zurück zur Startseite

Marginaltexte (5)
Standhalten

Mit dem Wort Marginalie wird gewöhnlich Nebensächliches bezeichnet, etwas am Rande oder an der Grenze einer Sache Liegendes. In Quart werden unter diesem Titel zentrale Texte über das Leben an der Peripherie neu veröffentlicht, die längst vergriffen oder nur schwer zugänglich sind, an entlegenen Orten aufbewahrt oder gar in Archiven verschwunden. Folge 5: ein Fragment aus dem unabgeschlossenen Romanprojekt „Scheinbare Nähe“ des 1982 mit 43 Jahren verstorbenen Osttiroler Autors Gerold Foidl.

Ich zögerte jedesmal mit der Rückkehr ins Stadtzentrum. Als wollte ich meiner veränderten Situation Rechnung tragen und zeigen, daß ich zum Teil ins Krankenhaus gehörte, wenn ich mich nach der täglichen Therapie im Café am Ausgang in den für Patienten reservierten Teil setzte, um mich auszurasten. Gegen Mittag brach ich auf, ohne mich beim Überqueren der Straße auch nur ein einziges Mal umzudrehen. Ein Gefühl feindlicher Abneigung drängte mich zum Gehen. Die Straße führte gleich zu Beginn über den Brauereihügel, die einzige und nicht sehr scharfe Steigung auf dem Weg in die Stadt. Trotz meines langsamen Schritts, nach wenigen Schritten der Husten, trocken, schmerzhaft, als würde die rechte Brustseite durch ein ausgefranstes, zu dünnes Brunnenrohr herausgedrückt. An den Schläfen pocht es stärker werdend, wie endlos lang ist dieses Stück Straßenanstieg. Kaum daß ich Schritt vor Schritt zu setzen imstande scheine, dreiundvierzig, kraftlos in den Knien, scheint zu versagen, worauf ich mich mehr als vierzig Jahre lang gestützt habe: mein Wille. Ich komme mir wie eine Karikatur vor, wenn ich versuche, mich diesen lächerlichen Hügel hinauf zu bewegen. Mehrmals bleibe ich kurzatmig stehen. Der Tumor wächst in die Bronchie und neigt dazu, sie wie ein Korken zu verstopfen. Ich bekomme dann kaum Luft, und das Erstickungsgefühl drückt den letzten Widerstand aus meinem kraftlosen, untergewichtigen Körper. Ein Gefühl der Erniedrigung ist es, wenn ich torkelnd (trotz allem Bemühen) die Kuppe dieser lächerlichen Straßensteigung überschreite. Ich müßte diesen Weg nicht nehmen; könnte wie auf der Herfahrt mit dem Bus fahren. Aber es ist der Weg ins Stadtzentrum, vielmehr in jenen kleinen Teil davon, in dem ich die letzten zehn Jahre lebte. Wie in einem selbst gewählten Ghetto.
Das Bild der Stadt ständig vor mir, wenn ich unter den Kastanienbäumen mich langsam den Kai entlang schleppe, erinnere ich mich leichter der Dinge, die – in Zusammenhang mit meiner Situation – mir jetzt noch wichtig scheinen. Die sich sonst wahrscheinlich im unbestimmbaren Dickicht von Tagen ohne Namen und Gesicht verloren hätten.
Über eines denke ich bei jedem Rückweg nach: über meine veränderte Situation. Nicht daß es mir so wichtig erschiene, an nichts anderes mehr zu denken, wenn man weiß, daß man in absehbarer Zeit an Lungenkrebs sterben wird. Es ist etwas ganz Natürliches, das man nach kurzer Zeit, wie man auf so ein Ereignis eben vorbereitet ist, leidenschaftslos betrachten kann. Deshalb auch quäle ich mich Tag für Tag den Hügel herauf, erlebe meine Begrenztheit und dann wieder meinen Willen. Wenn ich der Stadt zugehe, denke ich oft: ICH WERDE ES HINTER MICH BRINGEN DURCH STANDHALTEN!
Am Anfang, sobald man den ersten Schock des angekündigten Todes verdaut hat, ist es noch verhältnismäßig leicht, Widerstand zu leisten. Man kann Hoffnung fassen und aus Unkenntnis, wie es tatsächlich um einen steht, glauben, schließlich werde sich doch noch alles zum Besseren wenden. Nach einigen Wochen, wenn man sich an das Bewußtsein, in absehbarer Zeit sterben zu müssen, gewöhnt hat, kommt einem sogar die Zeit, die später so unerbittliche, zu Hilfe. Man wacht täglich mit dem Gedanken an einen frühen Tod auf. Die erste Zeit von Angst oder heftigem Unbehagen begleitet – und wie bei allem, das sich zu häufig wiederholt – bekommt man es nach einiger Zeit satt, sich mit ständig denselben Angelegenheiten herumschlagen zu müssen. Alles wird getan, es in den abgelegensten Teil der Gedankenfabrik zu verbannen, und eines Tages stellt man verblüfft fest, daß man den Gedanken an einen frühen Tod vergessen hat oder sich nicht vorstellen kann, als wäre es ein ausgeblichenes Bild. Dies alles setzt natürlich einen beschwerdefreien Körper voraus, der nicht dauernd Signale aussendet, aufmerksam auf sich macht, daß hier ein Körper im Begriff ist, wie ein Steinhaufen zu zerfallen.
Ähnlich wie beim Alleinsein ist es; wenn man tagelang in Einsamkeit gerät, ohne sich wirklich das beängstigende Gefühl der Verlassenheit erklären zu können. Man spürt dabei die häufiger wiederkehrende Versuchung zu resignieren, allen Sinn von sich zu weisen und –
wenn man schon geneigt wäre, dem nachzugeben – das Gefühl der Scham. Manchmal bedarf es des fast vollzogenen Selbstverrats, um wieder die Kraft zu finden, weiter standzuhalten. Wenige, schmerzvolle, über längere Zeit anhaltende Attacken machen schnell alle Hoffnung zunichte. Ein guter Freund riet mir ab, offen darüber zu sprechen. Es würde das Verhalten der Leute mir gegenüber schlagartig verändern. Als Reaktion würden sie mir Mitleid entgegenbringen. Ich würde in Zukunft nicht mehr unterscheiden können, welches Gefühl mir entgegengebracht wird. Er sagte es zwar nicht, befürchtete aber wohl doch, jetzt, im Klaren über einen baldigen Tod, werde ich plötzlich gefühlsanfällig, und aus Andeutungen entnahm ich, daß er volles Verständnis habe, wenn ich mich so verändere. Ich hatte mit ihm das erste umfangreiche Gespräch über meine neue Situation. Wenige Tage nachdem ich den mich behandelnden Stationsarzt so lange unter Druck setzte, bis er mir sagte, was mir wirklich fehlt. Vier Monate versuchten sie mir weiszumachen, es sei eine verschleppte Lungenentzündung. Behandelten mich dabei aber mit Präparaten, die bei Berührung sofort ein Loch in den Fußboden ätzten. Aber die Ärzte schwiegen sich aus. Ich brachte für Leute, von denen ich mich getäuscht fühlte, kein Verständnis auf. Fragte nicht nach Ursache oder deren Rechtfertigung. Für mich zählte nur mein Rechtsanspruch, die Wahrheit über mich zu erfahren. Mir war die Überlegung fremd, jemand könne mir aus Rücksichtnahme auf mich etwas verschweigen. Ich versuche jetzt öfter zu ergründen, was andere zu ihrem Handeln bewog. Schwer fällt mir immer noch zu akzeptieren, daß sie Absichten haben, die anders als meine Ansichten sind. Aber die Monate mit der Krankheit haben mich verändert. Erstmals bin ich bereit, selbst Opfer zu bringen, um mit anderen eine faire persönliche Beziehung zu unterhalten. Früher lebte ich wie in einem unsichtbaren Gefängnis, nicht mehr fähig, andere zu verstehen. Das war ein nicht wiedergutzumachendes Versäumnis. Dazu stehe ich. Noch sage ich nicht, daß ich es bereue, weil ich mich noch zu sehr als Opfer der anderen fühle. Häufig überkommt mich Angst und läßt mich zögern, etwas beizutragen, um auf einen anderen zuzugehen. Gesichter tauchen auf, ich stürme vorwärts, unbändig auf der Suche nach Zuneigung, im Lauf renne ich an eine unsichtbare Mauer, werde von einer Riesenfaust zurückgeworfen, ein Loch tut sich auf, mit jedem Mal verstumme ich mehr, am ganzen Körper fühle ich mich zerschlagen und halb benommen hämmert es oben: standhalten, standhalten.
In einer Seitengasse strahlt ein Scheinwerfer ein Schild an. Das CAFÉ hat der Besitzer einfach und einprägsam das Lokal genannt. Auf den Gehsteigen sitzen einzelne Gruppen junger Mädchen und Burschen. In einer rauchen sie zusammen einen Joint. Schwacher Lichtschimmer fällt auf das glitschige Kopfsteinpflaster. Drei magere Hunde kläffen, jagen einander. Sie gehören zu den abgerissenen Gestalten am Gehsteig, die aneinander lehnen und sich nicht um das Hundsspiel kümmern. Die Gasse ist verrufen; zweihundert Meter weiter ist eines der drei Puffs, die es in der Stadt gibt. Gleich anschließend sind einige Animierlokale. Die Gegend hat bei den Bürgern, die auf Etabliertsein Wert legen, den Ruf einer Ecke, wo sich der Abschaum und das Gesindel trifft. Leute, die auf ihren Ruf bedacht sind, vermeiden es, hier gesehen zu werden. Jedenfalls nachts. Es kursieren die wildesten Gerüchte in der Stadt, was das Café anlangt. Es sei ein Treffpunkt der ganzen Linken, Kommunisten und sonstigen Anarchisten; die vielen tachinierenden Studentinnen, die sich dort herumtrieben, seien leichte Beute, manche richtige Huren; am ärgsten seien aber die Rauschgiftsüchtigen. Es sei ein richtiger Umschlagplatz für das Gift. Es empören sich hauptsächlich Leute über das Café, die ich noch nie in dem Lokal gesehen habe. Ursprünglich war es nur ein dreistufiger Gewölbeschlauch; mit einigen Kaffeehaustischen und einer langen Theke. Da war ein Gelegenheits-Filmschauspieler noch in dem Geschäft drin, der aus dem schmalen Schlauch ohne Entlüftung ein Künstlercafé machen wollte. Die Ober zogen ihre Smokings aber bald aus, und Studenten, die um fünfundzwanzig Schilling die Stunde arbeiteten, übernahmen den Job. Der jetzige Besitzer spekulierte von Anfang mit der Jugend, die hier ein Lokal vorfände, wo sie sein könnte, wie es ihr gefiele. Sogar der Glasbruch war in den Preisen inbegriffen und es gab kein Gezeter, wenn einer einmal einen Tisch abräumte. Später kam noch ein hinterer Raum dazu, und es sah eine Zeit lang aus, als ziehe das legere, aber seriöse Leute an. Ich gehe täglich hin. Warte zuhause die Neunuhrnachrichten ab und mache mich dann die Gasse hinunter auf den Weg.
Die ersten Monate, nachdem ich um meine Krankheit wußte, schien mir, als ließe sich durchaus mit dem Todesbewußtsein leben. Die Gewißheit auf eine ab-
sehbare Endzeit hin gab mir sogar eine gewisse Fe-
stigkeit. Ich war der Meinung, mich in einer durchaus erträglichen Lage zu befinden. Ich rechnete damit, in eineinhalb bis zwei Jahren abgehen zu müssen. Natürlich bleibt dieser Zustand nicht bis zum Ende, sagte ich mir oft vor, besorgt, mir Hoffnungen zu machen, die sich dann als jeder Grundlage entbehrend herausstellen könnten. Aber angenehm und anregend war diese Zeit über das Gefühl, selbst über mich bestimmen zu können. Gegen die Chemotherapie, zu der ich alle drei Wochen ins Krankenhaus mußte, entwickelte ich eine immer stärkere Abneigung.
Der Geruch der Flüssigkeiten schnürte mir die Kehle ab, so daß mich häufiger werdende Hustenanfälle erfaßten. Mehrere Tage, wenn es wieder so weit war, ging mir die Kontrolle – bei der sonst noch ein Blutbild und ein Lungenröntgen gemacht wurde – nicht aus dem Kopf. Vielleicht empfand ich die ständig wiederkehrende Angst nur, weil man mich die erste Zeit nach der Entlassung getäuscht hatte. Weil kein Arzt mir gesagt hatte, was mir wirklich fehlt, obwohl ich mehrmals sehr heftig eine Antwort forderte, und jeder sich in ein unverbindliches Geplauder zu retten versuchte, wenn man fragte, wozu diese merkwürdig scharfen Chemikalien in der Therapie wirklich dienten; die bezeichnenderweise AO-Spritzen genannt wurden.
Der Anfang war getan, dem Ende fühlte man sich nah. Ich konnte meinen Arzt, zu dem ich ein freundliches Verhältnis unterhielt, nicht zum Auflassen seiner Geheimniskrämerei bewegen. Es war klar, einem Arzt konnte man ohne Skepsis nicht gegenübertreten. Doch sonst belastete mich die erste Zeit nichts, was mit der Krankheit zusammenhing.
Die Zeit bis zu meinem Ende konnte ich mir nicht als Zukunft vorstellen. Zu erwarten war nichts. Ich hatte mir vorgenommen, bis zum Schluß durchzuhalten. Dessen ich mir plötzlich nicht mehr sicher war. Ich hatte mir mit stoischer Ruhe das Todesurteil angehört. Obwohl Primar wie Stationsarzt sich zu keinen Schätzungen herbeiließen, wieviel Zeit mir noch zum Leben bleibe. Das war in dieser Situation ein völlig belangloser Punkt. Doch der Zeit entkam man nicht. Je alltäglicher der Gedanke wurde, daß man jetzt endgültig auf das Ende zulebe, desto heftiger fühlte ich mich zur Rechtfertigung über mein Tun und Handeln, Unterlassen, Versäumen in den dreiundvierzig Jahren bisheriger Lebenszeit gedrängt, die eine unvorhergesehene Entwicklung zur plötzlich abgeschlossenen Epoche meiner Vergangenheit werden ließ. Nichts mehr ändern können. Sich so stellen müssen und nichts dem übermächtigen Schuldgefühl des Gescheitertseins entgegensetzen können, zu dem ich mich erstmals bekannte. Kein: vielleicht ergibt sich was, man wird sehen, noch ist Zeit zu hoffen, ich habe noch etwas vor mir. Damit war es jetzt aus. Ich sprach mit dem Stationsarzt nicht darüber, weil ich befürchtete, er verstehe mich nicht. Es hätte nichts genützt, mich jemandem anzuvertrauen, der mir dann Vorwürfe machte, ich dürfe nicht so pessimistisch sein. Blieb mir jetzt anderes übrig als die Kräfte zu sammeln, um möglichst lange hinauszuschieben, zu zerfallen wie ein aufeinandergeschichteter Haufen Steine? Um gegenüber einer Gefahr, von der man wußte, daß man ihr unterliegen würde, so lange als möglich zu bestehen, daß man bis ins letzte, unaufhaltbare Stadium des schrittweisen Ausgelöschtwerdens die Achtung vor sich behielt, das mußte die einzige Art sein, wie man wirksam standhalten konnte. Dazu bedurfte es gelassener Nüchternheit, einer Hoffnung, die nicht zu hochgeschraubten Erwartungen verleitete. Ist es einmal Tatsache, daß man sich auf dem Weg zum Ausgelöschtwerden befindet, ist man auf jedem Schritt von Angst und Überraschtwerden bedroht. Und doch ist jeder Tag, an dem man noch einmal vom Tod verschont blieb, wie eine Aufforderung, daraus etwas zu machen. Woher nähme jemand das Recht, Tage mit der Endgültigkeit des Todes zu vermauern, einer, der sich dauernd einredet, ihm standhalten zu wollen?
Viele Leute überholten mich. Ich drückte mich in den Schatten der Kastanien, während ich gedankenversunken den Kai entlang schlurfte. Gelegentlich hielt ich Ausschau nach den Stockenten und Schwänen, die den Fluß hinabpaddelten. Eine braune Lache, die sich herabwälzte, verunstaltet von den Abwässern einer Papierfabrik und anderer Betriebe. Achtlos ging ich an den leeren Bänken vorbei. Nicht hier niedersitzen. Bald war es so weit; über den Steg noch und das Stückchen Allee auf der anderen Seite hinauf. Ein Tisch würde frei sein auf der Terrasse des Café Central, meines Stammcafés. Vielleicht ergab sich, daß ein Bekannter sich zu mir setzte und wir ins Gespräch kamen. Man konnte über alle diese Anstrengungen offen reden. Das war mein Beitrag zum Standhalten. Vielleicht machte es dem einen oder anderen Mut gegen den Tod. Auch wenn es nicht mehr war, als daß einer erstmals über Dinge sprach, die er bisher als Tabu betrachtete.
Mit einem Freund verließ ich lange nach Mitternacht ein Weinlokal, das wir Nichttrinker häufig besuchten, wenn wir uns vorher in einem Café trafen. Gut gelaunt trat ich in die laue Nachtluft, lachte über einen pleite gegangenen Neureichen; es hob mich plötzlich, ich fiel in den Husten ein und erschrak. Auf dem Asphalt zerfloß eine große Lache schaumigen, dunklen Blutes. Ob es wohl wahr sei, stierte ich den schwarzroten, sich zäh und langsam verteilenden Bächen nach. Als beruhigte es die tief in mir sitzende Betroffenheit, lachte ich zu einer Handbewegung, die den Vorfall als Bagatelle abtun sollte. Ich sei ganz weiß im Gesicht und solle besser gleich ins Krankenhaus fahren, sagte mein Freund. Nicht wegen jeder Kleinigkeit! Wir gingen weiter, hatten kaum die ansteigende Straße überquert, als ich neuerlich den Mund aufreißen mußte, um an dem nachfolgenden Schwall Blut nicht zu ersticken. Jetzt beginnt es also ernst zu werden. Die Schonzeit ist vorbei. Fast ohne Schmerzen, nur mit täglich steigenden Atembeschwerden. Wir gingen weiter und alle zehn, fünfzehn Meter mußte ich stehenbleiben, erlitt einen Hustenanfall und spuckte dazu Blut. Die rote Spur zog sich unsere Gasse hinauf, am Schluß nicht mehr als einige rote Markierungsflecken. Mein Freund wußte nicht genau, wie er mir am besten helfen konnte. Er wollte, daß wir nach Hause kämen, um die Rettung zu verständigen. Was ich ihm ausredete. Jetzt begann es also, und in immer kürzeren Zeitabständen würden immer größere Übel auf mich zukommen, das ließ sich nicht ändern. Aber freiwillig wollte ich nicht wegen jeder Geringfügigkeit, die einen anfangs beunruhigte, ins Krankenhaus. Um wie so viele andere, die ich bei meinem ersten Aufenthalt schon gesehen hatte, nur mehr als abgewrackter Körper in einem Bett zu liegen; auf nichts anderes als das Sterben ausgerichtet. So lange es nur ging, wollte ich Einfluß nehmen. Mich in meiner gewohnten Umgebung bewegen, um nicht die Vorstellung daran zu verlieren. Wie es bei Krankenhausaufenthalten häufig geschieht. Der Zugriff der Schimäre, es gäbe gar kein Draußen mehr, man solle sich nicht einbilden, man komme noch einmal hinaus, viel leichter mache man es sich, indem man akzeptiere, daß man nun nichts mehr zu erwarten habe, sollte mich gar nicht erst erreichen.
Mir war kalt. Ich ließ mich von ihm aber nicht bis nach Hause begleiten. Selbst wollte ich nichts unterstützen, was mich noch schwächer machte. Ich fürchtete mich vor dem Zubettgehen. Eingefallen und weiß sah ich aus, mehr hergenommen von dem Vorfall, als ich zugeben wollte. Aber bei den weiteren Hustenanfällen kam kein Blut mehr nach. Meiner Meinung nach war eine kleine Ader, nein, nicht mehr als ein Äderchen konnte es sein, geplatzt. Das war alles. Wegen solcher Dinge brauchte man sich nicht aufzuregen. Aber der eigene Optimismus half wenig.
Ich bekam immer weniger Luft, was das ständige Zunehmen des Erstickungsgefühls bewirkte. Bei den Kontrollen erwähnte ich diesen Zustand jedesmal und betonte, daß mich das fast arbeitsunfähig mache. Wir saßen dann in einem der Untersuchungszimmer. Am Leuchtschirm steckten meine Röntgenaufnahmen. Der Arzt zeigte mir die ursprüngliche Geschwulst, mit einer Verschattung quer durch den ganzen Lungenflügel; die späteren Aufnahmen zeigten von Mal zu Mal eingrenzende Tendenz, und ich konnte dem Argument des Stationsarztes nicht widersprechen, daß dies ein Erfolg der chemotherapeutischen Behandlung sei. Meine Behauptung, der zunehmende Luftmangel sei für mich eigentliches Symptom meiner Krankheit, wurde wieder nicht zu meiner Zufriedenheit bestätigt. Ich erhielt aber zwei Packungen Ärztemuster eines neuen Medikamentes gegen Husten, mit eigenen Kapseln für Tag und Nacht.
Auf dem Heimweg beschäftigte mich pausenlos der Gedanke, daß mein ständiges Befaßtsein mit der Krankheit, jedenfalls als Interessenschwerpunkt, meine Entfremdung von anderen Menschen noch fördern mußte. Wie konnte ich dem entgegenwirken, ohne mich anzubiedern.
Ob viele begreifen würden, daß man mit einem Menschen, der so offen und vorbehaltlos über seinen bevorstehenden Tod sprach, über alles, von dem man bewegt wurde, sprechen konnte? Ob sich hier eine Möglichkeit zur Annäherung an Menschen ergab, ohne die Spielregeln der Gesellschaft zu befolgen? Es war die letzte Hoffnung für mich, doch noch etwas Positives ausweisen zu können. Ohne die eigene Position preisgeben zu müssen. Für die jahrzehntelange Verweigerung gegenüber allen Spielregeln der bestehenden Gesellschaft konnte ich mir zwar Konsequenz zugutehalten. Nichts aber erbrachte die Antwort, welchen Sinn dies gehabt habe. Mit diesem Bewußtsein wollte ich die Restzeit nicht abschließen. Es konnte eben niemand ohne andere leben; das war nicht mehr in Frage zu stellen. Auch von mir nicht.

Zuerst erschienen in: Turnthaler 7/1982

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.