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Irgendwer

„Was heute tagtäglich millionenfach geschieht, ist das Rauslassen und Wüten der Sau.“ Leopold Federmair über das Internet als Ort der Scheinkommunikation und Versteck multipler Persönlichkeiten.

Ein Feigling

Im Mai 2018 wurde in österreichischen Tageszeitungen eine Nachricht veröffentlicht, die man als unerheblich abtun könnte, wäre sie nicht symptomatisch für den Zustand einer Gesellschaft und ihrer Mitglieder.
Ein Mann – vielleicht auch eine Frau – hatte einer ehemaligen Politikerin der Grünen obszöne und aggressive Emails geschickt, die ich hier nicht zitiere, weil sie sich der stereotypen Sprache der im Internet verbreiteten Pornographie bedient. Jeder kann die einschlägigen Formeln auf den einschlägigen Seiten nachlesen. Die
E-mails kamen von einem Computer in der Wiener Josefstadt. Der Standort lässt sich lokalisieren, außerdem können wir annehmen, dass die Politikerin regelmäßig bestimmte Wege, beispielsweise zum nahen Parlament, durch diesen Stadtbezirk ging, in dem der Anteil der Grün-Wähler besonders hoch ist. Wenn der Absender dieser E-Mails schreibt: „Du bist heute an meinem Geschäft vorbeigegangen“, gibt er eine reale Situation wieder. Es wird für die betroffene Frau nicht schwer gewesen sein, den Laden zu identifizieren. Dessen Besitzer bestreitet jedoch, der Verfasser der E-Mails zu sein. Er stelle den Computer seinen Kunden zur Verfügung und sei für deren Aktivitäten nicht verantwortlich. „Ich weiss von dem Post nichts da im Lokal mehrere Leute den PC nutzen und dies irgendwer geschrieben hat!!!“
Dem PC-Besitzer zufolge war der Verfasser der obszönen E-Mails also „irgendwer“. Der Mann griff zu einer List wie einst Odysseus bei den Zyklopen, nur dass sein Gegner kein furchteinflößender Riese war, sondern eine eher schmächtige Frau, die Zudringlichkeiten und Drohungen von „irgendwem“ über sich hatte ergehen lassen müssen. Die odysseische List ist unter heutigen, digitalen und virtualisierten, Bedingungen von einem mutigen Akt zu einem Sich-Drücken vor Verantwortung, also Manifestation von Feigheit geworden.
Noch ein Unterschied: Die Politikerin ist ein bisschen klüger als der barbarische Zyklop. Was nicht heißt, dass sie bei dem – zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht abgeschlossenen – Kampf gewinnen muss. Die Frau verwechselt die semantischen Kategorien nicht, sondern weiß, dass irgendwer jedermann sein kann, eine Leerform, die man entweder gar nicht oder beliebig ausfüllen kann. Sie weiß, oder kann mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen, um wen es sich wirklich handelt, eine konkrete Einzelperson mit dieser oder jener Geschichte. Für diese Person ist es ein Leichtes, sich in der Anonymität des Internets zu verstecken. Man kann ihr nichts nachweisen. Man kann nicht beweisen, dass der Josefstädter Ladenbesitzer der Verfasser jener E-Mails ist. Nimmt man seine Rechtfertigung jedoch ernst – und die Gesellschaft, die Gerichte und ein Großteil der „User“ mit ihren PCs und Smartphones tun das –, können die in Rede stehenden Postings von einem Mann, einer Frau oder auch von einem oder mehreren Minderjährigen abgeschickt worden sein, die sich dumme Späße erlaubten. Da es sich um eindeutig sexuelle Belästigungen handelte, spielt die Frage nach der geschlechtlichen Identität des Absenders eine gewisse Rolle.
Vom Mainstream abweichendes sexuelles Verhalten gab es immer, überall. Heute scheinen die Abweichungen vom Mainstream aufgesogen worden zu sein. In der ortlosen Welt der Vernetzten werden alle Rollen und Handlungsweisen durchgespielt, alle Triebe ausgelebt, von den normal-verkorksten (wie im Fall unseres Irgendwer) bis zu den ungewöhnlichsten, brutalsten. Triebe stoßen hier auf keine Schranken, Affekte werden nicht kontrolliert. Probleme entstehen erst, wenn man die virtuelle Welt mit der realen, örtlichen Wirklichkeit einer Wiener Gasse oder Straße und einer Frau aus Fleisch und Blut kurzschließt. Besser, man hält sich von dieser Wirklichkeit fern, dann entstehen keine Probleme.

Nicks

„Ich ist ein anderer.“ Je est un autre.
Berühmt werdende Sätze streifen mit der Zeit ihren Kontext ab. Der auf diesen folgende Satz lautet: „Wenn das Kupfer als Trompete erschallt, ist es nicht seine Schuld.“ S’éveiller heißt allerdings nicht „erschallen“, sondern „erwachen“, sein Übersetzer hat den poetischen, aus einem Brief des jugendlichen Dichters Rimbaud stammenden Satz „normalisiert“. Liest man ihn mit der Bedeutung „erwachen“, ist man vielleicht an Kafkas Verwandlung erinnert. Ein junger Mann erwacht eines schönen Morgens als Käfer, und die ungewöhnliche Geschichte beginnt …
(Rimbaud spricht in dem hier zitierten Brief dann vom Aufblühen seines Denkens, dem er sich gegenüber sieht. Was er beschreibt, ist nichts anderes als der schöpferische Akt, in dem Verwandlung seit jeher eine wesentliche Rolle spielt.)
Ein anderer zu werden ist in der digitalen Welt keine Hexerei. Auf den diversen „sozialen“, jedenfalls interaktiven Seiten kann man jederzeit „Konten“ eröffnen, wie die Orte genannt werden, von denen aus ein „Nutzer“ sprechen und wo er in vielen Fällen auch Nachrichten empfangen kann. So ist es möglich, sich jederzeit eine neue, andere, zusätzliche Identität zuzulegen. Man wählt nicknames, lustige, traurige, dumme, kluge, nichtssagende … Jeder kann im Internet viele sein. Rimbauds berühmter Satz (in seiner üblichen Auslegung) ist, wie so vieles andere auch, von einer kühnen avantgardistischen Stellungnahme zur weithin vorherrschenden Praxis geworden. „Ich war’s nicht – es war ein anderer, ein anderes Ich.“ Ein Irgendwer.
Manche der Kommunikationsplattformen, die in erster Linie als Selbstdarstellungsbühnen dienen (die mit dem Real-Ich oft gar nichts zu tun haben), fordern von den Nutzern, sich mit ihren richtigen Namen vorzustellen und einzutragen. Die Versuche, Identitäten auch zu prüfen, sind halbherzig oder unterbleiben ganz; flächendeckend lässt sich das ohnehin nicht bewerkstelligen. Die Pseudonymität kann bekanntlich so weit gehen, dass sich Maschinen – Roboter, auch „Bots“ – als menschliche Personen ausgeben, die ihre Stimme zu Gehör bringen wollen. Es liegt an der Struktur dieser Medien, dass der Manipulation, nicht zuletzt der politischen, Tür und Tor geöffnet ist. Aus diesem Grund besteht eine besondere Affinität zwischen Verschwörungstheoretikern, Populisten und – schlicht und menschlich gesprochen – Lügnern, Betrügern.

Ich selbst schätze an den Internetforen, dass sie es erlauben, auf unmittelbare Weise und in einem früher undenkbaren Ausmaß die Volksseele zu studieren. Ich lese nicht nur, sondern äußere mich hin und wieder in solchen Foren, aber nur unter dem Namen, den ich seit meiner Geburt trage. Ich bin für jedermann identifizierbar. Ich bin nicht irgendwer. Sollte mich jemand danach fragen, würde ich ihm unter Umständen auch meine (reale) Adresse mitteilen. Wenn ich dieses Verhalten in den Foren als allgemeine Regel vorschlage, ist der erste Einwand, den ich zu lesen bekomme, die Angst; der zweite, eng damit verbunden, die Demokratie. Diese User meinen, wenn sie sich unter ihrem echten Namen – „Klarname“, noch so eine seltsame Wortschöpfung – zu bestimmten Themen äußerten, würden sie Schwierigkeiten bekommen, die bis zu physischer Bedrohung und Verlust des Arbeitsplatzes gehen könnten. Sollten diese pseudonymen Nutzer tatsächlich glauben, was sie da schreiben, müsste ich mir ernstlich Sorgen um den Zustand der Gesellschaft, in der wir leben, machen. Man darf also nicht offen sagen, was man denkt? Es herrscht keine Redefreiheit? Oft im selben Atemzug wird das „Posten“ mit demokratischen Wahlen verglichen, die bekanntlich geheim sind. Aber eine solche Wahl ist etwas ganz anderes als ein Gedankenaustausch. Wenn ich die Identität meines Gesprächspartners nicht kenne, ist er nicht verantwortlich für das, was er von sich gibt. Eigentlich sollte ich ihn nicht ernst nehmen; strenggenommen werde ich von ihm niemals eine Antwort erhalten. Internetkommunkation in der gängigen Form ist Scheinkommunikation.
Natürlich bilde ich mir im Verlauf von solchen Gesprächen eine Vorstellung davon, wie der Mann oder die Frau oder das Kind „wirklich“ sein mag. Aus seiner Art zu sprechen (d. h. zu schreiben) glaube ich, Schlüsse ziehen zu können. Ab und zu gibt mir mein virtuelles Gegenüber auch Hinweise, damit ich wenigstens eine Ahnung von seinen realen Lebensverhältnissen erhalte. Trotz allem herrscht dabei die Spekulation vor. Verdächtigung und Gerücht gehören neben der Selbstdarstellung zu den hauptsächlichen Gesprächsmodi in den Kommunikationsmedien des Internets.
Setzt man sich mit derlei Pseudonymen bzw. Pseudopersonen auseinander und versucht, multiplen Identitäten nachzugehen, stellt sich heraus, dass neben denen, die sich mehr oder weniger wie im wirklichen Leben äußern, auch noch die sind, die Gelegenheit nützen, die Sau rauszulassen, die in ihnen steckt, oder sich selbst in Möchtegernform darzustellen (da ja niemand die Realität checken kann). Wenn einer mehrere nicks und accounts besitzt, unterscheiden sich die durchscheinenden Identitäten wenig, und die Ausdrucksweise ändert sich überhaupt nicht. Am Ende ist es doch gar nicht so leicht, ein anderer zu werden. Verkleidungen allein sind rasch durchschaut. Freilich, im Internet, wo Unmengen von Nachrichten, Kommentaren und Dummheiten zirkulieren und die „Rezeption“, wenn man sie überhaupt noch so nennen will, äußerst flüchtig ist, fällt das alles in der Regel niemandem auf. Der User, der seine Stimme(n) für weltbewegend hält, in Wahrheit aber gar nicht wahrgenommen wird, kann getrost Befriedigung aus der Scheinkommunikation ziehen.

Erich

Seit ich Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts die Erzählung Bitumen schrieb, kommt mir immer wieder die merkwürdige Verbindung von Er und Ich zum recht gebräuchlichen Vornamen Erich in den Sinn. Eine Person, die zugleich Ich und Er ist, damit lässt sich literarisch alles mögliche anstellen. Eine Figur kann mehrere Figuren sein, wie z. B. in Hofmannsthals Romanfragment Andreas oder Die Vereinigten, wo Mariquita einmal als Facette Marias erscheint, dann wieder als andere, eigenständige Person. Im wirklichen Alltag sind solche Schwankungen selten, außer bei psychisch Kranken. Wenn wir uns vor den Spiegel stellen, um uns zu rasieren oder zu schminken oder den Bart zu stutzen, kommen wir gewöhnlich nicht auf den Gedanken, wir könnten nicht wir sein. Allenfalls gibt der Blick in den Spiegel einem in die Jahre gekommenen Menschen Anlass zur Überlegung, ob er in jungen Jahren nicht doch ein anderer war: frischer, attraktiver usw. Er wird sich sagen, dass es trotz allem so etwas wie eine Einheit des Lebens gibt, in der sich die verschiedenen Phasen sinnvoll aufeinander beziehen.
So gesehen ist Ich kein anderer, er wird ein anderer. Auch wenn das in bestimmten Situationen ziemlich plötzlich geschehen kann. Im Grunde genommen ist Nietzsches Imperativ „Werde, der du bist!“ der Rimbaudschen Formel verwandt. Der Akzent liegt auf dem Werden; die Aufforderung impliziert, dass ich (noch) nicht der bin, der ich bin. Das heißt dann aber: Werde nicht irgendwer, also kein beliebiger anderer, sondern der eine, dessen Persönlichkeit in dir angelegt ist. Entfalte dich!
Wir sind mit diesen wenigen Überlegungen ins Zentrum jahrhundertealter Gespräche über Ethik und Entwicklungspsychologie gelangt. Erstens, wie ist es mir möglich, den anderen, meinen Mitmenschen, zu verstehen und in einen Austausch mit ihm zu treten? Zweitens, wie ist es möglich, dass ich von einem Ich zu einem anderen Ich, von einer Phase zur nächsten fortschreite, von einem kindlichen zu einem jugend-
lichen zu einem erwachsenen Ich, aber auch, in ein und demselben Zeitraum, von einem ernsthaften Firmenmitarbeiter zu einem leidenschaftlichen Liebhaber oder einem unbekümmert mit seinem Kleinkind spielenden Vater? Ist der umgängliche Gewerbetreibende in der Josefstadt derselbe wie der einsame Mann (oder Familienvater), der gewaltschwangeren sexuellen Phantasien nachhängt? Im Extremfall: Sind Dr. Jekyll und Mr. Hyde wirklich dieselbe Person? Oder auch: Wie kann ein so langweiliger Mensch so spannende Bücher schreiben?
Es geht mir hier nicht um Antworten, die es auf derlei Fragen sehr wohl gibt. Was mich und, wie ich hoffe, auch andere beunruhigt, ist, dass sie immer weniger gestellt werden. Die leichte Verfügbarkeit und der flüchtige Gebrauch von Identitäten scheint dauerhafte Ich-Zuschreibungen, also Ensembles von Eigenschaften und Fähigkeiten, die man sich erst einmal aneignen müsste (was nicht ganz ohne Mühe vonstattengehen kann), tendenziell überflüssig zu machen.

Ich

Auf die Gefahr hin, als „guter Mensch“ zu erscheinen – niemand hat in unseren Zeiten eine schlechtere Presse als die Figur des guten Menschen – möchte ich hier alten Tugenden wie Aufrichtigkeit und Verantwortungsbewusstsein das Wort reden. Und auf die Gefahr hin, als konservativ zu gelten – nichts ist suspekter als das Bewahrenwollen –, plädiere ich für Kohärenz, was angesichts multipler Existenzweisen in virtuellen Welten vor allem bedeutet, realitätsbezogenes Vorstellungsvermögen zu entwickeln, zu stärken, zu bewahren. Meine Handlungen haben Folgen, Auswirkungen, und sie können Gegenhandlungen, Reaktionen, Rückstöße hervorrufen. Wenn ich jemanden erschieße, ist er tot. Oder nicht? Wenn ich jemanden liquidiere, komme ich ins Gefängnis. Oder? Und auch, wenn ich jemanden verbal bedrohe, muss ich mit einer Strafe rechnen. Nein?
Das sind Extrembeispiele. Tatsächlich bin ich in jedem Augenblick verantwortlich für meine Umwelt, für den anderen, für jeden in meiner Reichweite befindlichen Menschen (auch wenn er, wie ich, für sich selbst verantwortlich ist) und selbst für Dinge, für Tiere, für das Ganze. Noch für die Zukunft bin ich verantwortlich, und für das Getane oder Unterlassene. Die Wahrnehmung solcher Verantwortlichkeit ist aber nur möglich, wenn die Einheit der Person – und das heißt, ihres Lebens – gewahrt bleibt, ganz gleich, wie viele Namen oder Identitäten einer – immer noch Einer! – sich zulegt. Die Rede von den 2052 Ichs hat etwas Leichtfertiges, oder Bedrohliches, weniger für die anderen als für das Ich. Jede Vielfalt ohne Faltungsinstanz, jede Pluralität ohne Immanenzplan führt zu einem Atomismus, einer Zersplitterung, die nicht mehr vermittelbar ist, und in der Folge zu Gewalt nach innen, gegen das Pseudosubjekt, oder nach außen, gegen jene, die für die Ich-Misere verantwortlich gemacht werden.
In einem Zeitungskommentar zu unserem anonymen Josefstädter Geschäftsmann stand zu lesen, dem Mann und Seinesgleichen müsse begreiflich gemacht werden, dass er nicht nur für reale Worte und Gesten verantwortlich ist, sondern ebenso für digitale, scheinbar „nur“ virtuelle, im Internet geäußerte. In der Tat scheinen das viele „User“ nicht zu begreifen, und zwar nicht nur in Fällen, wo sie andere beleidigen oder schädigen, sondern auch dann, wenn sie selbst die Leidtragenden sind, indem sie private Dinge öffentlich machen, die sie im wirklichen Leben aus Gründen der Scham für sich behalten würden. Solche Kommentare und Ermahnungen sind ehrenwert, es fragt sich jedoch, ob sie den Sachverhalt treffen. Im Internet kann im Unterschied zum wirklichen Leben jeder privat und öffentlich auftreten, als Ich und als anderer. Die Scham schmilzt dahin, das Ich verzieht sich, ein anderes Ich oder das sogenannte Es tritt an seine Stelle; was „ich“ tue oder „es“ tut, spielt keine Rolle, betrifft mich im nächsten Augenblick nicht mehr. Meine Handlungen sind von mir abgeschnitten, zwischen ihnen besteht keine Kontinuität, nur eine kryptische, sprunghafte timeline oder history. Es liegt an den Personen, den Bürgern, cityoens, wie man sie früher einmal nannte, dass sich unverantwortliches Verhalten breitmacht; es liegt aber auch und vor allem an den technologischen Kommunikationsmechanismen, die das Prinzip Verantwortung aushöhlen bzw. überflüssig erscheinen lassen.
Aus diesem Grund greifen Gesetze, die für die reale Welt entworfen wurden, bei digital-virtuellen Handlungen nicht so recht. Nicht nur dämliche Irgendwers, auch bekannte Politiker reden sich nach zweifelhaften Äußerungen gern darauf hinaus, es sei alles nicht so gemeint gewesen, man habe den Ironie-Button zu drücken vergessen, die Äußerungen seien als Satire zu verstehen. Lügen wird ohnehin als Teil legitimer PR-Strategien allgemein akzeptiert. Die im Internet gängigen Praktiken höhlen nicht nur das Verantwortungsbewusstsein aus, sie torpedieren ebenso das aus prädigitalen Zeiten stammende Kriterium (und das Streben nach) Wahrhaftigkeit. Letzten Endes gilt nur noch eines: ICH kann sagen, was ICH will. Dieses Prinzip wird oft, und manchmal vorsätzlich, mit Freiheit und Demokratie verwechselt.
Aber wer ist ich? Noch einmal diese Frage. Und die konservative Antwort, die in der technologischen Moderne und, wenn nötig, gegen sie aufrechtbleiben soll: Ich bin ich, indem ich werde, was ich eigentlich bin. Durch Vielfalt und Erweiterung zur Einheit. Und wieder zu diesen, Erweiterung und Vielfalt, zurück. Wie die Herzpumpe, Systole und Diastole. Auch mit meinen Trieben muss ich so umgehen, dass ich mich im Spiegel anschauen, d. h. als Ich erkennen kann. Das Internet hält mir keinen Spiegel hin. Es funktioniert nicht analog, sondern digital, ständig springend. Es hält niemals inne.
Immerhin, man kann es ausschalten. Sich zeitweilig abwenden. Man muss sein Leben – oder die „Freizeit“ – nicht im Netz verbringen. Etwas und jemand werden, das kann man nicht mit dem Display vor Augen. Die auf digitale Medien fixierten pädadogischen Konzepte sind allesamt zum Scheitern verurteilt. Wenn es ums Ich-Werden geht, zählt der Mensch: ich und die anderen.

Conchita

In meiner Jugend verachtete ich den sogenannten
Eurovision Song Contest. Als 1974 ABBA gewannen, wurde mir die Band noch unsympathischer. Mittlerweile hat sich das Blatt gewendet, die Intellektuellen dürfen vor dem Fernseher und in Internetforen ihre Ironielust ausleben, hinter der sich das Verlangen nach seichter Unterhaltung und geistiger Entlastung recht und schlecht verbirgt. Vor einigen Jahren wurde ein Homosexueller, der sich Conchita Wurst nannte und als Frau mit Vollbart auftrat, über Nacht zum österreichischen Volkshelden, indem er den Contest gewann. Er stieg auf wie ein Phönix (so der Titel des siegreichen Songs). Austria number one! Ein katholischer Priester, der sich als Theologe einen Namen gemacht hatte, ließ sich von der Pop-Euphorie anstecken und meinte, in der kommerziellen Show eine „religiöse Inszenierung“ zu erkennen, eine Art neumodernes Mysterienspiel. Die minderheitenfreundlichen Grünen hatten den schwulen Künstler schon vorher hofiert – von Politikern erwartet man ohnehin nichts anderes, als dass sie mit den Wölfen heulen oder, noch besser, dem Geheul zuvorkommen, indem sie Trends aufspüren lassen.
Homosexuell zu sein ist im kaum noch katholischen Österreich keine Schande mehr. Im Gegenteil, viele finden das cool, Homophobie scheint es nur noch unter ewiggestrigen Muslimen zu geben: ein Grund mehr, ihnen mit Misstrauen oder Ablehnung zu begegnen. Mann mit Bart? Kein Problem! Geschlechtswechsel? Ist mir egal. Kunstfigur? Wunderbar! Jeder will so ein Selbst-Künstler sein, in Youtube oder Facebook darfst du dich nach Belieben gestalten. Können musst du nichts, die Musik und das Bühnenbild kommen ohnehin aus der Konserve.
Das multiple Ich, einst Galionsfigur der literarischen Avantgarde, ist zum Sinnbild des digitalen Mainstreams geworden. Conchita – ein im gegebenen Kontext heimlich obszöner Name – ist in Wahrheit gar kein Transvestit. Aber darum geht es nicht, es ist ja nur Spiel, Showbusiness, Verkleidung. Cosplay. Die ESC-Inszenierung spiegelt dich und mich. Das Drama der Homosexualität, von Jugendlichen aller Generationen immer wieder durchlebt, von Autoren wie Yukio Mishima beschrieben, ist trivial geworden. Seine force contestataire hat es längst eingebüßt. Die Identitätszweifel vieler Jugendlicher und die damit verbundenen Leiden bestehen trotzdem fort.

Ein armes Schwein

Auch der Josefstädter Ladenbesitzer (alias Irgendwer) ist so ein Künstler. Freilich, wir kennen seine Identität, die eine und einzige. Nicht nur ich, auch andere („User“) sind auf die Idee gekommen, sich seine Sprache genauer anzusehen. An seiner Schreibweise sollst du ihn erkennen. Dazu musst du kein Linguist, kein Stilkundler sein. Vor Gericht werden nur Experten angehört, doch bei einem mäßigen Künstler wie diesem ist es nicht schwer, zum Ergebnis zu kommen. Neben dem Wortgebrauch verraten ihn die drei Rufzeichen hinter gewissen Sätzen, und erst recht der taktische Fehler, sie gelöscht zu haben – als währte die history, jede history, nicht ewig! Der Mann ist, wie wir von Anfang an vermutet haben, der Mann. Und wie jedermann / jedefrau wird er zuweilen, vielleicht sogar täglich, ein Opfer – ja, auch er, der Täter! – seiner Triebe, die er im wirklichen Leben vermutlich nicht recht ausleben kann. Deshalb der aggressive Ton, die Vergewaltigungsphantasie. Oder pflegt er mit seinen Drohungen ernstzumachen? Vermutlich nicht. Ein Möchtegernvergewaltiger, das ist er. Ein armes Schwein.
Die Postings verraten einen aggressiven Charakter, und gleichzeitig Sexualnot (beides geht oft miteinander einher), ein in der neoliberalen Gesellschaft verbreitetes Phänomen, das Michel Houellebecq in seinem Roman Ausweitung der Kampfzone beschrieb. Prostitution und Sextourismus, meinte Houellebecq seinerzeit, vor der Jahrhundertwende, könnten Abhilfe schaffen. Das Internet war damals noch in den Anfängen; heute werden solche Nöte wenigstens teilweise von den pornographischen Seiten gelindert, die aggressiven Charaktere ruhiggestellt. Auch aus diesem Blickwinkel kann man unserem Irgendwer in der Josefstadt wieder den Vorwurf machen, er habe die virtuelle und die reale Welt fahrlässig vermischt. Wärst du doch bei deinen digitalen Pussys geblieben! Was musst du auch auf die Gasse gucken! Wo die Bildschirmbilder doch viel spannender sind!
Die Figur des Er-Ich, die mich seit jeher fasziniert, hat einen nahen Verwandten, den ich Es-Ich nennen möchte. Auch er ist ein Doppelgänger, Er und Es kommen selten allein. Dass im Inneren dieses seltsamen Wesens ständig Kämpfe stattfinden, versteht sich unter aufgeklärten Bürgern des 21. Jahrhunderts von selbst. Neu – relativ neu – ist, dass jedermann / jedefrau über technologische Medien verfügt oder verfügen kann, die das Es entfesseln und zugleich den Schein wecken, das Ich habe noch Macht über die sogenannte Identität und den Verlauf der Dinge. Was heute tagtäglich millionenfach geschieht, ist das Rauslassen und Wüten der Sau – natürlich nicht nur der sexuellen, auch der Sau der Empörung, des Gezeters, der Destruktivität.
Richtig verstanden und recht gebraucht, ohne fahrlässige Verwechslungen und Vermischungen, wird das Internet mit seiner virtuellen Sozialität die Gesellschaft in längerfristiger Perspektive befrieden. Wir werden alle unsere Phantasien ausleben können, die dunklen wie die hellen, rund um die Uhr. Wir brauchen keine Zugehörigkeit, keine Identität, keinen Ort. Keine Heimat und keinen Lebenszusammenhang. Wir müssen einander nicht mehr nahetreten. Beleidigen, vergewaltigen, vernichten können wir virtuelle Figuren. Die Josefstadt ist (n)irgendwo.

Aussichten

Was ich hier skizziere, ist eine von zwei möglichen Entwicklungen. Die andere besteht darin, humanistische Richtwerte zu bewahren und mit den neuen Technologien in Einklang zu bringen. Quadratur des Kreises?

 

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