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Marginaltext (6): Mutter, Vater, Gott

Mit dem Wort Marginalie wird gewöhnlich Nebensächliches bezeichnet, etwas am Rande oder an der Grenze einer Sache Liegendes. In Quart werden unter diesem Titel zentrale Texte über das Leben an der Peripherie neu veröffentlicht, die längst vergriffen oder nur schwer zugänglich sind, an entlegenen Orten aufbewahrt oder gar in Archiven verschwunden. Folge 6: Prosa von Peter Wallner, 1950 in Flirsch am Arlberg geboren, verstorben 37-jährig an den Folgen eines Darmverschlusses in Innsbruck.

Mama ist alles!

Genossin Mutter: ein Ort, in dem Leiden entsteht, ungewiß und dunkel. Reich, das an die Vernunft grenzt, in dem zu bewegen ich mich bewege. Unbefangen, emanzipierte Frau der Jahre, ein erduldeter Lebenssinn. Geschwätzig ernst, umschmeichelt, dumpf, gefangen, alltäglich.
Alltäglich Gattin und Mutter, Geliebte und Frau.
Verdichteter Leitstern: Geschichte und Partei, Arbeiterin: Kuß gegen die Mauer gelehnt, im Hof. Du, Konglomerat von Gefühlen, die Kirche, die Verführer von zu Hause.
Die Berge steigen spitz auf, und ein Streifen Bläuliches flattert im Hintergrund.
Mutters Brust ist weich und hügelig. Auf den Almhütten, in den hintersten Tälern, wo es bekanntlich keine Sünde gibt, die gelben Butterstollen geformt werden, verbringt das Lachen den Sommer.
Mutter ist alles: Aufwecken in der Früh, die Brennsuppe, die Milch, das Spielen und die Erzählung, die über die Lippen kommt, die Geschichte.
Heuer schenkte ich meiner Frau einen Stern, der brennt. Einen Stern, der strahlt im Dunkeln. Es zehrt jahraus, jahrein an ihrer Kraft. Stark und kräftig sind die Mütter! Sie formen Gemüt und das Haus; ohne Mutter wäre ich einsam und leer. Mutter aber ist alles, sie mag Routine, Hierarchie, Haus und Heim, Rechte und Pflichten, den sogenannten Ernst des Lebens. Mütter sympathisieren. Die metaphysischen Probleme bringen sie zum Achselzucken. Alle die Mütter, das sind soziale und politische Fragen und wir haben doch Sinn für Frauen, unsere Mütter: Oh Mutter komm, – oh Mutter geh.
Die Mutter ist eine Romanze aus der Zeit um die Jahrhundertwende. Eine schöne Helena, ein Blumenstrauch – der Almrausch; leistet den innigsten Müttern Widerstand! An der überkommenen Mutter haftet das Konventionelle, Schwestern. Die Küche, die Kirche und teuerste Gefühle, immer! Ohne Mutter wäre ich einsam und leer. Ein geplagtes Waisenkind vielleicht, mit einer gelernten Mutter; keine Schwester, ohne Geliebte.
„Keine Frau erlebt ungestraft den Kontakt mit Männern.“
Mama horch, Mama schaug. Mutter ist alles für das Kind. Sterntalermärchen. Das ist Mutter alles. Alles ausgezeichnet mit Orden. Aber Mütter sind viel mehr!
Unsere Mutter ist über den Bergen, allen Mutter, im Himmel zu Hause. Von dort grüßt unsere Mutter: Ausgezeichnete, Jungfräuliche, ein Geheimnis des Glaubens. Sie geht voraus und wir folgen ihr? Das Mutterherz schlägt enorm im Takt, vermittelt den Rhythmus eines Lebens. Aber die Frau muß erst heiraten und dann Mutter werden! Und dann! Und dann die Enttäuschungen schlucken.
Ich bin eure Frohbotschaft.
Das Kinderkriegen – ein Kind zur, auf, in die Welt bringen.
Das ist die Mutter, eine Beziehung zur Einzelperson, plötzlich die große Familienidylle. Aber was macht ein Retortenbaby in einer Familie?
Es ist der Schmerz der Herzen. Es durchbohrt das Herz der Erzieherin Mutter. Eine Tatsache, kein Verwurf. „Eine gesunde Schwangerschaft setzt ein gesundes Kind voraus.“
So könnte es ein Assistent der Tiefenpsychologie meinen: Vom Babyboom zur Doppelbelastung. Der Gynäkologe ist als ein Phänomen weit in der Gesellschaft anerkannt. Es kommt zur Karrieregeilen, die Sehnsucht nach Wärme und Zuwendung sucht. In der Idylle wird angepaßt und konsumistisch erzogen, das bedeutet mehr als eine Rolle einzunehmen, und die Mutter kommt von der einen Krise in die andere. Nach Aussagen des Katholischen Familienverband kommt die Frau von einer Krise, von einer Krise in die andere.
Was aber bedeutet für die Mutter die Empfängnisverhütung, eine Flucht, vor dem Bedürfnis auf den eigenen, unerfüllten Wunsch?
Muttersein ist im Gebäude der Elternliebe, so fragil für das junge Kinderleben. Etwas zaghaft Zärtliches zur Schwelle des Jahrhunderts. Ist Mutter eine Selbstverwirklichungsideologie, eine Daseinsdeutung oder eine Fehlleistung? Der Ideenvorrat in der Natur bietet Rollen an, Mutterrollen. Welche Mutter ist für sich alleine eine Herrschaftsstruktur? Entsteht durch Beischlaf, Unterschlaf und Empfängnis eine neue Haltung gegen Gewalt und Umweltzerstörung? Seltene Reden.
Ach Mutter, Mütterlein, heimlich und süß, dich überfallen die gepflegten, konsumerzwungenen Gefühle der Privatwirtschaft in ungebrochenen Wellen. Du wirst erobert in weitausgeholten Wünschen, wie Streicheln die Wörter in Musik verpackt. Deine Mühen und Plagen, alles, ohne zu klagen. Geschundener Körper.
Mutters Sorgen sind riesig, sie strecken sich über Berge auf Ebenen in Täler und auf die hohe See, in das Erd-
innerste und in die Lüfte.
Soll es dir doch schmalzig um den Busen rinnen, Frau. Weib und Liebe, liebst Zärtlichkeit, Stille und Freude, meidest Kummer und Schmerz. An dir bleibt’s hängen. Hängt’s doch von dir ab! Verlogen schieben sie es in dir beiseite: Talente als Organisatorin, den Postendirektor beim Familienbetrieb Fabrik, den Hofrat, Professor, die Frau, den Wunsch. Mutter, du bist ohne Leidenschaft, ohne Lohn, Anerkennung und Lobpreisung. Was versprichst du dir von deiner Befreiung?
Das Band zwischen den Menschen, die einander lieben, soll die Liebe sein. Der Kreis: Mädchen, Frau, Mutter, Metropole, er ist eine Sackgasse. Du spürst Unruhe in dir? Bist du noch Mutter?
Urfrau, kraftvolles Weib, greif über das Ziel hinaus. Sei Kameradin deines Lebensentwurfes, Keimzelle der Zukunft.
„Und Liebe meint die Menschenwürde.“
Die Medienrevolution ist nicht aufzuhalten:
„Wo Liebe ist, da ist ein Kind.“ Wenn Erbarmungslosigkeit herrscht, kein Lehrmeister in Politik und Wirtschaft, dann wird die Mutter präsentiert mit ihrer Lauheit und Freude; ein Lernprogramm von Lebensnächten (Mächten). Die Mutter ist ein „liebes Paar“ für die Entwicklung einer funktionalen pluralistisch-demokratischen Gesellschaft. Schutz! – das Glück hat sich verkleidet.
„Die ehrliche Betroffenheit hat tiefschürfende Gespräche geführt.“
Aber so sind sie nun einmal, Brot + Rosen.

***

Vater, Unser?

Hurra, ich bin ein Vater der vaterlosen Gesellschaft. Der repräsentierenden Macht. Der Übermacht. Der Papa, ein Paps. Ein Rabenvater. Der Ziehvater und Ahn, Familienvater der reformierten Kapitalismen. Der Erzeuger der Linientreuen, Gründer des Ekelempfindens. Ein Luftumwälzer oder Ventilator. Sehe aber auch den geglückten Vaterfreuden entgegen. Bin Partikel der Gründer und endloser Vater, verabreiche Injektionen. Oberhaupt des Frosts und versammle im Namen des Vaters die Planeten um mich. Vaterstaat und Teil der Eltern. Und diene im Namen des Vaters dem Vaterland. Last Generation National sowie vaterländisch. Stiefvater, Alter, werde Vater beim Herumzigeunern. Strolche ins Parlament.
Vater des Sieges und Urahn der Niederlage. Ein Mann. War immer so mannsgenug beim Wegstecken. Stellte meinen Mann den Dingen gegenüber so der Hoffnung, der Liebe, dem 2. Fall. Vater unser, sei gepriesen, du Schelm. Der Kampf das Prinzip der Entwicklung, der Stolz des Manns. Der Vater werkt an der Schreibmaschine als Philosoph, der Priester der Nacht und Vollstrecker der Wahrheit. Oberstes Maß, aber auch Herr ihres Daseins ist die Persönlichkeit. Der Raum, die innere Erfüllung. Der Träger des kulturellen Ideals. Es kommt nicht darauf an, daß der Mensch sein Leben lebt, sondern darauf, es gut zu leben. Alles in sich aufnehmen, auch das persönlich Gute. Das Leben, der Mensch, die Wurzel des unrationalisierten Genusses. Die private Harmonie innerhalb der allgemeinen Anarchie. Ich bin der Vater, der Papa, der Strahl Roms in das Dunkel der Welt. Apostel der Arbeitsfähigkeit, eine Wirkung des Scheins. Der Vater eine kulturelle Umorganisation vom Führer zum Marxisten, vom Geist des Abenteuertums zur Gemeinschaft. Hoch über den Gegensätzen – der Wille. Das Bild der heroischen Gesellschaft, Versorger und Nimmersatt. Der Vater kehrt heim aus dem Krieg zurück und saust durch die Wohnung. Er schneidet seinen Bart, stutzt den Kindern die Flügel zurecht. Er ist eine Großaufnahme im Film. Der Rhythmus der Welt: eine rührende Einbildung. Ein weißgetünchter Raum in Brusthöhe. Der Verkehr, eine Züchtigung der Mutter durch den Vater. Der Haß, der Überwindung.
Hatte mein Vater Charme? V-ater!
Der, wenn er ihn eingesetzt hätte beim schwachen Geschlecht. Erfolg gebracht hätte. Aber mein Vater ist weder das eine noch das andere. Was beginnt mit dem Aufruf des Parteivorstandes? Ein Terrorakt. Unvergleichlich hart. Wie ein General. Der rote Stoßtrupp durchbohrt den Pappkameraden.
Es kommt der Herbst in ein Land, das sich sommers abgestoßen hat. Der Manager ist der, der andere managt, das heißt: wie Pferde antreibt. E. Bornemann. Er raucht Haschisch und trinkt Perlwein. Als Mann muß man sich rechtfertigen. Ein Mann tut etwas, er weint nicht. Er trinkt. Der Vater ist der Eingang zur Wohnung in der Witzlebengasse 1. Er löscht große Worte mit Bier und brüllt animiert leere Phrasen. In der Dachorganisation Familie spielt er den Zimmermann mit seiner endlosen Axt. Unter seiner Schirmherrschaft wächst das bellende Gelächter der aufwachsenden Kinder. Hinter seinem Schreibtisch formuliert er Pläne für den Straßenbau und regelt die Ordnung in der Wohnung.
Durchschlagskräftig im Ortsverband legt er die Eisenstange über das Schluchzen der Mutter. Ich hörte, wie mein Vater mit Kopf und Herz wortgewaltig die Stützpfeiler in der Küche aufrichtete oder einzog. Kurz nach seiner alltäglichen Ankunft am Abend schleppt er als Wegweiser in der Erinnerung Könige und Kaiser auf den Thron. Immer wieder schiebt er würdige Worte in den glühenden Backofen und brät im Eiltempo Licht aus. Kinder, das ist ein Vater. V-ater.
Wahrscheinlich ein Fürst im Palast, Hütte. Oh, Vater, unser starker Landwirt und Motor des Einbaums.
Es fällt mir schwer Hoffnung und Verbundenheit abzuschälen von seiner Armut und seinem konkreten Hunger. Sekt, Kaviar und erbärmliche Demütigungen widerfahren ihm in seiner Ignoranz.
Vater. VATER.

***

Trüge Gott doch wieder weiße, seidene Strümpfe

Hat sich einer mit seinem Namen erfrecht, während der Predigt das Ave Maria zu vermissen. Aber der Pfarrer, ein Pfaff, hat nicht verstanden. Dem wäre nicht so, wenn die Vorfahren nicht versagt hätten. Jagd nach Büchern, die verboten waren, und der Telex vom Fürstbischof von Brixen, na ja, Sie wissen schon, an den Fürstbischof von Salzburg, den ich auch nicht kenne, bitte was, ach ja, euer Gnaden devotester Suffraganeus. Hallo, nein danke.
Im März schrieb da einer und es war ein kleiner, fiel noch viel tiefer, großer Schnee. Viel Erbarmnis. Ey, so sind denn alle verworfen …
Donau-himmel-abwärts.
Im sommerprächtigen Juli wiegen die Wiesen sich im seidenen Wind und schaukeln mein noch ungeborenes Mädchen. Der Himmel quillt aus ihren geschlossenen Augen und ihr Adernetz umspannt schon die Liebe. So prächtig ist das Ganze, wenn es auch noch nicht zu Ende ist. Wenn es erst halb geschrieben ist. Muß ich zu einem Ende kommen. Noch hab ich Zeit. Zeit, die mir ein weiß seiden Strümpfe tragender Gott, so er sey, geschenkt hat. Sey er doch!
Sie wird nicht nach den schönen Mädchenbeinen schauen. Nein, mein Mädchen nicht. Sie wird eine MaDamme (MaDonne). Und schenkt uns meine Frau kein Mädchen, was wird’s dann wohl sein. Keine Maria, die die Füße spreizt. Um das in Liebe Begonnene zu vertilgen. Aber alles Unglück kommt doch von den Juden. Nein, von den Radfahrern, warum von den Radfahrern? Warum von den Juden? Diese Möve kommt direkt aus Grönland. So eiskalt.
Alles ein totaler blöder Sinn, einfach ein lächerlicher Rückfall.
In die Seiden-Strümpfe-Zeit. In ein dotterfrisches Mao-
china. Aber ey Gott, wo gerate ich denn hin, China und Nicaragua. Das sey denn doch in Nauders by einer staatsgefährdenden Rede unterbunden worden. Aber im März, als noch halbseidener Schnee fiel, für den Fremdenverkehr natürlich und mein Mädchen Maria dann, die meistens mit Eva im Süden weilt und etc. … Alle Dämme brechen in Italien. Ey Gott, trägst weiße Strümpfe auch die Herren wie die, Gott, hab sie selig. Er hat sie ja. Schützen.
Die Unschuld soll weiße, seidene Strümpfe tragen mit Straps. Wenn ich die weißen, seidenen Strümpfe meiner Frau an das Nylon-Wäscheseil knüpfe, blicke ich schnurgerade (stracks) gegen den mir offenen Himmel und sehe ich, weiß Gott, er trägt weiße, seidene Kniestrümpf.
Damit wär ich dort schon am Ende, das ich erbarmt habe. So schreibend.
Schon wäre ich dann donau-himmel-abwärts in den Walzer gestürzt oder geglitten und hineinkompromittiert worden, wenn es himmelblau sein muß. Der Wein, das Mädchen und Maria getragen. Da grollt mir aber der Donner hervor mit aufgerollten Strümpfen und zieht den klatschnassen Regen hinterdrein. Ich schau aber gelassen auf die starke Kirchturmuhr, die mitten im Dorf in mich hineinragt und sage A-men.

Erstveröffentlichung in: Sturzflüge Nr. 13, 1985; Wiederveröffentlichung in Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck

 

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