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moki
Originalbeilage Nr. 31

Im Jahr 2017 hat die Künstlerin moki Plastikmüll an europäischen Stränden gesammelt und aus einem Teil der rundgewaschenen Stücke Schmuck hergestellt, dessen Verkaufserlös der Naturschutzorganisation NABU zugutekam. Einen weiteren Teil der kleinen Kunststoffstücke finden nun hier die Quart-Leserinnen und -Leser – begleitet von einer Malerei und dem folgenden Text der Autorin und Künstlerin Lily Wittenburg:

Wir wandern auf den Fundhorizonten einer gemeinsamen Gegenwart, sie sind die Schicht, die uns verbindet. Wieder und wieder auftauchende Gegenstände. Wind und Wellen verwischen die Beweise, indem sie mit Sand bedecken, was eben noch war. In diesem Reservoir schwimmend, wird es zunehmend schwieriger, Unterscheidungen zu treffen – zwischen sich und dem Herzzerreißenden der Dinge. Maschinen vermögen es, Massen und Massen von Splittern im Ozean zu berechnen, aber Empathie kalkulieren, das können sie nicht.
Abenddämmerung. Ein älterer Mann ordnet Pappkartons in einem Hinterhof, wir sehen ihn aus der Erhöhung eines Hotelzimmers. Täglich zwischen sieben und acht ist das Quadrat des Hofes sein Spielfeld. Eine Traurigkeit aus hundert oder tausend Jahren Wiederholung schwebt über ihm.
Seither gibt es für ihn nur noch zwei mögliche Beleuchtungen: Zigaretten und Neonlicht-Leuchtreklamen. Von der Schrift strahlt ein stumpfer Glanz ab. Gesichter ins Licht gesunken – wie in eine Flüssigkeit – gehen vorüber. Wäre da nicht die Spur von dem Lastwagen, der die Kartons anliefert, man könnte glauben, es seien immer dieselben Kartons, die er zu Stapeln aufeinanderlegt.
Im Minutentakt von Wellenbewegungen trifft der Wasserschlag den Untergrund, zieht sich das Meer zurück, um eine Grenzlinie zu ziehen aus Fragmenten. Als Scherben deuten sie noch auf etwas Ganzes hin, das sich nicht mehr entziffern lässt. Von Salzen zerfressen, an den Rändern rund geschliffen und durch die Witterung in ihrer matten Farbigkeit einander gleich geworden, zeichnen sie einen Pfad, der sich aus tausenden Orten zusammensetzt. Auf einigen Scherben findet die Betrachterin noch eingeprägt die Aufschrift ihrer Herkunft. China, Taiwan, Bangladesh, France, Germany. Das große Zirkulieren von Minutenwaren, Jahrtausende des Driftens. Wenn sie auf das Wasser schaut, sieht sie eine virtuelle Wüste vor sich, für die diese Dinge in ihren Händen zerbrechliche Zeugen sind. An Uferböschungen, im Gras sich zerreibende Überreste.
Die vom Wind Verlassenen in ihren Booten. Sie fragt sich, ob es überhaupt noch möglich sei, von diesem Strand als einem bestimmten Strand zu sprechen. Besteht er doch aus Mischungen, die von so feiner Körnung sind, dass sie ins Unendliche gehen könnten. Es ist nicht mehr nachvollziehbar, welcher Partikel von woher stammte oder wer zu welcher Welt gehört. Alles ist überall, immer, zur selben Zeit.

 

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