zurück zur Startseite

Lediglich der kleine Buchladen
an der Ecke bot Augenhalt.
Landvermessung No. 5, Sequenz 4 Von Toblach nach Cortina

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte). Wir befinden uns derzeit auf der Geraden, die von Obermauern im Osttiroler Virgental Richtung Südtirol und weiter ins Trentino führt. Marko Dinic schleppt sich krank durch fremde Gefilde, folgt den nebulösen Anweisungen einer Unbekannten, fast wie James Bond und sehr alleine.

I
Als Erstes kam ein Anruf. Die Stimme am Telefon stellte sich als Heidrun vor, Hannah oder Helga. So genau konnte ich es nicht hören – das angehauchte H ließ meinen Hörer rückkoppeln. Wir begegneten uns im Zuge meines dreimonatigen Aufenthaltes in einem Tiroler Dorf Anfang letzten Jahres zum ersten Mal. Eine Vernissage im lokalen ethnographischen Museum, wobei es auch hätte sein können, dass es beim Abendessen mit einer gemeinsamen Bekannten gewesen war – so genau konnte auch sie sich nicht mehr erinnern. Zusätzlich erschwerte ein tiefes, gleichmäßiges Rauschen, das wie auf Abruf alle halben Minuten unser Gespräch unterbrach, das seltsame Telefonat: als hätte jemand absichtlich die Leitung gekapert, um alltäglichen Nichtigkeiten zu lauschen. Obwohl ich mir der Einzelheiten im Vollen nicht bewusst war, ging es dennoch – so versicherte mir die Stimme am Telefon – um bereits Abgemachtes: detaillierte Messungen, die ich entlang einer durch halb Südtirol und Trentino gezogenen Linie für ihre Zeitschrift anstellen sollte. Dieselbe Linie schnitt ein Kreis, der wiederum ein Areal umriss, das andere vor mir in minutiöser Kleinstarbeit abgesteckt hatten und an dessen unterem Ende meine überaus großzügig honorierte Arbeit ihren Anfang nehmen sollte – bezahlte Spesen verstünden sich von selbst. Welchen Umfang der Kreis hatte und wo genau dieser die Gerade schnitt, konnte sie mir freilich nicht verraten. Zunächst galt es, Vorbereitungsmaßnahmen bezüglich meiner Reise zu treffen. Vier ganze Tage in unzulänglichem Gelände würden mir ein hohes Maß an Konzentration abverlangen. Zudem pochte meine Auftraggeberin auf einen wohlüberlegten Abschlussbericht, in dem meine Messungen einer breiten Anzahl an Abonnenten, die ihre Zeitschrift besaß, ein ehrliches Lächeln auf die Lippen zaubern sollte. Sie würde sich, so Hilde, in Kürze mit weiteren Details bei mir melden.
Dass ich bei unserer ersten Begegnung möglicherweise einen falschen Eindruck erweckt haben mochte, mit Landvermessung im Allgemeinen und mit derartigen Anmaßungen im Speziellen nie wirklich was am Hut hatte, und überhaupt stadtfernen Gebieten mit größter Abscheu begegnete – es drang nicht bis ans andere Ende des Hörers, was einerseits sicherlich mit den unsäglichen Unterbrechungen zu tun hatte, andererseits mit der Tatsache, dass sie schon längst aufgelegt hatte.

II
Nun lebte ich seit kurzer Zeit erst in Wien, und mein neuer Mitbewohner – ein abgebrühter Allrounder mit einem Hang zu garstigem Rock ’n’ Roll – wies mich dezent darauf hin, dass nun endlich die Gelegenheit gekommen war, uns wieder mehr zuzutrauen, gekonnt nach außen zu treten, wie schlechte Scherze es manchmal vermochten. Ich hatte ihm von der an mich herangetragenen Aufgabe erzählt, von meinem Unbehagen, als Großstadtverwahrloster von einer mir zutiefst widersinnigen Wildnis getötet zu werden. Er aber entkräftete meine Argumentation gekonnt mit dem jähen Ausbruch des Frühlings, der den Baumkronen Knospen in die Äste trieb. Sein Drei-Mann-Zelt würde uns zudem vor jeglicher Witterung schützen, versicherte er mir mit einem genugtuenden Lächeln im Gesicht. Somit war ein gemeinsamer Ausritt bereits beschlossene Sache, während ich im Inneren noch um die Form rang, mit der ich die Ereignisse, die sich jetzt schon überschlugen, aufarbeiten würde.
Die Aussicht auf so viel Geld in so kurzer Zeit, auf Miete, Fressen und ein wenig gekaufte Freizeit kam uns schließlich beiden gelegen. Sowohl bei ihm als auch bei mir lief es in letzter Zeit nur schleppend. Als einst aussichtsreicher Kandidat für den Posten des neuen Quotenjugo im Literaturbetrieb verdiente ich nach einer ruhmlosen, von den Kritikern nur mit Schmunzeln und Ratlosigkeit bedachten Romanserie nur mehr so viel, dass es für die alibimäßige Verlängerung meines Visums reichte. Und auch meine Aussichten, auf längere Zeit in Österreich bleiben zu dürfen, trübten sich mit jedem weiteren verstrichenen türkisblauen Tag etwas mehr. Bei meinem Mitbewohner sah es nicht anders aus: ein arbeitsloser Exildeutscher und glühender Anhänger der alten Sowjetunion, der sich unter seiner beinahe schon marxschen Bartpracht lediglich weniger anmerken ließ als ich. Diese Unsituation zwang uns, immerzu auf Gelegenheiten des jeweils anderen wie lausige Aasfresser zu lauern. Wir waren nicht stolz auf uns, schämten uns aber auch für unsere Armut nicht.
Trotzdem hielt ich mich nach wie vor für keinen Vermesser oder Vermaßer – und Messer, Maßgeber, Messdiener schon gar nicht. Ich konnte nicht einfach so irgendwelchen Linien nachgehen. Helmi, die Stimme am Telefon, wollte mich in eine Falle locken, dessen war ich mir beinahe sicher. Und obwohl es sich um eine Aufgabe handelte, der ich allein schon durch meine hünenhafte Statur und meine zwei linken Füße nicht gewachsen war, stimmte mich die Aussicht, nicht alleine reisen zu müssen, mittlerweile gnädiger. Aus der knarzenden Audiobox in der Küche tönte indessen Jesus von Lou Reed – uns konnte nichts geschehen.

III
Drei Tage später erhielt ich Post. Die Landkarte offenbarte nicht viel mehr, als Hildegund (HHH!) am Telefon verraten hatte: Die Gerade glich genaugenommen einer wie von Kinderhand gezeichneten Schleife und verlor sich im dichten Gedränge der Dolomiten. Der Kreis, der den Ausgangspunkt markieren sollte, war einem formlosen braunen Fleck gewichen, der auch beim Abgleich mit irgendwelchen Mappen im Internet keinen Augenhalt bot. Unterdessen waren alle Leitungen tot. Jegliche Kontaktaufnahme zu meiner Auftraggeberin war in den Untiefen eines gleichmäßigen Pieptons versandet. Ich war auf mich alleine gestellt. Zudem bestätigte ein Blick auf mein Konto meine Befürchtungen, denen nach ich es nur durch äußerste finanzielle Entbehrungen in den Süden schaffen würde: Ein der Landkarte beigefügtes Blanko-Zugticket galt nur für die Rückfahrt von _______ nach Wien. Das Gefühl, nach so vielen Jahren des Schreibens und der mühevollen, aber dennoch süßherben Arbeit an Text und Vers endlich im Prekariat angekommen zu sein, breitete sich wie ein Virus in unserem Haushalt aus. Mein Mitbewohner hielt die Stimmung kaum aus. Er hüllte sich während meiner wohlfeilen und doch hilflos sich ins Bodenlose schleppenden Vorbereitungen immer mehr in Schweigen. Und auch seine anfängliche Lust, mich auf der Reise begleiten zu wollen, schwand mit jeder fortschreitenden Minute, die ich, halb am Verzweifeln, über der Landkarte verbrachte. Ich musste eine andere Strategie verfolgen, einen etwaigen Absprung seinerseits ums Verrecken verhindern. Schließlich waren wir kaum voneinander zu unterscheiden, Brüder im weitesten Sinne, derart dicht beieinander gebaut, dass nur eine Reise zu zweit die Verwandlung, nach der wir uns beide so sehr sehnten, hervorbrächte.
Als letzte Konsequenz musste ich die Linie selber ziehen, die eigene Mitte als Mitte des Kreises verstehen, von dem aus sich die Menge der einzelnen Punkte bündelte, die vielen Geschichten, die Straßen und Pfade, die Täler, die Dörfer, über denen feuchte Bergluft hing, die Berge, über denen ein gnadenloser Himmel sich ins Unermessliche streckte, all die Dinge, für die ich noch eine Sprache zimmern musste – und überhaupt das Maß, das Wiegen, Pausen und Vermessen, die Maßung! Wo sollte ich beginnen, wenn nicht gerade hier: zwischen T und lach mein Finger, die wehrlose Mitte, C…tina als Ziel, ein paar Fingerbreit weiter.

Das Prekariat
Ein mehr als nur verabscheuungswürdiger, vom Künstler nicht wegzudenkender Teil des Schaffensprozesses. Er zwingt zum Umdenken und Improvisieren innerhalb meist finanziell prekärer Lebenslagen. Nehmen wir beispielsweise den hiesigen Text als Ausgangspunkt dieser intermezzohaften Überlegung: Obwohl der Autor die Aufgabe vonseiten der Tiroler Kulturzeitschrift QUART, einen ganz bestimmten Wanderweg entlang einer ganz bestimmten Linie im Pustertal, Südtirol, zu gehen und darüber einen Bericht zu verfassen, bekam, zwang ihn ein finanzieller Engpass (der Autor ist selbstständig, nur als Gast im Lande Österreich und allein auf seine künstlerische Arbeit angewiesen), ganze zwei Mal seine Reise zu verschieben, da er das Geld, das er für Züge und Unterkunft benötigte und erst später im Jahr vonseiten der Zeitschrift rückerstattet bekäme, nicht vorstrecken konnte. Dass er am Ende doch noch ins besagte Tal gelangte, verdankte er dem Verständnis der Redaktion, die ihm einen Vorschuss auf die Reisekosten gewährte, und der Güte eines Freundes, der ihm Unterkunft und Fressen zahlte. Gleich zu Beginn seiner fünftägigen Reise wurde der Autor krank, lag drei Tage im Bett, was angesichts des anhaltenden Regenwetters, der Kälte und des immer noch umherliegenden Schnees im Pustertal nicht verwunderlich war. Keinen einzigen Meter ist er gewandert! Lediglich am letzten Tag die von ihm geplante Wanderroute nach Cortina d’Ampezzo ist er mit dem Bus abgefahren, wobei der Bus wegen dichtem Nebel und Schneeregen zwei Mal ins Schleudern kam. Sowohl in Toblach, dem Ausgangspunkt der ‚Wanderung‘, als auch in Cortina war die Ski-Saison bereits aus, die Wandersaison noch am Kommen. Beide Gemeinden waren wie ausgestorben, kaum Menschen auf den Straßen. Lediglich ein wohlsortierter Buchladen in Cortina erregte Aufsehen, der klägliche Rest ersoff in Nebel, Regen und Krankheit.
Aus Verzweiflung oder aus Boshaftigkeit gegenüber der missglückten Reise heraus wählte der Autor für die Auserzählung der vorhergehenden und nun nachfolgenden Ereignisse eine Form der äußersten Fiktionalisierung, die konträr zum eigentlichen Konzept der Landvermessung steht, jedoch in einer Art Nabelschau den Leserinnen und Lesern des Magazins die prekäre Lage eines auf sich allein gestellten, naturfernen, kunstschaffenden Individuums vor Augen führen soll.
Alles, was in dieser Erzählung geschrieben steht, entspricht der Wahrheit, so wie alles, was innerhalb des Gefildes Literatur oszillatorisch zwischen Lug und Lüge hin- und herschwankt, nur Wahrheit sein kann (vom ü ganz abgesehen). Der klägliche Rest ist dem Leben unzumutbar. Die Straßen und Pfade und Berge und Täler und Dörfer und Himmel sind töricht.

IIII
Ich konnte mir nicht erklären, wie es dazu kam, dass mein Mitbewohner mich am Ende nicht begleitete. Kaum war das nötige Geld für die Reise beisammen, verblasste auch schon sein Antlitz vor meinen Augen. Dass er Besseres zu tun hatte, als ganze drei Wochen auf mich zu warten, schließlich war beim Frühling schon gefühlte Halbzeit und er zu zart für die Strapazen der sich bis tief in die Nächte gezogenen Vorbereitungen – die Suche nach üblen Wohltätern und Mikrokrediten für eine Reise, von der ich selber nicht wusste, ob sie mich überhaupt dazu befähigte, einen oder mehrere Schritte vor die Tür zu setzen, geschweige denn darüber zu schreiben. Und nun stand ich plötzlich da, jeden Cent in meiner Tasche zehn Mal wendend, da er mir schamlos seinen Rücken kehrte, die Zelttasche in der Hand, ein leises Abschiedswort um die Lippen säuselnd, dreist, gesichtslos, wie im Vorübergehen, noch bevor die Tür ins Schloss fallen konnte und ich alleine mit nichts als einer lausigen Landkarte in der Hand und der Ungewissheit eines noch abzugehenden Weges zurückgelassen wurde. Dumme Mistsau! Nichts machte mehr einen Sinn, indes mir zwei Dinge klar wurden: Ich konnte nicht zurück. Ich war nicht bereit!

IIIII
Inzwischen glitt der Zug nach einer überwiegend im Schlaf verbrachten, beinahe fünfstündigen Fahrt behände meinem Ziel entgegen – – – eine dünenhaft sich anschmiegende Landschaft zu beiden Seiten, die, je näher wir der Südtiroler Grenze entgegenschienten, bissiger in ihren Konturen wurde. Das Gnadenlose dieser Landstriche stimmte mich milder: Die mit Altschnee bedeckten Abhänge hatten Ohren, so viel war sicher, der Wind pfiff nicht, er dröhnte gegen das Zugfenster, die Berge, hinter sattem Nebel verhüllt, verhießen kein warmes Willkommen. Darüber hinaus sorgte der Verlust meiner Zunge für zu erwartende Verwunderung. Die Menschen um mich sprachen mit einer Un­(ein)­deutigkeit, die sich vor meinen Augen zu Gesten des Selbstverständnisses aufbauschte: Hier kannte scheinbar jeder jeden. Nur für mich flatterten die Worte fremd. Den grobkantigen Dialekt verortete ich an der Reibungsfläche zwischen dieser und jener Grenze – sprachliches Niemandsland vor Weitlanbrunn. Kaum standen wir, verließen auch schon nahezu alle Passagiere den Zug. Bis auf den letzten Sitz, auf dem ich, mir selber seltsam fremd, wie einzementiert saß, war das Abteil leer. Die Anzeige über mir bescheinigte einen Aufenthalt von einer knappen halben Stunde – eine knappe weitere bis zu meinem Ziel, von dem aus die Wanderung ihren Anfang nehmen sollte. Mittlerweile klopfte der Nebel ans Fenster. Ich fragte mich, wohin das ganze führen sollte, wie Hemma gerade auf mich gekommen war, mich, der bei jedem aufsteigenden Meter die ganze Menschheit verfluchte und bei jedem absteigenden doppelt – dem die Welt in der Fremde nach jeder einsamer anmutenden Haltestation Richtung Nirgendwo immer fremder wurde. Kannte sie meine Literatur vielleicht nicht? Mein Unvermögen, was Landschaftsbeschreibungen betraf? Was interessierte gerade mich die Natur, der ich mit dem Überlebensinstinkt eines Kriechtiers geboren wurde? Vermessen konnte ich nur die Distanz zwischen mir und den Menschen, die mir begegneten, die Distanz zwischen mir und dem Widerwillen gegenüber diesem elendigen Auftrag, der mir Fressen und Miete versprach. Es winkten sattere Zeiten.

IIIIII
Die Lichter in den Häusern waren längst erloschen, als ich am Bahnhof von T…lach ankam. Wie glatte dunkle Augen folgten mir die Fensterreihen, in denen sich eine verzerrte Landschaft spiegelte. Allein eine an den Gleisen gelegene Kebabbude stand offen, aus der ich lediglich Schemen, aber keine Menschen wahrnahm. Der Rest der Stadt drohte in Westernmanier zu ersaufen. Wo war mein Mitbewohner, der feige Drecksack, wo mein Zelt, das mich vor dieser Nässe und Kälte schützen sollte. Dämmerung über den Dolomiten, Nebel, der das gesamte Tal vor mir geschluckt hatte, derweil mir die Krankheit wie ein ungebetener Gast die Kehle hochkroch.
Hundert Euro, dachte ich in dem Moment, zerknirscht, ausgelaugt, bar jeglichen Mutes. Dazu ein magerer blauer Geldschein in der Hosentasche für die nächsten vier Tage, in denen ich auch noch den Schleim loswerden musste, der sich überfallartig an Lunge und Sinussen zu schaffen machte. Hundert verdammte Euro, die ich gott-weiß-wann wieder auf meinem Konto sehen würde, gezahlt für eine lausige Unterkunft in einem von Vieh und Mensch verlassenen Landstrich außerhalb der Wander- und Skisaison, wie mir meine Gastgeberin Maria entgegnete, eher ungeschickt ihren markigen Dialekt unter so etwas wie einem Hochdeutsch kaschierend. Sie musterte mich von Kopf bis Fuß, als ich die holzvertäfelte Bude betrat, roch sofort den verabscheuungswürdigen Städter und den Widerwillen, den jede meiner Gesten ausstrahlte. Als wollte sie mir sagen: Hier gibt es für Sie nichts zu sehen, deutete sie aus dem Fenster, wo längst eine gnadenlose Nacht ausgebrochen war.

IIIIIII
Ich ging nicht aus meinem Zimmer. Mein Hals war Flamme, der Husten glich eher einem Röcheln – die Glieder wasserschwer und steif. Wo war mein Mitbewohner, die feige Sau, wo sein Zelt, das mich vor all dem beschützen sollte?! Nur einmal schleppte ich mich hinaus, runter zum Dorfkern, zum lokalen Supermarkt, in dem ich knausrig und wohlüberlegt einen Laib Brot, etwas Wurst, Oliven, Tomaten und drei Äpfel kaufte, jenes Mahl, das mir helfen sollte, diese elendige Grippe zu überwinden. Die wenigen Menschen, die ich unterwegs antraf, die Kassiererin, eine an der Bushaltestelle wartende, stahlgraubelockte Frau sowie einen zufälligen Spazierer, der, aufgequollenen Gesichts, Richtung unbekannt hin und her wankte – alle trugen sie dieselbe Verwunderung in der Fresse wie meine Gastmutter tags zuvor. Sie verstanden nicht, was der Fremde hier machte. Ich verstand es selber nicht. Das Bild passte einfach nicht.
Der Nebel hatte sich nicht gelichtet: Die Straßen und Pfade waren nass und aufgeweicht, es roch nach Moder und Mist; von den Bergen, die bei schönerem Wetter sicherlich ein fürs Auge und Gemüt angenehmes Panorama abgaben, sah man nur die mit knöchelhohem Schnee bedeckten Ansätze; das Tal war dunkel und undurchlässig; das Dorf grau wie der Himmel, unter dessen ebener Wolkendecke ein einsamer Falke oder Adler oder Bussard oder weiß-der-Geier-was in beeindruckenden Gleitbewegungen seine Runden drehte. Die erste Messung dieser Reise, dachte ich in dem Moment, die Distanz zwischen der Freiheit dieses Vogels da oben und meinen durch die Grippe und einen stets auf ein Jahr begrenzten Aufenthaltstitel noch schwerer wiegenden Ketten hier unten.
Die Abkürzung, die ich über den Friedhof nahm, säumte ein überlebenskleines Mahler-Denkmal, das zwar dem Werk dieses Großen unter den Hämorrhoidenleidenden der Weltgeschichte nicht gerecht wurde, jedoch durch die detailverliebte Verarbeitung seines Antlitzes vieles von dem wett machte, was beim puppenhaften Körper verabsäumt wurde. Dann, keinen Hechtsprung von der Friedhofsmauer entfernt, ein wohlgepflegtes, allen Facetten des Faschismus huldigendes Mal den gefallenen Dorfbuben beider Weltkriege mitsamt schwarz aus dem schweren, himmelgrauen Marmor hervorsprießendem, eisernem Kreuz und stahlbehelmtem Soldat. Jetzt setzte mir die Krankheit ordentlich zu. Ich schmachtete nach dem unbequemen Federbett meines Domizils – alle Hoffnung auf das schützende Zelt hatte sich in Luft aufgelöst. Und auf meinen Mitbewohner, die verräterische Ratte, sowieso. Übrig blieb ein fahler Nachgeschmack, so wie ihn nur Faschistensymbole in Mund und Rachen hinterlassen können.
In der Zwischenzeit lungerten zwei Gestalten am Friedhof rum: eine flüsternde Frau älteren Baujahrs, die sich keinen Deut um mich oder mein Keuchen scherte und ein von Moos angenagtes Grab für den Frühling hochzupäppeln schien; ein Mädchen, angelehnt an die Rückseite eines Grabsteins, der gegenüber jenem ruhte, dem ihr Gesicht zugewandt war – andächtig, wütend, dem leicht nach unten angewinkelten Mund nach zu urteilen tiefe Trauer tragend. Ihre Andacht wurde nun durch meine verschleimte Wenigkeit gestört, der nicht umhinkam, den Klumpen, der seit einer gefühlten Ewigkeit den linken Lungenflügel traktierte, die Gurgel rauf zu würgen und ihn auf das Fried­hofs­kies­bett zu spucken. Das Mädchen quittierte meine Unsitte mit einem ungeschönt empörten Ey!, bei dem auch die Ältere den Kopf von ihrer Grabpflege hob und mich kaltschnäuzig fixierte. Instinktiv hob ich meine Hände zur Abwehrstellung: Hände hoch, du Lump! – ihre angewiderten Blicke begleiten mich noch zum Friedhofstor. Die Trauer schien tatsächlich echt zu sein. Die Distanz zwischen ihnen und den Personen, die sie betrauern, verortete ich irgendwo zwischen Nadelstich und Fleischwunde. Ein Schmerz, der für jemanden wie mich, der noch nie in die Verlegenheit kam, Mutter, Vater, Bruder, Kind oder Geliebte der Erde zu übergeben, kaum messbar schien – nun trat er mir in Form eines Ey! entgegen, das auf sonderbare Weise und nahezu zeitgleich auch die Distanz zwischen ihnen und mir absteckte. Auf keiner Karte dieser Welt verzeichnet: der Weg, den ich noch zu kriechen hatte.

IIIIIIII
Auch die nächsten zwei Tage verbrachte ich im Bett. Kein Aufbäumen. Nicht einmal, als ein verstohlener Sonnenstrahl meine sich schon ans Grau des Nebels gewöhnten Augen streifte – das Pfeifen meiner Lungenflügel als Hintergrundmusik, als Soundtrack zu dieser Irrfahrt, dieser irren Fahrt, die immer mehr Fragezeichen in meine Stirn bohrte. Zusätzlich nährte ein Foto, das mir mein Mitbewohner auf das Handy geschickt hatte, meinen Missmut: darauf eine glattgebissene, sattgrüne Wiese, durchtränkt von Wärme und Sonnenstrahlen, in der Mitte ein geräumiges, nach zwei Seiten hin offenes Zelt unter einem Himmel, dessen Blau beinahe kriminell anmutete. Zumindest einer von uns hatte den Frühling gefunden. Und der Bastard würde nicht aufhören, es mir unter die Nase zu reiben, so viel stand fest. Keinen Cent von meinem ehrlich im Bett abgelegenen Geld würde er sehen – von den Spesen ganz zu schweigen!
Ich würde diesem Bastard noch das Gegenteil beweisen, wenn die Kräfte erst zurückkehrten und ich am letzten Tag vollen Überschwangs mich auf den Weg machte gen Süden, gemächlich meinem selbstgesteckten Ziel entgegen, mit nichts als einem blöden Grinsen im Gesicht, abwechselnd Schuberts Müllerin und Lou Reeds Jesus pfeifend – nur noch einige Kannen Kamillentee entfernt, drei warme Duschen noch, vielleicht vier, ein paar zufällig im Rucksack gefundene Lutschpastillen, fünf sechs sieben Huster noch, acht zehn zwölf, mehr nicht, raus mit dem Schleim, dem angestauten Dreck und Schwitz, rein in die Kloschüssel, Erbrechen und Fieber und Straßen und Pfade und Berge und Täler und Dörfer und Himmel hinter mir, Maß in der Hand, Band ums Gnack, Vermesser durch und durch, auch Vermaßer, Messer allemal! Helena hatte die ganze Zeit über Recht behalten: Kein anderer war je für eine Aufgabe solchen Ausmaßes besser geeignet gewesen als ich, kein Magen besser auf die feine Kost abgestimmt, die ich mir mit den paar Piepen Honorar kaufen würde, OH!, unsägliche Wanderschaft, kein Vermieter so glücklich über die Miete wie meiner, kein Magistratsmitarbeiter so stolz, mir ein weiteres Visum aushändigen zu dürfen, kein Verleger neugieriger nach solch einer virtuosen Konstruktion und bewegten Sprache, wäre der Text zu diesem Unterfangen erst einmal fertig – derweil vor meinen Augen und laufenden Kameras der FC Liverpool mit 2 : 1 gegen Man City ins Halbfinale einzog: Mir konnte einfach nichts geschehen!

IIIIIIIII
Blass war die Erinnerung an meinen Weg nach C…tina. Nach drei Tagen war ich endlich aufgestanden, torkelte aus dem Bett wie ein Stück Scheiße und machte mich auf den Weg. Einige Stunden später fand ich mich auf dem Hauptplatz dieser Reißbrettstadt für Touris wieder, die noch verlassener schien als T…lach. James Bond weilte in den Achtzigern mal für einige Zeit in der Stadt – einst Austragungsort der Olympischen Winterspiele. Der Rest war gewohnheitsgemäß vom Nebel und steten Regen verschluckt, aber nicht verdaut worden. Kein einziger Gipfel lugte aus der dicken, grau-nassen Masse hervor. Gipfel, von denen ich wusste, dass sie da waren – die Ansichtskarten verrieten sie!
Blass die Erinnerung, blass auch der Weg – und wäre ich einige Kilometer das Tal abseits der Ausfallstraße hochgegangen, hätte ich sicherlich Fußabdrücke in der bereits verglasten Schneedecke vorgefunden, hie und da eine ungeschickt hingeworfene Pissspur; oder aber nur einige Straßen weiter rauf, die Restwärme und Enttäuschung eines ruhenden Busmotors an der Haltestelle, der zu jeder vollen Stunde minderbemittelte Gestalten wie mich hin- und hertaxierte. Es wollte alles nicht sein. Mit einem plötzlich aufkommenden Donnerschlag und stärker werdenden Regen suchte ich mir einen Unterschlupf. Es hatte den Anschein, als wäre das Schiff von einem Tag auf den anderen von seinen Insassen verlassen worden: verriegelte Eisdielen und Restaurants, an nahezu jedem Haus heruntergelassene Jalousien, wie Schatten vorbeihuschende, lichtscheue Gestalten, die ich kaum als Menschen identifizieren konnte, stehengelassener Baugrund mitsamt Kran und Bagger. Sogar Streuner mieden die direkten Wege. Ich war allein.
Umso mehr erstaunte mich der offene Buchladen an der Ecke eines Parkhauses, dessen warmes, fürs Auge ungemein geschmeidiges Licht mir plötzlich einen Anker und Stellplatz bot. In der Auslage: Twain, Woolf, Ponge, Perec, Ginzburg, Calvino, Pasolini, Dickinson, Bachmann, Levi – wo war ich hier gelandet? Und konnte es sein, dass ich ausgerechnet hier, am gefühlten Ende Italiens, wo mir von Seiten meines schweinischen, nach dem Lenz lechzenden Mitbewohners ein Zelt versprochen wurde, ich aber nur den Nebel als Decke bekam und den Regen als Ernte – konnte es sein, dass ich hier, in einem Buchladen mit einer Auswahl, wie es sie in Österreich kaum zwei Mal gab, tatsächlich die italienische Übersetzung der Neun Canti Kerschbaumers finden würde, dieses poetischen Machwerks, das, als Geschenk verpackt und mit schwülstig-pathetisch-poetischem Kärtchen versehen, mir endlich die wertvollen Punkte einbringen würde in meinem bereits sechs ganze Monate andauernden, nahezu aussichtslosen Unterfangen, meine ehemalige Lebensgefährtin – eine Florentinerin mit Hang zu tiefen Tönen, von der die Leserinnen und Leser dieses Textes an dieser Stelle zum ersten und auch zum letzten Mal etwas erfahren – zurückzugewinnen. Konnte es sein, dass meine Reise tatsächlich hier endete: zwischen bis an die Decke gestapelten Büchern mir fremder Zunge, auf halber Strecke zwischen Nirgendwo und einem halbgaren Ende, und ausgerechnet Hedda (ja, Hedda!), meine Auftraggeberin, als einzige in dieser ganzen Geschichte Recht behielt?

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.