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Jenseits der Stille

Er ist der meistgespielte zeitgenössische Komponist unserer Zeit und wartet mit unserem Autor eine halbe Stunde
auf den Bus: Alexander Maria Dhom über eine persönliche Begegnung mit dem Komponisten Arvo Pärt

Er weiß nicht weiter. Vor ihm ein weißes Blatt Papier, hinter ihm das Regime der Sowjetunion, das permanent Fehltritte wittert. Arvo Pärt steckt mitten in einer handfesten Schaffenskrise. Es ist das Jahr 1968, Kalter Krieg liegt in der Luft und auch ein bisschen Revolution. Doch um den estnischen Komponisten ist es seit Kurzem still geworden. Er hat sich zurückgezogen.
Zu Beginn seiner musikalischen Karriere war er noch voller Tatendrang und Innovationslust gewesen. Damals hatte er durch seinen Lehrer und Mentor Heino Eller Zugang zu Partituren erhalten, lernte Kompositionstechniken wie die Dodekaphonie und das Arbeiten mit Collagen kennen – höchst verbotenes Material in der Sowjetunion der 1950er Jahre – und er komponierte sich zunächst erfolgreich durch alles, was man heute unter dem Begriff der „zeitgenössischen Musik“ versucht zusammenzufassen: schmerzhaft gesteigerte Dissonanzen, Anspielungen auf politische oder gesellschaftliche Missstände, experimentelle Kompositionstechniken.
Dann kam sein Credo, es brachte ihn nicht nur künstlerisch an seine Grenzen – es stellte den Komponisten auch vor massive politische Probleme. Die Kombination aus religiösem Statement und westlicher Kompositionstechnik sorgte für Empörung beim Kontrollgremium, der Union der sowjetischen Komponisten. Für das Regime ein Affront, waren doch „Gott und Jesus Christus die größeren Feinde der Sowjetunion als Boulez oder Webern“, so der russische Musikwissenschaftler Juri Nikolajewitsch Cholopow.
Eine explosive Mischung aus Repressionen und Verboten. Ein eng geschnürter Rahmen musikalischer Möglichkeiten. Voll Selbstzweifel und auf der Suche nach einer eigenen Sprache und Antworten auf die größeren Fragen, zieht sich Pärt von 1968 bis 1976 komplett aus der Öffentlichkeit zurück. Still und leise. Doch nicht unbemerkt, denn zu dieser Zeit ist er bereits einer der bedeutendsten Komponisten der damaligen UdSSR. Und trotzdem: Er schweigt. Hört auf zu komponieren, sucht in der Natur, der Religion und allen möglichen Dingen – spirituell und weltlich – neue Inspiration. Und er bedient sich einer Übung, für die es keine Töne, keine Klänge und kein Geräusch braucht: Er zeichnet. Beeindruckend einfach und gleichzeitig beeindruckend komplex. Sich auf und ab kreuzende Schlaufen, hypnotisierende Kringel, an Moleküle erinnernde Gebilde. Seine grafischen Skizzen und Übungen wirken auf den ersten Blick wie einfache Kritzeleien und entpuppen sich später als Schlüssel zu seinem Werk.
Was ihn 1976 dazu veranlasst, wieder zu komponieren, bleibt wohl sein Geheimnis. Sicher ist, dass seine Skizzen dabei eine wichtige Rolle gespielt haben müssen, gibt es doch für die meisten seiner Post-Auszeit-Kompositionen eine entsprechende Zeichnung, die deren Struktur vereinfacht darstellt. Für Arvo Pärt dürfte diese Phase auch eine erste bewusste Auseinandersetzung mit einem Element bedeutet haben, das später fast Mantra-artig mit seiner Musik in Verbindung gebracht wird: Stille. Das Unverständnis seitens des Sowjet-Regimes für diesen reduzierten Musikstil führt schließlich jedoch zur vollendeten Eskalation. Nach seiner Rückkehr in die Öffentlichkeit emigriert Pärt 1980 mit seiner Familie nach Wien, ein Jahr später nach Berlin. Erst 2008 kehrte er nach Estland zurück.

Zu dieser Zeit sitze ich im Leistungskurs Musik eines oberbayrischen Gymnasiums und höre zum ersten Mal Pärts Tabula Rasa. Das radikal minimierte Notenmaterial und die aufsteigenden Glockenschläge lösen in mir eine fast absurde innere Ruhe aus – kurz vor der Matura und auch generell im Alter von siebzehn Jahren eher ein Ausnahmezustand. Eine Faszination geht von Arvo Pärts Musik aus. Eine Faszination, so unaufdringlich und zugleich so kraftvoll. Für eine kurze Zeit war ich gefesselt. Doch so unerwartet, wie der Komponist die Aufmerksamkeit meines siebzehnjährigen Ichs erlangte, so leise verschwand er komischerweise für einige Zeit wieder von meinem Radar.
Erst als ich Jahre später wieder auf einer Lehrbank sitze – diesmal im Masterstudium der Musikwissenschaften in Barcelona –, packt mich die magische Wirkung seiner Musik ein zweites Mal. Vielleicht war es der radikale Kontrast zu allem Lauten um mich herum: die katalanische Studentenstadt mit ihrem vibrierenden Nachtleben und die Kommilitonen, die sich an Stockhausens Helikopter-Quartett versuchten oder knallende Flamenco-Rhythmen studierten. All das weckte das Interesse in mir, mich auf die absoluten Grundlagen der Musik zurückzubesinnen.
Ganz so wie Pärt zum Ende seiner achtjährigen Schaffenspause. Als er zurücktritt in die hörbare Welt, hat sich sein Stil merkbar verändert: Statt wie andere Komponisten immer größere Werke mit ausufernden Läufen zu fantasieren, genügt dem Komponisten nun ein System aus zwei Stimmen, welches den klangvollen Namen Tintinnabuli (lat. „kleine Glöckchen“) trägt. Während sich die sogenannte Melodiestimme ausschließlich auf einer Tonleiter hoch und runter bewegt, bedient sich die Tintinnabulistimme lediglich der drei Töne des dazugehörigen Dreiklangs. Die Momente, in denen sich beide Stimmen schließlich treffen und dabei einen glockenartigen Klang erzeugen, lassen erahnen, warum Arvo Pärt seinen Stil nach diesem Phänomen benennt.
So eine fast schon absurd minimierte eigene Sprache bietet seinen Kritikern folglich die ideale Angriffsfläche: Der Komponist habe sich von den avantgardistischen Ideen des 20. Jahrhunderts getrennt, um einen kommerzielleren Klang zu finden, heißt es. Doch selbst wenn sich die einzelnen Tintinnabulikompositionen kaum voneinander unterschieden – was sie bei genauerem Hören doch sehr wohl tun –, wäre nicht allein die Entwicklung einer solchen Kompositionsmethode ein Meisterwerk an sich? Wie beziehungsreich dieses System sein kann, beweist ein Blick in die Partitur von Cantus in Memoriam von Benjamin Britten aus dem Jahr 1977. Obwohl das Werk auf einer komplexen Partitur beruht, für das ein komplettes Streichorchester mitsamt Glocke vonnöten ist, lässt sich auch hier durchgehend das Zusammenspiel von Tintinnabuli- und Melodiestimme erkennen.
Tatsächlich hat Arvo Pärt in den darauffolgenden Jahren Variationsmöglichkeiten geschaffen. Nicht als Folge von Kritik, sondern als Teil eines Entwicklungsprozesses. Spiegel im Spiegel aus dem Jahr 1978 ist ein hervorragendes Beispiel für einfache Variationen. Während das Klavier strikt den Akkord der jeweiligen Tonart zerlegt und gelegentlich mit Oktaven versieht, wird die Stimme der Geige mit jeder Wiederholung horizontal gespiegelt und mit einem weiteren Ton der Tonleiter ergänzt. Spiegelung und Addition. Ein einfaches mathematisches Prinzip, das sich über beinahe zehn Minuten konsequent aufbaut und zweifellos eine faszinierende, fast schon transzendente Wirkung entfaltet. Apropos Transzendenz: Mit dem Begriff des „Holy Minimalism“, der dem Komponisten gerne stempelartig aufgedrückt wird, kann er selbst nicht viel anfangen. Arvo Pärt sagt über seine Musik: „Eine einzelne perfekt gespielte Note oder ein kurzer Moment der Stille trösten mich.“
Auch den Vergleich mit Licht stellt der Komponist gerne an. Seine Musik sei wie ein einfaches, weißes Licht, das alle Farben enthalte. Jeder Mensch brauche eine Art Werkzeug, dieses Licht zu brechen, um das volle Spektrum der Musik erkennen zu können. Ob das der Glaube, die Natur oder ein philosophischer Ansatz sei, überlasse er jedem selber. Noch konkreter wird folgender Vergleich: „Es ist, als hätten wir eine komplexe mathematische Gleichung vor uns. Der Weg zur Lösung ist lang und nervenaufreibend, aber letztendlich ist die absolute Wahrheit die Reduktion.“ Der Vergleich liegt nahe, bedeutet doch die Reduktion nichts anderes als eine „Rückführung“ auf den eigentlichen Kern der Sache. Interessante Folge dieser Reduktion ist übrigens die Tatsache, dass die Musik Arvo Pärts, trotz überschaubaren Notenmaterials, durchaus zum schwierigeren Repertoire eines Musikers gehört. Muss ein Geiger beispielsweise eine Note über mehrere Takte angespannt halten und ihr dabei die nötige Gewichtung verleihen, fällt ihm das womöglich schwerer als ein Exzess à la Paganini. Intonation ist alles, und auch Pärt selber gibt zu, dass es nur wenige wirklich gute Aufnahmen seiner Musik gibt.
Einige der spannendsten Veröffentlichungen seiner Musik entstanden wahrscheinlich unter der Regie des Produzenten Manfred Eicher. Auch er hatte einen ersten Schlüsselmoment mit Pärt: Eicher, Gründer der legendären Plattenfirma ECM, ist mit dem Auto unterwegs, als er im Radio zufällig Tabula Rasa hört. Fasziniert von der Musik, fährt er auf der Suche nach besserem Empfang den nächsten Hügel an. Dieser Mann und seine Musik packten ihn vom ersten Moment an – ein musikhistorischer Glücksfall: Eicher und Pärt ergänzen sich seitdem prächtig und die kreative Symbiose der beiden trägt bis heute reife Früchte. Eine weitere Symbiose, nämlich die zwischen Arvo und seiner Ehefrau Nora Pärt, spielt ebenfalls eine große Rolle in Pärts künstlerischem Schaffensprozess. Nicht selten ist Nora an der Entstehung seiner Werke maßgeblich beteiligt. Sie liest Partituren, korrigiert, gibt Ratschläge. Sie ist sein wichtigster Kritiker.
All die großen Chöre und Orchester dieser Welt versuchen sich am Repertoire Pärts, und doch zählen die Aufnahmen des Tallinner Kammerorchesters unter der Leitung Tõnu Kaljustes oder die des Estnischen Philharmonischen Kammerchores wohl zu den herausragenden Produktionen. Vielleicht ist es die estnische Mentalität, die Naturverbundenheit, die ganz persönliche Verehrung einer Nation für ihren Komponisten? In jedem Fall ist es seine Nahbarkeit. Regelmäßig nimmt sich Pärt Zeit für Probearbeiten vor Konzerten und gibt Ratschläge, um das Phänomen Tintinnabuli vollendet auf die Bühne zu bringen. Nicht ohne Grund ist der Este schon seit Jahren der am meisten aufgeführte noch lebende Komponist seiner Zeit. Ein Titel, wenn man so will, der die beeindruckende internationale Popularität Pärts veranschaulicht. Kaum ein Naturdokumentarfilm ohne Spiegel im Spiegel, kein TV-Melodram ohne Fratres, zahlreiche Hollywood-Blockbuster mit Tintinnabuliuntermalung.

Die Abgabe meiner Masterarbeit bedeutete für mich nicht das lang erwartete Ende theoretischer Arbeit in einer stickigen Bibliothek, sondern vielmehr den Anfang einer Reihe von persönlichen Begegnungen, die ich mir nie erträumt hatte. Über einige Umwege gelangte das Dokument nämlich nach Estland.
Dort hatte die Familie des Komponisten, allen voran sein Sohn Michael Pärt, 2010 das Arvo Pärt Centre gegründet. Es sollte der gewaltigen Herausforderung eines solchen künstlerischen Werkes gerecht werden und nicht nur Vergangenheit und Gegenwart des Komponisten illustrieren, sondern auch der musikalischen Zukunft einen kreativen Raum bieten. Das Herzstück des Centres bildet das gigantische Archiv, welches liebevoll von Nora Pärt aufgebaut wurde und nun in den Händen eines professionellen musikwissenschaftlichen Teams liegt. Nora Pärt hatte mit dem Sammeln des künstlerischen Nachlasses ihres Mannes übrigens schon begonnen, bevor er überhaupt zu Erfolg und Ruhm gelangte. Neben der Archivarbeit kümmert sich das Arvo Pärt Centre auch um die mediale Aufarbeitung und die Digitalisierung sämtlicher Werke und bietet einen Ort für künstlerischen Austausch – stets in direkter Zusammenarbeit mit dem Urheber persönlich.
Und jetzt sollte auch mir diese sympathische Nahbarkeit zuteilwerden. Pärt hatte meine Masterarbeit gelesen und lud mich zu sich ein, um sich mit mir darüber zu unterhalten. Also flog ich im September 2016 nach Estland. Im Centre sprachen wir über meine Arbeit – über seine Arbeit – und er zeigte mir den umliegenden Wald. Dieser Wald Laulasmaa, Estnisch für „Glöckchenwald“, wurde zu Ehren des Komponisten nach dessen Musikstil benannt. Die Erfahrung und das Privileg, mit ebendiesem Komponisten persönlich zu sprechen, sind nicht nur ungewöhnlich rar und einzigartig, sie wurden an Surrealität noch überboten, als Pärt mich anschließend auf eine Portion Pfannkuchen in ein nahe gelegenes Café einlud und mich am Ende unseres Treffens an die Bushaltestelle zurückbrachte, an der mich der Bus nach Tallinn abholen sollte. Er wartete dort mit mir eine halbe Stunde – Warten, so viel ist klar, ist eine seiner leichtesten Übungen!

Im Oktober 2018 wurde in Laulasmaa, mitten im Wald, zwischen hochgewachsenen Kiefern und einem dichten Teppich aus Blaubeersträuchern, ein neues Gebäude für das Arvo Pärt Centre errichtet. Der flache Bau, der nur zu Fuß zu erreichen ist, windet sich vorsichtig um die umliegenden Bäume. Große, durchgängige Glasfassaden saugen das Licht auf, das durch die Baumkronen in den Wald fällt. Helles Holz im Inneren bietet den perfekten Körper für Pärts Klang. Der Bau, erdacht vom preisgekrönten Architekturbüro Nieto Sobejano Arquitectos, birgt neben einem Konzertsaal, dem Archiv und einer kleinen minimalistischen Kapelle im Innenhof auch einen Turm auf dem Dach. Der Turm, so waren sich die Architekten einig, sei nur schwer umzusetzen. Sie rieten Pärt davon ab, doch er bestand auf seinen Turm. Dort oben steht er heute oft und blickt über den Wald bis auf das baltische Meer. Allein. Jenseits der Stille.

(Mitarbeit: Marthe Louisa Kröger)

 

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