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Geschichten vom Alpenkrieg

Der Filmer und Schriftsteller Alexander Kluge hat für Quart alpine Kriegsgeschichten zusammengetragen: Sie handeln von Jugendlichen im Nachkriegsdeutschland, die Andreas-Hofer-Reden auswendig können, von Schiffen, die bergauf über die Alpen die Poebene erreichen, und von der Entstehung des Schönheitssinnes aus dem Eis.

Die Heldenorgel im Bürgerturm der Burg Kufstein war von 1931 bis 2010 in Betrieb. Auf dieser Orgel wurde jeden Tag um zwölf mittags das Lied „Alte Kameraden“ gespielt. Kufsteiner Veteranen hatten von 1918 bis 1931 Geld für das „tönende Denkmal“ gesammelt. Das war die größte „Außenorgel“ Europas. Es ging ihnen darum, ihre toten Kameraden zu ehren.

Der Künstler Thomas Demand hat (nach der besonderen Methode seiner Kunstwerke) diese Orgel installativ in seinem Atelier nachgebaut. Aus dem Nachbau entstand sein Werk Heldenorgel. In der neuen Nationalgalerie in Berlin stellte der Kurator Udo Kittelmann die Heldenorgel erstmals aus.

Abb. links: Heldenorgel von Thomas Demand, 2009 

WINTEREINBRUCH IM SCHÖNEN MAI
IN ALPENNÄHE


Schloss Elmau am 4. Mai 2019. Am Fuße der Alpen gelegen. Die Frühlingslandschaft, die den Tag beherrschte, ist mit einbrechender Dämmerung einer dichten Schneedecke gewichen. Wetterumschwung. Im Großen Saal findet eine Lesung des Poeten Hans Magnus Enzensberger statt, der im Jahre 1929 geboren wurde. Menschen wie er oder ich sind „Zeitzeugen“. Unsere Erfahrung – auch wenn es sich nur um die von Schülern und Kindern handelt – reicht in die Zeit des Jahres 1945 zurück. Wir Domgymnasiasten in Halberstadt nahmen damals an, dass der Krieg in der „Alpenfestung“ (das war für uns Tirol) fortgeführt würde. „Zu Mantua in Banden Andreas Hofer lag …“ – wir kannten das Gedicht auswendig. Auch konnten wir die Ansprache Andreas Hofers an seine Kämpfer auf dem Berg Isel in Innsbruck (wenigstens den Anfang davon) in freier Rede wiedergeben. Ich sprach mit Enzensberger darüber. Auch für ihn existieren „unwirkliche“, stark assoziativ besetzte und dadurch im poetischen Sinne „gegenwärtige“ Bilder, wenn es um die Worte „Alpen“ und „Krieg“ geht.

ERFAHRUNGSZUSCHUSS AUS DER ALPENFESTUNG
FÜR FRANKREICH


Glatteis in der Früh auf allen Straßen, die in die Alpen hineinführen. Mit zwei Kompanien seiner Gebirgsjäger brach Oberst Rittmeyer aus den Kasernen in Mittenwald in Richtung Seefeld auf. Er sollte die Pässe fachgerecht „verkorken“, die nach Seefeld und nach Innsbruck führten. Wie er das unternahm, war schon nicht mehr als Kriegshandlung zu verstehen. Es ging um ein Projekt zur „Berichterstattung nach oben“. Er platzierte nach ermüdendem Marsch die zwei Kompanien in einer Hangstellung, welche die Straße beherrschte und wo die Soldaten vor Umgehungen sicher waren. Dort konnten sie, reich proviantiert, im nassen Gelände ausharren; es war das Wasser von fünf Zentimeter Schnee in den Boden eingesickert. Sie sollten auf eine Gelegenheit warten, sagte Oberst Rittmeyer dem befehlshabenden Hauptmann, bei welcher sie mit Anstand kapitulieren könnten.
Er selbst fuhr nochmals zurück in die Mittenwalder Kaserne, weil er dort über die Nachrichtenverbindungen verfügte, die auch die Empfangsstellen des Gegners erreichten. Schon seit einigen Tagen plänkelte er mit französischen Stabsoffizieren, von denen er den einen oder anderen noch aus der Zeit der deutschen Besetzung Frankreichs kannte. Deren Telefonnummern hatte er im bereits besetzten Lindau durch Anruf bei einer Angestellten des Bürgermeisteramtes herausgefunden. Die Offiziere hatten ihr Telefonverzeichnis (mit Namen, Rang und Betätigungsfeld) bei der deutschen Zentrale deponiert. Sie wollten rasch erreichbar sein.
Der deutsche Oberst hatte dem französischen Kollegen während der Besatzungszeit in Frankreich Skiunterricht und Unterricht im Gebirgskampf erteilt. Seine Kontaktsuche am 30. April hatte Erfolg. Bereits im Juni bezog er – ohne je in Kriegsgefangenschaft zu geraten – im Sonderauftrag von Frankreichs Gebirgstruppen sein altes Quartier in Grenoble. In gewissem Sinne entsprang hier Europa. Er unterrichtete den französischen Nachwuchs der alpinen Truppe Frankreichs im „Gebirgskrieg für Fortgeschrittene“. Dazu hatte sein Kader in Mittenwald alles an Erfahrungen zusammengezogen, was sich im Kampf- und Übungsgelände Norwegens und was sich im Feldzug im Kaukasus sowie an der Murmansk-Front angesammelt hatte. Hinzu kam, was erst kürzlich im Karwendelgebirge übungsmäßig erforscht worden war: ein Erfahrungszuwachs in Sachen „Ernstfall“, den es angesichts der Endkatastrophe nur für die deutsche Seite gab. Anders gesagt: Alle Generalstäbe der Welt hätten gern gewusst, was und wie in der „Alpenfestung“ geführt worden wäre. Es wäre der perfektionierte Alpenkrieg gewesen. Die französischen Kollegen und Obristen hätten gern einen Platzvorteil in dieser Diskussion gegenüber den im Gebirgskampf uninformierten Briten oder Amerikanern gehabt, und daher schien ihnen nichts zu teuer, um Oberst Rittmeyer zur Kooperation zu gewinnen.

DIE BAHNEN ÖSTLICH DES BRENNERS ARBEITETEN
AUF HOCHTOUREN


Die US-Planer des Luftkriegs nannten das gegen Ende immer mehr verfeinerte Verfahren „to interdict“. Die Bahntrassen, die das einer Schlucht ähnelnde Terrain des Brenner-Passes ausfüllten, waren durch Luftangriffe zermalmt. Auf den durch Trichter unterbrochenen Gleisen standen die zerstörten Züge, einige von ihnen verfügten über ausgebrannte Flakstände. Lokomotiven und Waggons waren durch die Gewalt der Explosionen aber auch quer gestellt. Der Taldurchgang war versperrt von einer Masse aus Eisenteilen. Hier kann für einige Zeit kein Verkehr mehr stattfinden, sagte Oberbahnrat Schmitt, der noch über einen Funktrupp verfügte und so die nachgeordneten Stellen in Richtung Italien und Innsbruck unterrichten konnte, selbst aber noch nicht wusste, wie er diesen „Ort der Verheerung“ verlassen sollte. Auch zu Fuß schien das schwer zu sein.
Die Rücktransporte der Heeresgruppe Italien stockten ab Fortezza und Brixen. Die Stäbe erkundeten Routen und Nebenlinien, wie man aus dem Schlauch des Tales Gerät und Truppe (notfalls auch nur die Leute) zum Abtransport ins Reich über die Kärntner Strecke bringen konnte.

– An sich ist es doch gleich, ob die Truppe sich in Norditalien oder auf Reichsgebiet in Gefangenschaft begab?
– Trotzdem bestand die Vorstellung, dass die Kameraden nach Hause wollten. Es ging darum, das Vertrauen in die Führung zu retten. Die Bahnen östlich des Brenners arbeiteten auf Hochtouren.

DREI RUSSISCHE OFFENSIVEN IN DEN OSTALPEN
UND DONAUAUFWÄRTS


Der Sonderkorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung hatte Süddeutschland bereist, war dann nach Zürich zurückgekehrt und hatte in Österreich telefonisch Auskünfte gesammelt. In seinem Bericht heißt es:
„Marschall Tolbuchin erreichte die Einkreisung von Wien mit der gleichen Taktik wie 15 Wochen früher die Einschließung von Budapest. Nach einem Aufmarsch im Süden umgingen seine Truppen die Stadt im Westen, bis sie die Donau erreichten. Die letzten Personen, die Wien im Automobil verlassen konnten, flüchteten über die Donau nach Osten, um auf Umwegen nach Linz oder Budweis zu entkommen.
Eine beachtenswerte Leistung Tolbuchins bildete die rasche Durchquerung des Wienerwaldes westlich von Baden. Der Vorstoß folgt jetzt in drei Richtungen. Nördlich der Donau bewegt sich die Armee Malinowski direkt nach Westen, um das Hügelland an der böhmischen Grenze zu erreichen. Südlich der Donau hat die Armee Tolbuchin, die über die Flüsse Traisen und Ybbs der Enns zustrebt, einen ziemlichen Vorsprung. Zwischen den Flüssen Leitha und Salzach liegen zahlreiche Lager, in denen im Herbst ein großer Teil der von den Deutschen deportierten ungarischen Juden interniert war.“
„Die ungarische Honvéd, die Hitler aus der Front zurückziehen mußte, weil sie nach der Kriegserklärung des Kabinetts Miklós an Deutschland nur auf eine Gelegenheit zum Übertritt in das Lager der Alliierten wartet, steht in Oberösterreich und Bayern, so daß sich bei ihrem Zusammentreffen mit amerikanischen und französischen Truppen große Überraschungen ergeben können.
Obwohl die Berge an der Grenze zwischen Nieder-
österreich und der Steiermark, besonders das Massiv des Hochschwab (2278 Meter), ein Hindernis darstellen, gibt es für Tolbuchin über Mariazell einen leichten Übergang in das Mürztal. Da alle Versuche, südlich des Semmering nach Mürzzuschlag vorzudringen, bisher gescheitert sind, folgt der dritte russische Weg der oberen Raab und der Eisenbahn von Steinamanger nach der mittleren Mur. Der ,eiserne Ring der S. S. um Berchtesgaden‘ beginnt aber erst beim Dachstein (2992 Meter) und der Hochalmspitze (3355 Meter).“
„Während Kärnten, wo die Vereinigten Staaten seit mehr als dreißig Jahren große Kapitalinteressen besitzen, angeblich zur britischen oder amerikanischen Zone gehört, fallen Niederösterreich und die nördliche Steiermark nach dem Plan von Jalta in die russische Besatzungszone. Das russische Interesse an einem neuen Österreich wird ohne Zweifel auch durch industriepolitische Erwägungen gestützt.“

DAS SPRENG-DISPOSITIV IM GOTTHARDTUNNEL


Oberst Flierz, Direktor des technischen Rüstungsamts der Eidgenossenschaft, ließ den deutschen Militärattaché bei einer Besichtigung des Gotthardtunnels in einem der Nebenstollen einen Blick auf das Spreng-Dispositiv werfen, das im Fall einer Besetzung der Schweiz durch deutsche Truppen gezündet werden sollte. Dass Deutschland gewiss sein konnte, die Eidgenossenschaft werde die Transittunnel zerstören, würde sie angegriffen, verhinderte eine Okkupation und nach 1943 einen Wirtschaftskrieg des Reiches gegen die Schweiz, der aussichtsreich gewesen wäre, da erstmals alle Außengrenzen der Eidgenossenschaft (also auch zu Italien und Vichy-Frankreich) von Deutschland kontrolliert wurden.

– Wären Gotthard und Simplon tatsächlich gesprengt worden?
– Vielleicht nicht.
– Weil man den Schaden später nicht hätte beheben können?
– Eine so gewaltige Sprengung ist technisches Neuland. Wir hätten es vielleicht an einem kleineren Objekt erst ausprobieren sollen.
– Es genügte, dass die Deutschen an die eidgenössische Entschlossenheit glaubten?
– Offenbar war das ausreichend.

Die Gefahr eines solchen Spreng-Dispositivs bestand darin, dass eine Kette von Zufällen es zur unzeitigen Wirkung hätte bringen können. Das Gespräch mit Oberst Flierz war vertraulich und konnte auch deshalb in dem Züricher Hotel offener geführt werden, weil jetzt, Ende April 1945, es für das Reich kaum noch relevant gewesen wäre, Schweizer Geheimnisse zu durchschauen. Der Oberst, der so lange Zeit alle Informationen für sich behalten hatte, schien sich in einer Art von Stau zu befinden. Er wollte endlich einmal über das Können sprechen, das er in Form seiner tüchtigen Mitarbeiter kommandierte. Ein Problem, berichtete er, bestand darin, dass der Oberst der Pionierwaffe, der das Wunderwerk des Spreng-Dispositivs eingerichtet und verdrahtet hatte, wenig später starb. Die Sache war so geheim, dass keine Aufzeichnungen angefertigt worden waren. So konnte lange Zeit (und auch zum gegenwärtigen Moment des Kriegsendes, fügt Flierz hinzu) niemand diesen „vergrabenen Schatz“, der die Sicherheit der Eidgenossenschaft garantierte, heben und zunichtemachen. Man könnte, ergänzte der Oberst, die zwölf Räume, von denen aus die Sprengung ausgelöst werden sollte, zumauern. Das werde sein Nachfolger klären müssen, da er zum Jahresende aus dem Dienst ausscheide.

Gerda hatte, als der Westwall gebaut wurde, vierzehn herrliche Tage mit einem Herrn von der Organisation Todt in der Eifel verbracht. Dieser Herr fuhr ein Cabriolet. Das heißt, man konnte im offenen Wagen die kühlen Berge der Schnee-Eifel von Vulkantrichter zu Vulkantrichter, praktisch Bergseen, durcheilen. Von ihm hatte sie den Ausdruck: Alles bloß Organisation. Er zeigte ihr Pläne, auf denen Schiffe bergauf über die Alpen die Poebene erreichten. Das war Organisation als Kanalbau, ingenieursberechnet. Man kann es malen.

Abb. links: Die Einfahrt in den Alpen-Sperrriegel

Abb. links: Schiffe fuhren die Hochgebirge hinauf über die Pässe und Gipfel nach Italien und zurück. Von der Nordsee zur Adria. Unten eine der Schleusen. Weiter oberhalb: Tunnels. Planschiffe von 1938.

ENTZÜNDETE AUGEN


Ich hatte von Kindheit an ein Bild im Kopf: Einfahren in einem Auto mit offenem Verdeck in die Alpen. Der Wind weht durch die Haare und über das Gesicht. Ich stehe aufrecht, damit viel Fläche dem Sturm, der aus dem Gebirge herabweht, zur Verfügung steht. Heute weiß ich, dass dies auf eine Reklame von 1938 zurückgeht, welche das noch gar nicht im Handel erhältliche VW-Cabriolet propagierte. Es war aber, gerade weil ich es nie erproben konnte, mein Idol von Freiheit und Lust. Dann fuhr ich unter einem ganz anderen Regime, in einer anderen Wirtschaftsordnung und nach langem Krieg, tatsächlich in einem Citroën mit offenem Dach durch das Engadin. Über den Malojapass und über weitere Straßen zu den Filmfestspielen in Locarno. Stehend im Wagen, Wind in den Augen. Meine Freundin steuerte. Augenentzündung. Fast blind kam ich in der Festspielstadt an. Die Heilung, sagte der Arzt, dauert nicht unter drei Wochen.
Der Vorwurf der Altbranche gegen uns Autorenfilmer lautete: Ihr macht Filme für die Blindenanstalt. Dafür war ich aufgrund meiner Auto-Eskapade gerüstet. Tatsächlich glaube ich nicht an die „Macht der Kinobilder“. Schön wäre es, würde in einem Dunkelraum von vielen Seiten erzählt. Wir sitzen zusammen. Das ist das Kino. Auch täuschen die Bilder, wie ich es ja durch meine Erfahrung mit dem Reklamebild von 1938 erlebt hatte.
Das Festival selbst zeigte eine Filmauswahl der Gegenwart. Nur etwa zwanzig Kilometer entfernt lebte der Filmpionier Hans Richter. Kein Film von ihm war auf dem Festival zu sehen. Bilder, die sich noch in seinem Besitz befanden, sahen wir, als wir ihn besuchten. In Nebenzimmern standen sie herum, die Bildfläche zur Wand gekehrt. Keines seiner Bilder konnten wir betrachten, während der „Prophet des Auges“ mit uns redete. Ich trug abwechselnd auf dem linken und auf dem rechten Auge meine Augenklappe. Blinzelte, um nirgends anzustoßen.

RÜCKKEHR DER WÖLFE ALS POLITISCHES PROBLEM
IM WALLIS


Zwei Wölfe sind von Osten über die Grenze hinweg in die Schweiz gelangt. Vor hundert Jahren waren Wölfe in der Schweiz bereits einmal ausgerottet. Die Nutztierhaltung in den Alpen wucherte in den folgenden Jahren aus. Die Wildtiere waren, nach Ausfall des höchstrangigen Raubtiers in der Nahrungskette, weniger diszipliniert, schreibt Kurt Eichenberger von der Gruppe Biodiversität beim WWF SCHWEIZ. Sie werden dann ihrer Art entfremdet, bleiben nicht scheu.
Es hat in der Presse ein erregendes Foto gegeben von den Resten eines Schafes, von einem Wolf gerissen. Eichenberger hat dagegen zahlreiche Bilder gesammelt, auf denen gestürzte Tiere zu sehen sind, von den Umständen der Natur grausam hingerichtete Lebewesen, gestürzt in Schluchten, tagelang zwischen Felsen leidend. Jedes Jahr, schreibt Eichenberger, gibt es zehntausend Schafsopfer durch Unfälle. Dem stehen bis zu 300 Nutztiere gegenüber, die in einer mehrjährigen Periode von Wölfen gerissen werden. Das Problem sind nicht die Wölfe; vielmehr ist die Tatsache gravierend, dass zahlreiche Schafe auf den Bergen nicht behirtet sind.
Der Bund gibt ja, fährt Eichenberger fort, 43 Millionen Franken für die Schafhaltung in der Gesamtschweiz aus, für den Herdenschutz nur 830.000 Franken. Mittel müssen bereitgestellt werden, die eine Koexistenz von Wolf und Nutztierhaltung ermöglichen.
Stattdessen versucht die Schweizer Politik, das medienwirksame Thema der Wolfsgefahr für sich zu nutzen. Im Nationalrat in Bern werden Traktanden entwickelt, die den Schutz der seltenen Wolfstiere lockern und das Abschießen künftig begünstigen sollen!
Damit der Wolf bei uns eine Zukunft hat, so Eichenberger, braucht es dreierlei: eine Neuausrichtung der Nutztierhaltung, nicht 250.000 Schafe in den Bergen, sondern die Hälfte davon; den konsequenten Ausbau des Herdenschutzes, was vor allem bedeutet: bessere Ausbildung des Hirtenpersonals in Wolfsgebieten, also Ausstattung mit Herdenschutzanleitungen und Fortbildungskursen, und schließlich wie in Frankreich eine „vorausschauende Planung“. Mit vorausschauend und mit Planung meint Eichenberger eine Betrachtung der Wechselwirkung zwischen den Tieren untereinander und den Eingriffen der Menschen. Eichenberger fordert einen RUNDEN TISCH zum Thema Wolf.

KRIEGSGLÜCK ALS KRANKHEITSURSACHE


„Vorn möchte ich stehen wie in einem Ruhme /

Groß und wie eine Fahne aufgerollt /
Dunkel, aber mit einem Helm von Gold /
Der unruhig glänzt“

„Der Abkömmling eines ersten Hauses, Quirin
Graf S., genannt Quinquin, war in den Gefechten
östlich von Lemberg im Herbst 1914 als Anführer
einer Reiterabteilung in eine Reihe aufgeregter
Taten verwickelt worden. Er galt als jugendlicher
Held. Das wäre seiner Abstammung nach kein
Erfordernis gewesen, vielmehr kam es darauf an,
daß ein luxuriöses Lebewesen wie er überhaupt
existierte in einem armseligen verwalteten Krieg.“

R. M. Rilke

Dann, im Frühling 1916, geriet die Reiterschar, jetzt abgesessen, mit ihren Karabinern, mit denen man nichts Entferntes trifft, vor einer Artilleriestellung in den Felsen der Alpen in die Verzweiflung. Sie flüchteten über eine Schneefläche. Sie lagen, von Rebellen beschossen, unter einer Felsklippe. Wenige von dieser Truppe überlebten. Graf S. wurde mit Lähmungserscheinungen der Arme und einer Störung des Schließmuskels sowie einer Paraphrase-Hysterie in das Militärhospital Innsbruck eingeliefert; die Hysterie war dadurch gekennzeichnet, dass der Graf Fluchtphantasien äußerte.
Die sexuelle Herkunft dieser Vorstellungen war dem Analytiker Dr. B. sogleich deutlich. Was hatten eine überhängende Felsnase und ein nächtliches Licht (bestehend aus Finsternis und Artillerie-Explosionen), die den Junggrafen an „Fittiche“ erinnerten, mit dessen stärkstem Erlebnis aus der Jugendzeit zu tun?
Das panikartige Durchlassen der Fäkalien, so dass dieser Adlige zu jener Zeit nicht in Gesellschaften auftreten oder vor einem Vorgesetzten Vortrag halten konnte, ließ sich, erklärte Dr. B., nur an den Hebeln und Maschinerien des sexuellen Frühlebens ab- oder umstellen, nicht aber aus dem Schockerlebnis jener Winterkampfnacht deuten, die diese Motorik ausgelöst hatte. Der Arzt musste sich zunächst von der Annahme freimachen, dass die Reaktion des Grafen (oder das Versagen seines Körpers oder seiner Reden) mit dem Verlust der Kameraden zu tun hätte. Die Vorstellung „hier unter der Felsnase holt uns jetzt niemand mehr heraus“, sagte Dr. B., hätte für den tapferen Offizier nichts bedeutet. Was ihn als Schrecken anrührte, war die Empfindung, es seien „Fittiche“ um ihn, offensichtlich die eines unerwarteten Helfers. Es habe ihn erschreckt: dass etwas unterwegs war, ihn zu retten oder zu erschlagen. Die Rettung des jungen Enkels großer Vorfahren vor Schmach und gesellschaftlicher Ächtung wäre in früheren Zeiten allenfalls durch lebenslängliche Einsperrung oder seinen Tod möglich gewesen. Die rasche Heilung des kranken Grafen durch die Zauberer, die sich am Militärhospital in Innsbruck konzentrierten, warf Glanz auf „die Sache“1.
Alle Junghelden Österreichs gemeinsam vermochten indessen das Vaterland nicht zu retten. Sie erhofften sich nichts von ihren Taten. Andernfalls hätten sie den Landesfeind zu Paaren getrieben, sie hätten ihn gezwungen, sich auf den Status simpler Paarung zurückzuziehen, die mit Schande oder Sünde besetzt ist.

„Ich möchte einmal werden so wie die /
Die durch die Nacht mit wilden Pferden fahren …“

ENTSTEHUNG DES SCHÖNHEITSSINNS AUS DEM EIS


Bei dem Entwurf seiner Alpen-Architektur („die Natur der Gebirge hat ihre künstlerische Form noch nicht erhalten“) behauptete Bruno Taut, auf URERLEBNISSE DER MENSCHLICHEN EINBILDUNGSKRAFT zurückgehen zu können. Ursprünglich sei nicht der Schönheitssinn, sondern die Einbildungskraft. Sie sei in die kollektive menschliche Erinnerung eingebrannt. Das sei geschehen, als die Züge der Tiere und der ihnen folgenden Menschen an den gewaltigen Hürden der Gletscher entlanggezogen jahrzehntelang über Ebenen gewandert seien, die schon unter der Einwirkung des vorrückenden Eises zu Wüsten wurden. Das waren schlimme hoffnungslose Jahre, und nur im Inneren blieb Mensch und Tier eine Art von Glimmen aus früherer Zeit, das Wärme versprach. Zuletzt nur noch Erzählung.
Bis dann die Übriggebliebenen (alle miteinander verwandt, weil 90 % untergingen, aus den restlichen die Nachkommen) die Meere erreichten. Hier fanden sich auch Höhlen.
Nach entbehrungsreichen Zeiten hatte der Erdball seine Ausrichtung zur Sonne verändert. Ein Teil der Wolkenmassen, die das Licht der Sonne zum Kosmos zurückspiegelten, senkte sich zur Erde. Offenes Wasser speichert Wärme. Die Erinnerung an das geschärfte Unterscheidungsvermögen, das in den Jahren der Kälte entstanden war, verschloss sich in den Herzen. Es wird dort, behauptet Bruno Taut, oft mit dem Schönheitssinn verwechselt.

Abb. links: Fünfjährig. Den Tiroler Janker hat meine Mutter aus Salzburg mitgebracht. Kinderstahlhelme hatten wir alle. Wenn ich heute mit Helge Schneider filme, trägt er einen solchen Helm und eine ähnliche Uniformimitation. Mein Vater sieht auf dem Bild martialischer aus, als er ist. Er ist Stabsarzt der Reserve, jedes Jahr absolviert er also drei Wochen lang einen Lehrgang für Militärärzte, eine sogenannte „Übung“. Wir kommen von einer Parade im April 1937. Auf dem Arm meines Vaters meine Schwester, zwei Wochen alt. 

ALPENARCHITEKTUR


In 25 Kilometer Luftlinie Abstand vom Mont Blanc hätte Bruno Taut gern eine Bergkuppe – wie mit einer DURCHSICHTBLENDE – mit einer Serie von in den unterschiedlichen Farben des Tages leuchtenden Gläsern ausgerüstet. Sah man vom nächstliegenden Berg im Norden Richtung Rhone, zeigte sich die Reihe von acht Glasflächen als „durchsichtiger als Luft“ und auch als „Schatzgräber des Lichts“. Für einen, der es nicht selbst sah, war die Wirkung schwer zu beschreiben. Keine Vergrößerung! Keine Hinzufügung von irgendetwas: absolutes Licht. Dafür hätte Bruno Taut aber die Adresse der Werkstatt haben müssen, die für das Toyoshima-Projekt das Glas anfertigte.

1  „Unsere Sache“ oder „die Sache“ war der Ausdruck, mit dem die psychoanalytische Bewegung ihre besondere Stellung in der Heilkunst charakterisierte. Zu dieser Sachlichkeit gehörte, dass die Deutung der Heilung nicht durch den einzelnen Zauberer selbst erfolgen sollte. So gab es mehrere Erklärungsversuche, die von Kollegen des Dr. B. stammten. Erklärungsbedürftig schien vor allem die Raschheit des Heilungsprozesses. Die pathologische Erscheinung, die sich bei dem jungen Grafen gezeigt habe, zeige einen Bruch im Charakterpanzer (einer Art gesellschaftlichem Korsett, das zwei Sphären der Libido, wie Herren und Sklaven, voneinander abschließe). Ihm wurde entgegnet: Das, was dem jungen Grafen geschehen sei, würde jedem von uns passieren, wenn wir uns von den Fittichen eines Engels oder Adlers berührt fühlen, der uns aus aussichtsloser Lage rettet.

 

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