wissen, unmittelbar, durch unsere primären Sinne.

Nehmen wir das Stück, das wir gerade gehört haben, das den meisten von Ihnen vermutlich genauso unbekannt war wie mir. (Vielleicht haben Sie aber auch dieses „einatmende Staunen“ erlebt, das uns die Musik schenken kann.)
Ich will ehrlich sein: Ich hatte einen kleinen zeitlichen Vorsprung, da ich vor einigen Wochen eine unbeschriftete CD von der Festspielleitung bekommen habe, sodass ich mich schon vorab ein wenig einfühlen konnte – wenn auch ohne zu wissen, um was für ein Werk es sich da handelt. Ich habe mich beim Hören der CD – und auch jetzt gerade wieder – zunächst ganz betäubt gefühlt, eingelullt in pentatonische Harmonien, in einen geradezu träumerischen Schleier, um dann aber brachial und ohne Vorwarnung vom Stuhl gerissen zu werden – von einem donnernden Gewitter mit Windstärke Zwölf, einem gewaltigen Luftangriff mit vielerlei Einschlägen. Doch der Spuk geht vor-
über, die Atmosphäre beruhigt sich so schnell wie die Turbulenzen aufbrausten – die Luft steht wieder still, flimmert noch ein wenig, hallt nach.
Bei diesem Stück handelt es sich um „Les Offrandes oubliées“ („Die vergessenen Gaben Gottes“) von Olivier Messiaen, 1930 in Frankreich als orchestrales Triptychon komponiert. Mit meiner musikalischen, historischen und geografischen Einordnung lag ich beim ersten Hören völlig falsch – aber: Das spielt eben überhaupt keine Rolle. Die Musik – das individuelle Erlebnis, der Eindruck, das Gefühl und die Bilder – sind einfach da. Auch ohne jede Vorkenntnis, ohne Wissen, unmittelbar.
Ich glaube, dass das Erleben von Musik genauso direkt und instinktiv funktioniert, wie das Schmecken und Riechen.

Und was diese parallelen Sinneseindrücke des Schmeckens und Riechens angeht, bin ich nun endlich auf etwas festerem Terrain angekommen, hier bin ich als Schnapsbrenner tatsächlich nun etwas kompetenter, fast gar „Experte“, und gestatte mir daher auch die Arroganz, den Destillateur einmal mit dem Musiker zu vergleichen. Denn obwohl die Destillation als eine der sieben alchemistischen Künste aus dem in der Renaissance erwachenden Streben nach umfassendem Wissen über das Wesen der Dinge stammt – Alkohol ist als zugleich brennendes und flüssiges Element die „Quinta Essentia“, das fünfte Element, und damit universelles Heilsversprechen für die Menschheit – trotz dieses Ursprungs also im ernsten wissenschaftlichen Ringen um den Fortschritt, basiert die Destillation fast ausschließlich auf der spielerischen Methodik von Experiment und Empirie. Und so versucht der moderne Destillateur, die in der Natur enthaltenen „Klänge“ – also Aromen und Gerüche, die letztlich auch nur auf langkettigen Fettsäuren und Terpenen basieren, also auch nur „reine Chemie“ sind – im Alkohol festzuhalten, zu transferieren, zu kommunizieren und schließlich – quasi als eine Art „Poesie der Moleküle“ – sinnlich erlebbar zu machen. Kunstvoll ist dabei die Methode, die Reinheit oder gar die Komposition.
So ähnlich stelle ich mir auch die Arbeit eines Instrumentenbauers, Musikers, Dirigenten oder Komponisten vor. Der Klang ist reine Physik, reine Natur, Schwingung – seine Transformation in Sinneslust ist die Musik. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Sprache der Destillation (wie übrigens auch die der Parfümeure) fast ausschließlich der Sprache der Musik entlehnt ist: Wir sprechen in der Aromen-Beschreibung etwa von Tönen, Basis- und Kopfnoten, Klängen oder Kontrapunkten und in der Beschreibung von komplexen Destillaten von Harmonien, Komposition, Dreiklang etc.
Im Rahmen dieses Kontexts der direkten, sinnlichen Wahrnehmung unternimmt der Destillateur – wie auch der Musiker – eine Reise in die Ungewissheit der sensorischen Möglichkeiten, eine Expedition in die Un-Ordnung, in die Un-Sicherheit, in eine unmittelbar erfahrbare Ästhetik, die eben nicht durch den fiktionalen Überbau, sondern durch den direkten biologisch-physikalisch-chemischen Sinneseindruck wahrnehmbar ist. Kontextfrei und zeitlos. Schwingungen eben.
Ich hoffe, dass ich hier jetzt nicht den Eindruck des Esoterikers erwecke, gemeint ist nämlich das genaue Gegenteil, die Rückkehr zum Boden der Tatsachen – zur menschlichen Natur.

„Ins Offene, ins Ungewisse“ ist für mich mehr als nur ein gängiger Slogan, der so gut in die liberale Meinungslandschaft passt und sich so einfach in die allgegenwärtige „Political Correctness“ der kapitalistischen Welt integrieren lässt. Für mich geht es hier eben nicht um jene vermeintliche Offenheit, die alles und jeden spannend finden möchte, und eben auch nicht um jenes „Zulassen von Ungewissheit“, das in jedem zweiten Selbstfindungskurs zur Sprache kommt. Hier geht es nicht um nebulöse Abenteuerlust, sondern um die wahrhaftige Bereitschaft, sich auf das reelle Menschsein einzulassen, die eigene biologische Molekularstruktur wirklich einmal ernst zu nehmen und sich nicht durch die kognitiven Fiktionen des Bewusstseins limitieren zu lassen. Einfach mal zuhören, riechen, schmecken, fühlen.
Denn nur im Rückbezug auf unseren biologischen „Primaten-Kern“ lässt sich die feige Angst vor dem Ungewissen tatsächlich besiegen – und indem wir uns das Tier, das in unserem Erbgut steckt, bewusst machen, gewinnen wir an echter Offenheit für den Zufall, für die Unordnung, für die Überraschung.

Bitte glauben Sie nicht, ich würde meine Rolle als „clownesker Fremdkörper“ hier zu ernst nehmen und jetzt unreflektiert zum unvermeidlichen Stilmittel der „Publikumsbeschimpfung“ greifen, indem ich Sie an unsere Abstammung vom Affen erinnere. Aber manchmal tut die Erinnerung an unsere tierische Herkunft ganz gut. Denn das Tier kennt nur das „Ungewisse“ und schert sich überhaupt nicht um Gewissheit, Sicherheit, Planung, Ordnung.
Es ist eben tatsächlich ein bisschen wie beim Essen: Wer immer nur das isst, was er kennt, oder das, was er als Kind gemocht hat, und bei Wiener Schnitzel und Spaghetti bleibt, der wird nie erwachsen und wird nie verstehen, was diese Welt im Innersten zusammenhält.
Probieren geht tatsächlich über Studieren – in diesem Sinne hoffe ich, dass Sie dazu bereit sind, nach den Überraschungsmomenten von Olivier Messiaen auch bei der hoffnungsvollen Leichtigkeit von Maurice Ravel und der verzweifelten Demut Anton Bruckners genau zuzuhören und das „kleine bisschen Ungewissheit“ zuzulassen, das uns das Leben noch schenkt – zumindest in Form von Musik.

Apropos Leben und Sterben. Gestatten Sie mir, dass ich zum Abschluss doch noch einmal kurz auf diese einzige, ultimative Gewissheit zurückkomme, die das Leben für uns bereithält – die aber ironischerweise auch mit jener umfassendsten, absoluten Ungewissheit verknüpft ist, die überhaupt vorstellbar ist: Ja, wir wissen alle, dass wir irgendwann gehen müssen. Aber wohin? Was kommt danach? Das weiß noch keiner.
Und auch, wenn so manchen die Erfindung der Religion über diese elementare Ungewissheit hinwegzutrösten vermag, bleiben doch gehörige Zweifel am Übergang ins Paradies, die übrigens auch Anton Bruckner in den letzten Jahren seines Lebens plagten – neben der permanenten und begründeten Furcht vor der drohenden Nichtvollendung seiner neunten Symphonie.

Ich muss Ihnen gestehen, dass ich, was Bruckner angeht, „vorbelastet“ bin. Ich wurde meine gesamte Kindheit hindurch sozusagen „zwangsbeschallt“. Mein Vater war von Beruf zwar Jurist, seine eigentliche Leidenschaft galt aber der Musik. Als passabler Pianist und Organist hat er früh erkannt, dass das Talent nicht zum Berufsmusiker reichen würde, und hat daher eine „ordentliche“ berufliche Laufbahn eingeschlagen, allerdings fast seine gesamte Freizeit der musikalischen Forschung gewidmet – Spezialgebiet, Sie ahnen es: Anton Bruckner.
Unsere Familienurlaube führten daher regelmäßig nach Österreich – Stift St. Florian, Linz, Wien – angereichert mit vielen Begegnungen mit den Damen und Herren Hofräten und Magistern der internationalen Brucknergesellschaft, bei denen man fachliche Gespräche zum Wirken Bruckners führte – ein großartiges Ferienprogramm für einen Zwölfjährigen mit Nena-Poster im Kinderzimmer.
Ich kann aber heute sagen, dass mich die fanatische Verehrung meines Vaters für Anton Bruckner nicht völlig für die Musik verdorben hat und ich anlässlich des heutigen Abends sogar ganz froh war, im Nachlass noch einige seiner wissenschaftlichen Schriften zu Bruckner zu finden. Ein Beitrag, geschrieben für das Bruckner-Jahrbuch 1982, hat dabei meine besondere Aufmerksamkeit geweckt. Es handelt sich um eine juristische Deutung der verschiedenen Testamentsfassungen Bruckners. Diesem extrem religiösen, tiefgläubigen, fast schon bigotten Menschen war der Übergang ins Jenseits und die diesseitige Fortexistenz von Leib und Werk nämlich überhaupt nicht geheuer und musste deshalb in diversen, notariell bestätigten Testamentsversionen penibelst und bis aufs kleinste Detail geplant werden. Von wegen Gottvertrauen!
Eine Bestattung als „Leiche erster Classe“ in der Krypta von St. Florian, direkt unter der Orgel, ließ sich Bruckner mehrfach vom zuständigen Abt bestätigen. Das „Injizieren“, also die Mumifizierung seines Leichnams durch einen renommierten Wiener Arzt, wurde genauso gewissenhaft geplant wie der doppelte Zinnsarg mit gläsernem Fenster, durch dessen Luke man auch noch nach Jahrzehnten das Antlitz des Meisters erblicken können sollte. Bruckner wollte hier offensichtlich nichts dem Zufall überlassen, die Ungewissheit kategorisch ausschließen – und ganz sicher sein, bis über den Tod hinaus.
Die meisten seiner letzten Verfügungen und Wünsche konnten auch tatsächlich erfüllt werden, darüber hinaus spendierte die k. k.-Monarchie sogar ein sogenanntes „Prachtbegräbnis“. Was Bruckner aber danach erwartete, bleibt genauso rätselhaft und ungewiss wie der Ausgang der neunten Symphonie.

Gekürzte Fassung der Rede zur Eröffnung der Ludwigsburger Schlossfestspiele am 3. Mai 2018

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.