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Ich bin eine ehrliche Autorin, nur chronologisch verwirrt

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte). Wir befinden uns derzeit auf der Geraden, die von Obermauern im Osttiroler Virgental Richtung Südtirol und weiter ins Trentino führt. Raphaela Edelbauer, den bestimmt ganz sicheren Tod vor Augen, macht sich trotz frisch gerissenem Meniskus tollkühn auf den Weg in die Dolomiten. Und als die Kellnerin das Fenster aufreißt, durch das ein Schneeschwall hereindrückt, weiß sie: Es gibt kein Zurück …

Vier Tage vor meiner sogenannten, lange antizipierten Linienwanderung traf ich meinen guten Freund Eike im Heurigen 10er Marie, fest überzeugt davon, dass dies unsere letzte, von uns als Heurigen-Jourfixe bezeichnete Zusammenkunft sein würde, da ich in eben vier Tagen in den Dolomiten umkommen müsste.
Ich würde, so erklärte ich Eike, drei Tage in der dolomitösen Einöde Südtirols verbringen, wo ich meinem gerade frisch gerissenen Meniskus zum Trotz 55 Kilometer zu überwinden gedachte, was freilich keinesfalls überlebt werden könne. Mein Auftraggeber, das Magazin Quart, sei begeistert gewesen, erklärte ich, von meiner Idee, an denkwürdigen Landschaftspunkten der Wanderung kursiv gesetzte Textmontagen aus Hörbigerfilmen, Waggerlbüchern und Gabalierschlagern in den Bericht einzubauen, denn immerhin sei ich eine Antiheimat-Schriftstellerin, wie man so sagt.
Ich könne, räumte ich gleich ein, das Ergebnis freilich selbst nicht mehr sehen, da ich ja zuvor umkäme – denn nicht nur gedachte ich alleine in schroffen Gefilden zu wandern, überdies sei auch die Strecke für einen gerissenen Meniskus schlicht zu weit. Insbesondere aber sprach ich von den denkwürdigen, bereits jetzt auf meinen Tod hindeutenden Umständen, die ich vor Eike zwar mit einer dementsprechenden Handgeste begleiten, keinesfalls aber logisch belegen konnte.

Er seinerseits fragte mich, während er seinen gebackenen Emmentaler zerteilte, ob meine Furcht zu sterben mit meinem beim Betreten des Lokals deutlich zu erkennenden Hinken zusammenhinge – mit dem Meniskus eben, doch ich schüttelte den Kopf. Meine Vorahnung, eher genereller Natur, schicksalshaft geradezu. Die Wanderung würde ich notfalls auf dem Zahnfleisch kriechen, wie ich fast stolz hinzufügte.
Das Hinken sei dennoch fast ein Symbol, sagte Eike.
Befänden wir uns in einem literarischen Text, wäre es das, sagte ich und nickte.
Eike versank, kaum hatte ich das gesagt, für einen Moment in tiefe Gedanken, ehe er schließlich verkündete, die einzige Möglichkeit sei also nun, die Wanderung abzusagen und zu überleben. Er führte unter heftigem Aushusten des bereits in Massen genossenen Rebeccaweines aus, dass meine Annahme des nahenden Todes zwar schlichtweg falsch sei – dass allein der feste Glaube an diesen ihn aber, quasi über einen Umweg des Schicksals, doch herbeiführen könne, weswegen das Vorhaben zweifellos abgesagt werden müsse.
Unmöglich, sagte ich, während ich das Skelett des Backhuhns, das ich als Abendessen bestellt hatte, nahezu im Ganzen herausgezogen hatte. Erstens seien die Unterkünfte bereits gebucht, zweitens stehe meine Reputation als Schriftstellerin auf dem Spiel, drittens aber – und das sei das Wichtigste – hätte ich den Text bereits geschrieben, den ich nach der Wanderung abgeben würde. Es sei aus ökonomischen Gründen blanker Unsinn, letzteres umsonst getan zu haben. Lediglich die angesprochenen kursiven Hörbigermontagen müssten noch eingefügt werden, Blut-und-Boden-Aphorismen, eine Wort-Karte, die ich erwandern wollte, was freilich aber nie stattfinden könnte, da ich ja zu diesem Zeitpunkt bereits tot in den Dolomiten läge.  
Aber, sagte Eike, gerade das Geschriebenhaben sei doch ein Argument dafür, dass ich gar nicht mehr wandern müsse – und als habe sein Verstand damit etwas Triumphales geleistet, leerte er sein Sodaglas auf ex.  
Falsch, sagte ich nach kurzem Sinnieren – denn wie er sicherlich schon selbst bemerkt habe, liege hier ein Paradoxon vor: Entweder würde ich nicht gehen und die Hörbigerminiaturen nicht schreiben können mangels der, wie ich betonte, leiblichen Begegnung mit der Heimat. Oder aber ich würde gehen, die Konfrontation erleben und sofort das Zeitliche segnen, ehe ich sie niederschreiben könne – die angesprochenen Hörbigerpassagen seien also eine logische Unmöglichkeit.
Ja, sprach ich weiter, natürlich sei scheinbar hier die bessere Option, nun nicht zu gehen und so zu überleben, wenn der Text schon nicht fertig geschrieben werden könne, quasi eine Contradictio in adiecto sei. Aber, und das sei das Entscheidende, ich sei eine sogenannte ehrliche Schriftstellerin, und würde ich wandern, würde diese Ehrlichkeit TROTZ des vorhergehenden Textschreibens erhalten bleiben: Ich hätte dann alles Geforderte getan, nur eben andersherum – sei in diesem Fall bestenfalls chronologisch verwirrt.

Da ich an Eikes Gesichtsausdruck ablesen konnte, dass ihm die gegebene Erklärung, meine möbiusverbandelte Rechtfertigung, aus Gründen der Naturgesetze unangenehm war, brachte ich das Gespräch schnell wieder in allgemeinere Gefilde zurück. Mein Text, sagte ich, also der bereits geschriebene, noch zu schreibende, würde sich um die Gegenwart der Ahnen in der Berglandschaft drehen. Würde die Omnipräsenz ihrer nationalistischen Worte widerspiegeln wollen, dieser Heimatfilmphrasen, die plötzlich aus unseren Mündern hervorbrächen.
Würde?, fragte Eike, verwundert vom Tempus des bereits Verfassten.
Jetzt tut er es, sagte ich geduldig. Es gehe, nahm ich wieder auf, um das, was die Aborigines die Dreamtime nannten: eine raumlose Schöpfungsgegenwart, aus der heraus die Ahnen, die eigentlichen wie die metaphorischen, mit uns in Kontakt treten. Und zwar folgendermaßen: Was diese in der Traumzeit täten, übertrage sich in unsere Welt – was wir machten, forme wiederum die Traumzeit. Das verbindende Glied aber zwischen beidem sei die Landschaft: Diese verändere sich unablässig, sei gewissermaßen Chronist des Wechselverhältnisses – und Landmarks, auffällige Charakteristika der Natur, seien nach der Meinung der Aborigines die Brandzeichen dieses Prozesses. Gleichzeitig aber könnten wir diesen Prozess nicht bemerken, weil er auch unsere inneren Geografien mitumforme, sagte ich und schnitt eine Pfefferoni entzwei, nur um sie gleich darauf wieder zusammenzufügen: Unsere Zukunft sehe deswegen aus wie unsere Vergangenheit, wir befänden uns in Loops, die das immerselbe im neuen Gewand wiederbrächten.  
Politisch?, fragte Eike, nun gänzlich von meinem nahenden Tod in den Dolomiten abgelenkt.
Vor allem die Berge seien aufgrund des Heimatfilmkitsches Schauplatz dieser Konfrontation mit den Ahnen geworden, sagte ich. Also in die Alpen, die Dolomiten, die Vogesen – die Potemkinschen Berge der Deutschen, Österreicher und Südtiroler. Dieses Unterpfand der Idyllisierung, das über die Verbrechen des Nationalsozialismus die Verheißung einer friedlichen Bergnation gebreitet hatte: Nebenwohnsitz des weißgewaschenen, pseudofriedliebenden Altfaschisten der 1950er Jahre, sagte ich, der mit Kryptonazijopperl und Blut-und-Boden-Stock durch die völkische Flur streift. Diese Berge also wolle ich aufsuchen, um sie mit Montagen ihrer Heimatfilmverliebtheit in ihrer ganzen Künstlichkeit vorzuführen und gewissermaßen AUS DER ZEIT ZU REISSEN. Man sei gefangen: Obschon man wandere wie eine Wahnsinnige, komme man keinen einzigen Meter weiter – bleibe in einem ewigen Loop dieser Landschaft, in noch einer Umdrehung und noch einer Umdrehung.

Du solltest nicht wandern, sagte Eike, nun endlich nach langem Schweigen in direkter Rede nochmals, und nachdem ich diese Worte nicht nur aus seinem Munde, sondern auch aus dem meiner Mutter sowie meiner geliebten Freundin gehört hatte, die mich nie wieder in die Arme zu schließen befürchtete, brachten sie mich diesmal zum Nachdenken.
Wäre das ein literarischer Text, sagte ich langsam, hättest du möglicherweise die Rolle eines Propheten, einer Metapher für meine baldige Verlorenheit in den Dolomiten, sagte ich langsam.
Korrekt, bestätigte Eike, und die Tatsache, dass du deinen Text schon geschrieben hast, würde dem Leser im Nachhinein als im höchsten Maße literarisch notwendig, d. h. von der Autorin kunstfertig gepflanzt erscheinen, als Vorausdeutung des Umstandes ihres eigenen Todes.  
Wieder stocherten wir unmotiviert und freilich stumm in unseren Salaten, als ich auf einmal spürte, wie Eike eine jähe Erkenntnis kam.
Ich glaube, ich kann dir an dieser Stelle etwas Entscheidendes mitteilen, sagte er, endlich im Tone eines Verschwörungstheoretikers. Deine Wanderung wird von über einem Meter Neuschnee gewissermaßen erstickt werden. Du wirst drei Tage in Toblach festsitzen, was du freilich erst – und er winkte der Kellnerin hastig zu – in vier Tagen erfahren wirst.
Ausgeschlossen, rief ich, ehrlich verblüfft über diesen plötzlichen Anfall von Vorausschau, woher könntest du das denn jetzt schon wissen?
Das werde ich dir am Ende des Textes sagen, antwortete Eike, als wäre ihm das unangenehm – oder aber du wirst es mir sagen. Diese Aussage verwirrte mich noch mehr.
Das Ende des Textes hätte ich wie gerade erklärt ja längst geschrieben, müsse die Antwort also streng genommen schon kennen, wenn stimmte, was er da sagte – was ich jedoch nicht tat. Überhaupt, sagte ich, hätte ich in meinem Bericht an das Quart meine Wanderung schon beschrieben, ausführlich und üppig, was ein Eingeschneitsein also unmöglich mache.

Calmo, sagte Eike. Du kannst deine Hörbigermontagen trotzdem durchführen, wenn du mir nun sehr gut zuhörst. Er beugte sich nach vorne: Gebens Acht, dass sie ka Jäger ned erwischt. Ich werde Ihnen eine Karte schreiben, von der Front. Ich hab eh aufpassn müssen, dass ich Ihnen nicht einen von Ihren zierlichen Knochen zerbreche. Jö, wie mi die Schuh drückt ham! Ein wunderbarer Herbsttag! Na das wird eine Amputation. Anpacken wird man natürlich müssen, Arbeit wird das kosten. In einem Bild liegt die Wahrheit verborgen, und unser Heiland ist nicht umsonst gestorben. Da is a Madl. So spät ganz allan auf der Bruckn.
Welche Bruckn?, fragte ich, aber mitten in meine Worte hinein hatte die Kellnerin das Fenster aufgerissen, durch das ein Schneeschwall hereingedrückt wurde. Ich hörte nur mehr sehr leise, wie Eike antwortete – dass es sich freilich um die Brücke am Dürrensee handle.
Keinesfalls, fuhr ich ihm nun heftig ins Wort, könne ich in der Dunkelheit noch am Dürrensee sein, denn spätestens um 18 Uhr würde ich Cortina d’Ampezzo dann eben wegen des Schnees MIT DEM BUS hinter mir gelassen haben und säße längst im Sporthotel Pocol, was Eike nur mit einem Kopfschütteln beantwortete.
Ich würde, sagte er, aufgrund des Nichtkommens ebenjenes Busses auch das nicht bewerkstelligen. Der Notnagel, die Lösung, da Cortina mir daher unerreichbar bleiben würde, wäre es, in die andere Richtung zu wandern. Ich würde auf diesem, dem rauen Gebirgsgang nach St. Magdalena, beschließen, dass es nur eine Möglichkeit gebe, in der Tangente nach Cortina, ja sogar bis nach St. Martin voranzuschreiten: nämlich vom Gipfel aus den Mittelpunkt des von Quart gezogenen Kreises zu erspähen, meinen gewanderten Abschnitt zu erfassen, den Satz von Pythagoras zu verwenden und –
und mich durch meine eigene Quadratwurzel zu dividieren, ergänzte ich, und fügte nun heftig hinzu: Was bedeutet, dass ich gleichzeitig dort sein und nicht dort sein muss, mich unablässig selbst in neue Paradoxien einbinden, und selbst dann könne ich nur als quasi platonische Idee hingelangen, mit einem Wort als …
Halbfiktive Version deiner selbst in deinem eigenen Reisebericht, sagte Eike, und er zitierte in diesem Moment Elijah und Kassandra zugleich, ein magisches Verslein, das mir das Blut gefrieren ließ:

Wo der Wind die Bäume niederzwingt
Und der Almrausch zu wachsen beginnt
Wo der Schnee im Sommer schon runterlacht
Der Blitz und Donner runterkracht

Was eigentlich, fragte ich nun Eike, wie um mich selbst von diesen Gedanken abzulenken, würde in einer Geschichte eigentlich mit dir passieren, wenn ich in den Dolomiten stürbe? Die Geschichte wäre aus, und auch du, eine Prosafigur, würdest aufhören zu existieren.
Ja, bestätigte er, und auf einmal wurde mir klar, warum es für ihn eine existenzielle Frage war, wie für mich, dass der Text anders endete. Woher er das alles wusste, war dadurch ebenso unklar geblieben wie zuvor.
Du wirst also in Toblach eingeschneit sein, in der Casa Alpina, begann er, und obschon du wandern wirst wie eine Wahnsinnige, auf der sogenannten Linie nicht weiterkommen – in einem ewigen Loop dieser Landschaft sein, in noch einer Umdrehung und noch einer Umdrehung. Alle Wege, die du dir vorgenommen hast, werden unbegehbar sein und du vollziehst deine Notbehelfswanderung im Unterholz und auf den Schnellstraßen zum Monte Piana, langsam, kaum mehr als vier Kilometer pro Stunde schnell und immer wieder zu deinem Ausgangspunkt zurückkehrend.
Dann nehme ich also ein Taxi nach Cortina, sagte ich, auf einmal entschlossen, doch fortzukommen, jetzt sogar unbändigen Willens, wie geplant in den Dolomiten zu sterben, denn immerhin war ich die Autorin, immerhin hatte ich den Text schon geschrieben und wollte die Kontrolle behalten.
Das Taxi wird mit 80 Euro unerschwinglich sein, sagte Eike, und zwar aus Gründen, die dir bis zuletzt nicht klar sein werden. Wieder und wieder wird derselbe Wirt dich morgens begrüßen; du wirst wieder und wieder auf denselben Schneeflächen ausrutschen und obschon dein Kilometerziel erreichen, doch niemals wirklich fortkommen. Die Spuren der Wildtiere, die du im Wald sehen wirst, sind zeitlich unleserlich ausgeführt – du weißt nicht, ob sie nach links oder rechts, vielleicht sogar, um dich in die Irre zu führen, rückwärtsgegangen sind, so surreal scheint dir alles. Vor allem wirst du dich von den Schildern der Gasthäuser immer wieder in die Irre führen lassen – jedes Einzelne wird geschlossen, chiuso, sein, und als hättest du das nicht schon zum fünften Mal erlebt, wird ein Gefühl der Enttäuschung dich bei jedem Mal aufs Neue überwältigen.
Wieso sollte ich hingehen, wenn ich jetzt schon durch dich weiß, dass sie zu sind?, fragte ich.
Weil du es erst dort gesehen würden haben wirst wissen, sagte er und zeigte, als befände sich dort der Beweis, an die Decke.
Das war grammatikalisch zu viel: Woher er denn das alles wissen wolle, herrschte ich ihn um die Bekanntgabe seiner Quellen an.
Weil, antwortete Eike und schloss die Augen, das soeben geschehene Niederschreiben dieser Anekdoten es für dich vollkommen unsinnig machen würde, etwas anderes zu erleben, wie du selbst meintest. Der Text ist ja fertig – jetzt musst du ihn noch erleben.
Er hatte recht, doch ärgerte mich, dass er wusste, was ich nicht wusste, dass er mein Schicksal mehr zu bestimmen schien, als ich selbst. Natürlich: Er war ja, wie schon festgestellt, nichts als eine Textfunktion, ein auktorialer Erzähler, den ich selbst evoziert hatte im Glauben, aufgrund meines baldigen Ablebens den Text schon vor seinem Erleben niederschreiben zu müssen. So also war ich nun selbstverschuldet in eine Zeitschleife geraten. Mitten in meine Gedanken hinein hatte die Kellnerin das Fenster aufgerissen, durch das ein Schneeschwall hereingedrückt wurde.
Du wirst, erklärte Eike, wieder Fahrt aufnehmend, jeden Abend in der einzigen, der Bahnhofsbar Toblach sitzen und dich sorgen, dass Quart deshalb deinen Text, der nun deiner ursprünglich geplanten Erlebnisse entbehrt, nicht abdrucken will. Du trinkst dort allabendlich als einzige Fremde zwischen drei hantigen Alpinistensüdtirolern, die einander Fragen auf Italienisch stellen und auf Deutsch antworten, auf Italienisch fluchen und sich dafür auf Deutsch entschuldigen – zwischen ihnen darbst und sorgst du dich und hast nur deine selbstgeschaffene Gesellschaft.
Wen?, fragte ich, und Eike antwortete: mich.
Gut, sagte ich resignierend, da Eike anscheinend, Metapher, Foreshadowing und Vorausschau zugleich, mehr Ahnung hatte als ich – dann sag mir doch, wie ich es schaffen kann, trotz dieser Einschneiung meine Hörbigermontagen durchzuführen.
Er antwortete: In da Fruah, in ganzen Haxen mit Knoblauch einreib’n, übern Tog a Kotznfell ums Knia, vurm Schlofngehn an Marsch owe nach draußn, und dann ohne Doppelliter wieder z’ruck! Weder Schinken noch Butterbrot, heute fangen wir mit Käse an!
Ich bin die Brigitte und steh’ mit beiden Füßen auf dem Boden, antwortete ich, da ich nun genau wusste, was er meinte und tatsächlich selbige Maßnahmen ebenso angedacht hatte. Alles glüht, alles leuchtet … Theater, Tirol, … Truthahn … Trumpf! Triumph! Ich werde aufgrund des Schneefalls also meine Route ändern müssen.  
Ja, sagte Eike: Vielleicht ist Bescheidenheit das wahre Glück. Wenn man zuhörn darf wie die Vogerl pfeifen und der Wind singt. Dann überkommt einen unwillkürlich Dankbarkeit, Zufriedenheit, ich möchte beinahe sagen Glück. Naja, dass wir sind wie wir sind und dass wir leben wie wir leben. Jaja, Julika, du bist für mich jetzt wie ein Mann.
Quart wird meinen Text, wird meine Wanderung also trotz der einschränkenden Umstände akzeptieren?, fragte ich hoffnungsvoll und sah, wie Eike seine Hände wie ein Redner schon zum Weitersprechen erhob: Er braucht seine Rösser und die Berg … Wenn ich zurückdenk, an die Zeiten, wo ich selbst noch mit so einem Lampion am Stecken marschiert bin! Auf jenem glorreichen Schlachtfeld hatte ich die Ehre vom großen Herzog selbst für meine Tapferkeit ausgezeichnet zu werden.
Ob der Herzog eine Metapher für die Chefredaktion und die Auszeichnung das Texthonorar ist?, fragte ich Eike im Tonfall eines Literaturwissenschaftlers.
Mein Gott, kann denn dieser Erich denn nichts anderes spielen, etwas … Lustigeres? Wir erinnern uns nicht gerne. Ich hab’s gemacht und damit fertig. Mehr sag’ ich nicht Herr Rat, sagte Eike, dann war das Thema vom Tisch.

Wie also, fragte ich nochmals möglichst unverfänglich, werde ich überleben und den Text fertigschreiben?
Da läufst du fort wie ein Wiesel. Es ist ein schönes Stück Land. Alles hat seinen Sinn und seine gute Art, wohin man auch schaut. Du schreibst deine Schrift in das wartende Land.
Ja, aber wie schreibe ich denn ins Land?, fragte ich.
Dir ist jede Arbeit Recht, Kraft und Geduld hast du ja genug. Du setzt dich auf einen Baum auf der Erde, um ein wenig Luft zu schöpfen. Dein Weg folgt den schneefreien Stellen auf dem Hang. Es soll nicht sein, der Regen vertreibt dich immer wieder. Ein Geier pfeift hoch in der Luft, das ist ein gutes Zeichen.
Ob ich diesen Kitsch etwa auch in meinen Text geschrieben hätte?, fragte ich nun, doch Eike schüttelte seinen Kopf: Nein, diese Passagen habe er selbst kürzlich bei Waggerl gefunden, Brot, ein Lieblingswerk der Nationalsozialisten.
Gut, sagte ich, denn das würde ich nie und nimmer ins Quart hineindrucken lassen, nur über meine Leiche.
Eike schwieg lange: Sie stünden jetzt bereits, flüsterte er schließlich, im Quart, und ich sprach endlich aus, was er nicht sagen wollte: Also doch – meine Leiche, sagte ich, aber wer hat dann …?   
Solltest du doch überleben, sagte er heftig, kannst du diesen Text fertigschreiben und die ganze Magie und Zeitschleiferei löst sich auf in einen schriftstellerischen Trick, der wohl, wie niemand bestreiten kann, niemanden wirklich umbringe. Und er sprach bewegt weiter: Du bist ein Mensch, du liebst, was sich regt in der grausamen Stille. Zu deinen Füßen ist die Erde aufgerissen, sie dampft wie ein frisches Grab. Die Wiesen sind fast schneefrei, du nimmst eine Brechstange und rückst dem Bach zu Leibe. Dieser Bach ist der Erzfeind des Landes.
Der Schluderbach?, fragte ich.
Ja, es ist schlimm in diesen ersten Zeiten, fast zu schlimm für eine einzelne Frau, doch du nimmst besitz von diesem Lande, das niemandem gehört.
Was passiert in Schluderbach?, insistierte ich nochmals.
Dort gibt dein Meniskus nach einer unglücklichen Drehung beim Bergabgehen vollends auf, schreibst du im Text, sagte Eike, was, wie ich nun verstehe, der Grund dafür sein dürfte, dass du vorher beim Betreten des Raumes ein deutlich sichtbares Hinken zur Schau stelltest.
Das also sei nun übertrieben, erklärte ich, und würde meinen Text geradezu unglaubwürdig machen – ich könne doch keinesfalls in der Zeit rückwärts hinken, sagte ich. Jedenfalls würde ich, erzählte Eike schon weiter, nach dem zweiten Tag meiner Wanderung, während derer mir die Kälte in die Knochen gekrochen sei, im Stechritt in ein Sportgeschäft marschieren und mir wie zum Hohn des Martyriums in Toblach eine 200 Euro teure Wanderjacke kaufen, als ließe sich dadurch alles relativieren – der Meniskus, der Schnee, die mangelnde Erlebnislandschaft durch das Scheitern meines Vorhabens, nach Cortina zu kommen.

Das war genug: Der springende Punkt, fuhr ich ihm in die Parade, sei noch immer derselbe und durch unser Gesülze nicht einmal berührt. Jacke hin oder her: Überlebte ich, ja oder nein, solle ich den Schluderbach nun meiden, ja oder nein, stürbe ich denn nun, ja oder nein, vor allem aber, brächte ich einen Text fertig oder nicht?
Das Problem war ja eben, dieses, sagte ich: Dann aber schneit es, eines morgens ist alles weiß vor der Hütte. Der Winter liegt noch lange tief und hart über dem Lande von Eden, also wie wandern, wie schreiben? Wie Waggerl auffinden, in dieser Antiheimat?, fragte ich.
Aber das war doch gerade bereits Waggerl, sagte Eike vollkommen richtig und in diesem Moment wurde es mir klar: Hatte ich vielleicht – ich stockte – überlebt und die Montagen doch verfasst?  
Aber was ist mit den Orakelversen?, fragte ich und zitierte:
Wo der Wind die Bäume niederzwingt
Und der Almrausch zu wachsen beginnt
Wo der Schnee im Sommer schon runterlacht
Der Blitz und Donner runterkracht
Ach das, sagte Eike und winkte ab, das war ein Liedtext von Gabalier, für deinen Antiheimatreisebericht, sagte er.
Ich war noch nicht vollends überzeugt: Doch Eike hatte auch diesen Zweifel vorausgeahnt, wie es schien, und dozierte weiter: Jetzt, da der Text nahezu fertig sei, stieß er aus, müsse ich nur mehr mein Ableben aus dem bereits Geschriebenen über die Wanderung schlichtweg herausverbessern, müsse den Todeshöhepunkt der Narration in kleinen, zunächst kaum für den Leser merkbaren Schritten weglektorieren, wobei mir im Notfall die Chefredakteurin von Quart sicherlich behilflich sein könne.
Den Rest verstand ich nicht, denn in seine Worte hinein hatte die Kellnerin das Fenster aufgerissen, durch das nun ein Schneeschwall hereingedrückt wurde.
Und womit werde ich die aufgrund des Schneefalls nicht stattfindenden Erlebnisse ersetzen?, fragte ich.
Mit Zeitschleifen, mit Rekursion, mit literarischen Tricks, sagte er, so wie du das in deinem Leben immer gemacht hast.
Also ist er doch ein Prophet, dachte ich nun, sprach es aber nicht aus, denn schon im nächsten Moment kam mir eine zweite, plausiblere Idee: Oder hast du den Text, den ich geschrieben habe, einfach schon gelesen?, fragte ich, und Eike, leicht errötend, nickte nun unter heftigen Schlucken aus seinem Weinglas.
Mehr noch als das, murmelte ich – das hier IST der Text, den ich geschrieben habe, oder?
Eike bejahte und dachte nach.
Den Text zu lesen ist das Eine, sagte er schließlich – aber woher wusstest du denn schon vor Beginn der Wanderung, wie sie enden würde, und konntest diesen Text überhaupt schreiben?
Jetzt war es an mir zu lächeln, weil endlich ich einen Wissensvorsprung hatte – und er begriff schließlich atemlos: Weil es mittlerweile schon vier Tage später ist und du mich erst im Nachhinein in den Text eingebaut hast, oder?
Ich bin eine ehrliche Autorin, nur chronologisch verwirrt, bestätigte ich. Dann wanderte ich los.

 

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