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Das Studio ist der Raum der Innenschau

Werner Feiersinger ist der Coverkünstler dieser Ausgabe und hat außerdem eine Bildstrecke auf den folgenden Doppelseiten gestaltet, zu der als Einführung ein Text von Patricia Grzonka zu lesen ist:

Dieses Atelier ist definitiv nicht repräsentativ. Mag
es auch nicht der einzige Raum sein, in dem Werner
Feiersinger seine Arbeiten produziert, es ist sicherlich
sein „unmittelbarster“, gleichzeitig aber auch sein
sprechendster. Feiersingers Werke sind raumgreifend,
großzügig ausholend, dabei aber immer fein gegliedert
und proportioniert. Er braucht Platz um seine Werke zu
bauen. Als Bildhauer arbeitet er skulptural, er entwirft
merkwürdige Formen, die nichts Bestimmtes darstellen,
die aber dennoch bestimmte Assoziationen wecken. So
entstehen Objekte aus Metall, aus Holz oder aus anderen
festen Stoffen, die ihre Herkunft aus der Welt der
Baumaterialien nicht immer verbergen.
Manchmal erinnern die Arbeiten an Möbelstücke, aber
dazu fehlt ihnen wiederum die nötige Funktionalität.
Ein leiterartiges Objekt, dessen Sprossen durchhängen,
ein schaukelartiges Objekt, das sich aber nicht bewegen
lässt, ein Handkasten, in den dann doch nichts
reinpasst. Man mag bei Feiersingers Werken an Ready
Mades denken, an fertige Objekte, die mit minimalen
Verfremdungen in den Ausstellungsraum transferiert
wurden. Tatsächlich aber ist der Werdegang seiner
Skulpturen ein ganz anderer – ein überraschend handwerklicher.
Auf diesen widersprüchlichen Aspekt bezieht
sich auch Martin Herbert in seinem Katalogtext
anlässlich der jüngsten Einzelausstellung Feiersingers
im Belvedere 21 in Wien:
„Indem er der Skulptur das menschliche Maß zurückgibt,
schafft Feiersinger auch eine bestimmte Poesie,
eine existenzielle sogar, und in der Tat macht er dies seit
Jahren, wie man an seinem Gesamtwerk gut erkennen
kann. Bei aller industriellen Präzision und einer oftmaligen
materiellen Härte ist es nicht nur menschlich,
sondern uneingeschränkt human, ja zart. Meistens hat
jede der Skulpturen ein Element, das der industriellen
Unmenschlichkeit entgegenwirkt. Die Objekte werden
vom Künstler selbst angefertigt, ihre Oberflächen sind
modelliert. Und wenn man ihre Entstehung noch weiter
zurückverfolgt, dann liegt ihr Ursprung immer in
der Zeichnung, bei der der Künstler alle Hemmungen
fallen lässt.“1
Ein Großteil von Feiersingers Arbeiten entsteht hier
in diesem Atelier im vierten Wiener Gemeindebezirk,
einem Labor mit zwei riesigen Werkbänken. An den
Wänden lehnen dutzende von Metallprofilen, Rohren
und Platten, Styroporstücken, Kunststoffteilen …
Schicht an Schicht lehnen hier die Rohlinge, aus denen
später Kunstwerke entstehen. Lakonisch sagt Feiersinger:
„Es sind Bauteile, die viel können müssen.“

Ein zweiter Raum, der an dieses Atelier angrenzt, ist
noch eindeutiger als Lager erkennbar. Es stapeln sich
auf einer erhöhten Plattform und bis unter die Decke
Materialien, 1:1-Modelle, Stühle, Tische, Planken und
Platten. Auch diese Ansammlung hier ist nur ein Teil
des Fundus, von dem er sagt, dass er alles für seine
Arbeit irgendwann einmal brauchen kann und wird.

Zurück im Atelier: Es ist nicht schön hier im Sinne
eines trendigen Kreativstudios, kein gediegen-gepflegtes
Durcheinander, wie so oft in einem Künstleratelier.
Hier schaut es schon eher nach Schwerarbeit aus.
An diesem Ort sind die Fotografien für diese Ausgabe
von Quart entstanden. Die Fotoserie präsentiert zehn
Aufnahmen mit Nahsichten auf einzelne oder mehrere
Elemente, die hier lagern. Bild für Bild eine Art Zoom
in das Innerste dieses Laboratoriums: die Enden einer
Glas- und einer Kohlefaserrolle, ein Gipsmodell, ein
Karton mit vier Farbmustern, farbige Metallrohre oder
liegende Lochträger. Manche dieser Elemente sind Teile
vergangener Skulpturen, andere befinden sich gerade
in einem neuen Verarbeitungsprozess. Obwohl die
Gegenstände auf den Fotos real sind und aus einem
expliziten Gebrauchszusammenhang stammen, wirken
die Bilder völlig entrückt und abstrakt.
Werner Feiersinger fotografierte mit dem 85-mm-
Objektiv einer digitalen Nikon. Zum Teil weisen die
Aufnahmen keine Tiefe auf und selbst die farbigen,
plastischen Körper, die den Hintergrund bilden, wirken völlig flach – ein bewusster Schritt vom Räumlichen
in die Fläche.

Die Bildgegenstände entfalten einen Ablauf und ziehen
einen hinein in ihren Sog eines imaginären Produktionsprozesses. Die einzelnen Bilder vermitteln ein Memento, ein Innehalten in der vorgegebenen Situation des Ateliers. Es ist ein kostbarer Moment des Findens einer bestimmten Anordnung, dessen Verlauf so aussehen könnte: Betreten des Ateliers, Griff „ins Regal“, Anordnen an einer bestimmten Stelle im Raum, Fotografieren, Neuanordnen, erneutes Fotografieren, Ausprobieren anderer Kombinationen der Elemente et cetera. Und an diesem Punkt brauchen wir die mythologische Figur der Tyche, die in der griechischen Antike die Göttin des unberechenbaren Zufalls, des Geschicks, der Steuerung, aber auch ganz allgemein des Wandels war. Tyche – symbolisiert durch eine Mauerkrone – kann man nicht opfern, aber man kann sich von ihr leiten lassen: Sie unterstützt Menschen in ihren risikoreichen Unternehmungen und ist daher auch die Schutzherrin der Seefahrt.

Roland Barthes erwähnt die Göttin Tyche im Zusammenhang
mit den Gemälden Cy Twomblys, denen er dieses Zufallsmoment attestiert: „Tyche ist im Griechischen das Ereignis, sofern es zufällig und überraschend daherkommt. Twomblys Gemälde scheinen stets eine gewisse Zufallskraft mit sich zu führen, einen Glücksfall.
Es kommt nicht darauf an, dass das Bild in Wirklichkeit
das Resultat eines sorgfältigen Kalküls ist. Was zählt, ist der Treffer oder, um es subtiler zu sagen […]: die Inspiration, die wie das Glück des Geschicks ist. Zwei Bewegungen und ein Zustand zeugen von diesem Effekt.“2

Diese Worte scheinen – ganz im Sinne Barthes – direkt
auch auf Werner Feiersingers Arbeiten umlegbar. Zwar
arbeitet auch er nicht ohne Kalkül, ganz im Gegenteil,
aber in diesem Fall verdanken sich die Anordnungen
sicherlich auch einer bestimmten Kraft des gelenkten
Zufalls, der manchmal mit der Intuition gleich läuft.
Die zehn hier präsentierten Arbeiten sind aus hunderten
von Fotos herausdestilliert und bieten den Blick
ins Innere dieses Ateliers. Das Cover der Zeitschrift
hingegen hebt sich davon ab: Es zeigt ein gebauschtes
Segeltuch am Boden, darauf gut sichtbar die Zahl
„33“, die auch der aktuellen Heftnummer des Quart
entspricht. Dies ist der einzige wirklich identifizierbare
Hinweis auf die Biografie des Künstlers (und mit dem
Bezug zum Segeln ist auch Tyche hier präsent): So besitzt
Werner Feiersinger seit Jahren ein Segelboot, das
er leidenschaftlich gern auf dem windreichen Neusiedlersee
steuert. Diese Anspielung auf ein persönliches
Interesse – eines, das in den letzten Jahren etwas in
den Hintergrund gerückt ist – bringt uns auch auf die
Spur einer etwas anderen Erzählung dieses Beitrags,
eines mehr biografisch verorteten. „Dinge, die einen
beschäftigen, nimmt man über einen langen Zeitraum
mit“, sagt Feiersinger. So entstehen seine Werke als
Transformationsprozesse: von Bildern aus der Jugend,
von Italienfahrten über den Brenner nach Südtirol,
vom Kaffee in einer italienischen Autobahnraststätte
– in Summe von einem anderen Lebensgefühl. Mit
diesem anderen Lebensgefühl ist auch die besondere
Formensprache der italienischen Nachkriegsmoderne
verbunden. Später im Leben führten ihn zahlreiche
Reisen wiederum nach Italien, wo er mit seinem Bruder
Martin unterwegs war, um für zwei Architekturbände
über italienische Bauten zu recherchieren und
dabei „realistisch“ mit natürlichem Licht und ehrlich
zu fotografieren.
Feiersingers OEuvre beinhaltet also Skulptur, Fotografie
und Zeichnung. Seine Skulpturen entstehen in einem
elastischen, performativen Planungsprozess durch
eine Reihe von Zeichnungen und Skizzen, in denen
ausprobiert, getestet und nach einer bleibenden Form
gerungen wird. Man könnte seinen künstlerischen
Gestaltungsprozess auch in Ableitung von Marcel
Prousts berühmtem Roman mit „Auf der Suche nach
der unmöglichen Form“ benennen, als ein Meditieren
in und über der Form, aus der Kunst entsteht. Dieses
Meditative und das Innehalten an einem bestimmten
Punkt kennzeichnen auch den Beitrag dieses Hefts:
Ganz ähnlich wie bei einem Stillleben kommt so auch
der Moment des glückhaften Augenblicks, des gut gefundenen
und getroffenen Moments, bei dem Tyche
beteiligt war, zu tragen.

1 Martin Herbert, Inmitten der Dinge, in: Werner Feiersinger: Overturn, Zürich: Verlag Scheidegger & Spiess, 2018, S. 34
2 Roland Barthes, Cy Twombly, Berlin: Merve Verlag, 1983 (Original: 1979), S. 72

 

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