zurück zur Startseite

„Schauen, notieren, denken, zeichnen“

Irene Kopelman erforscht seit Jahren mit künstlerischen Mitteln einzigartige Ökosysteme, darunter auch Gletscher. Ihr jüngstes Projekt widmete sie ganz speziellen Meeresbewohnern – und zeigt in dieser Ausgabe von Quart am Umschlag und auf den Seiten 34 bis 43 erstmals Auszüge aus dieser Arbeit.
Von Hélène Guenin

Seit vielen Jahren folgt Irene Kopelman der Überzeugung, dass Wissenschaft und Kunst ein gemeinsames Interesse an einem auf der Praxis basierenden Wissen teilen. Seit 2005 hat sie in Zusammenarbeit mit Naturkundemuseen, geologischen Sammlungen (London, Amsterdam), Naturparks (Hawaii) oder Laboratorien wie dem Smithsonian Tropical Research Institute in Panama oder dem Manu Learning Center im peruanischen Regenwald zahlreiche Forschungsaufenthalte absolviert und die jeweilige Feldarbeit beobachtet, bevor sie ihr eigenes Forschungs- und Darstellungsprotokoll erstellte. Die aus Argentinien stammende und in Amsterdam lebende Künstlerin erforscht so die einzigartigen Ökosysteme der Welt, mit dem Ziel, die Mechanismen der lebendigen Natur zu verstehen. Jeder neue Ort bietet ihr eine Gelegenheit, in sie einzutauchen. Zunächst über die Sinne: Sie nimmt die Landschaft in sich auf, erlebt ihre Größe, ihre Bewegungen oder den Metamorphosezyklus der Lebewesen; natürlich vorrangig visuell; und schließlich aus intellektueller Sicht (sie arbeitet mit den wissenschaftlichen Teams vor Ort zusammen, um die Forschungsinstrumente kennen zu lernen und das Leben der betreffenden Ökosysteme oder Lebewesen und ihre Rolle in einem umfassenderen Maßstab zu verstehen).

Ergebnis dieser Beobachtungsphasen sind elegante, an das Abstrakte grenzende Zeichnungen oder Gemälde, deren fragmentarische Muster an Landschaftsstrukturen oder Verhaltensweisen und Lebensinstinkte der beobachteten Arten erinnern. Diese Arbeit „an Mustern“ und die Praxis des Beobachtens „nach der Natur“ verweist auf die Erkundungen der Naturforscher im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, die wie Alexander von Humboldt oder Charles Darwin auf ihren Expeditionen rund um die Welt zahlreiche Beobachtungen zu Fauna und Flora, zu Tier- und Pflanzenarten und zur Geografie anhäuften. Von ihren Reisen brachten sie Herbarien und Illustrationen zurück, die von der weiten Welt zeugten, die sie erforschten.

Im Jahr 2016 begann Irene Kopelman in Zusammenarbeit mit dem Königlichen Niederländischen Institut für Meeresforschung (NIOZ) über die Farbe des natürlichen Wassers zu forschen. Bei diesem Projekt begegnete sie zum ersten Mal marinen Mikroorganismen, in diesem Fall in Form von Plankton. Nachdem sie bereits Gletscher, Treibeis und tropische Wälder erforscht hatte, barg das Meeresuniversum und die Frage nach dem Größenverhältnis zwischen dem Ökosystem und den Mikroorganismen, die es beherbergt, ein Versprechen für neue kreative Prozesse.

Erpicht darauf, die Beobachtung der winzigen Meereslebewesen fortzusetzen, fand sie im Herbst 2017 in Südfrankreich einen günstigen Rahmen für eine neue Recherche. Zu einer Einzelausstellung im MAMAC (Museum für moderne und zeitgenössische Kunst, Nizza) eingeladen, wurde sie – mit der Aussicht, ihre Forschung auf das fruchtbare Gebiet der Meeresforschung und des einzigartigen Ökosystems des Mittelmeers auszudehnen – mit Stefano Tiozzo, dem Forschungsdirektor des Labors für Entwicklungsbiologie in Villefranche-sur-mer (LBDV), bekannt gemacht. Dieser ersten Begegnung folgte bald ein Treffen mit Eric Röttinger, Forschungsdirektor am IRCAN (Institut für Krebs- und Alternsforschung in Nizza). Mit Unterstützung der Université Côte d’Azur und des Museums gaben die beiden Wissenschaftler den entscheidenden Anstoß für das nun folgende Abenteuer an der Schnittstelle zwischen wissenschaftlicher Forschung und künstlerischem Experiment.

Während ihres ersten Aufenthalts im Labor im Winter 2019 konnte sich die Künstlerin mit den jeweiligen Forschungsthemen der beiden Teams, ihren Berührungspunkten sowie den Forschungsprotokollen vertraut machen, die den wirbellosen Meeresbewohnern gelten. Diese erste Beobachtungsrunde, die ohne die Neugier der Forschungsleiter und ihre Offenheit für mögliche Reibungen mit anderen Disziplinen nicht möglich gewesen wäre, hat das Vertrauen in den Ansatz von Irene Kopelman gestärkt, zeigte sie doch ihrerseits Verständnis für die Zeit- und Ressourcenproblematik einer langfristigen Zusammenarbeit. Zudem wurde deutlich, welchen Beitrag ihre außerhalb des wissenschaftlichen Kanons stattfindenden Beobachtungen leisten können und welche Möglichkeiten sich für die Forscher bieten, durch einen den Kern ihres Fachwissens betreffenden Perspektivwechsel ergänzende Erkenntnisse zu gewinnen. Damit erhärtete sich die Relevanz auch dieses Gastprojekts, an dem die Künstlerin von Anfang 2020 bis zum Sommer 2021 arbeitete.

Die Laboratorien in Nizza und Villefranche öffneten ihr daraufhin die Tür zu einem Thema, das von Künstlern nur selten behandelt wird: die kleinen wirbellosen Meerestiere aus der Familie der Nesseltiere (Korallen, Seeanemonen, Quallen) im Labor von Eric Röttinger und die Ascidien oder Seescheiden im Labor von Stefano Tiozzo. Irene Kopelman hat sich für die Untersuchung von Nematostella und Botryllus entschieden. Letztere bilden aus Klonen bestehende Kolonien mit floralen Formen. Der Forschungsschwerpunkt der beiden Laboratorien liegt auf der Regenerationsfähigkeit dieser beiden Lebensformen sowie auf der Untersuchung jener Faktoren, die ihre Langlebigkeit begünstigen und vielleicht künftig für medizinische Anwendungen relevant werden.

Die Künstlerin nahm über Monate an Fachsitzungen mit Wissenschaftlern teil, tauschte sich mit ihnen aus, stellte Fragen, beobachtete, erweiterte ihr Wissen und versuchte, sich in die Perspektive ihres Studienfachs zu versetzen. Ihre Methode: „Schauen, notieren, denken, zeichnen.“ Begleitet von den Wissenschaftlern lernte sie auch, wie man die Tiere beobachtet, ohne sie zu stressen oder ihnen Schmerzen zuzufügen, und definierte die Protokolle zum Studium ihrer Farbvariationen, Bewegungen und Wachstumsphasen.

Teil ihres Aneignungsprozesses ist seit Jahren das Zeichnen, ein Akt, mit dem sie erst beginnt, nachdem sie sich mit den Merkmalen der Lebensformen vertraut gemacht hat. Die Wahl der Technik steht in engem Zusammenhang mit dem, was sie nicht nur intellektuell, sondern auch intuitiv wahrnimmt. Die ersten sublimen und ätherischen Aquarellversuche nahmen sich der diaphanen Natur dieser Meeresorganismen an, ihrer Transparenz und Leichtigkeit. Die so entstandenen zahllosen Blätter mit Farbversuchen legen offen, welche subtilen farblichen Entwicklungen diese Meeresbewohner in ihren verschiedenen Lebensstadien durchlaufen. Doch schon bald ging die Künstlerin dazu über, einen Bleistift zu verwenden, der schneller und besser in der Lage ist, die schnellen Metamorphosezyklen der marinen Lebewesen zu erfassen. Eine der Herausforderungen besteht darin, die Zeichnung „auszuführen“, wie sie sagt, diesen Evolutionsprozess und seine aufeinanderfolgenden Stadien zu begleiten und zu übersetzen. Die während des Aufenthalts geschriebenen Notizen der Künstlerin zeichnen eine zunehmende Empathie mit Nematostella nach:

„12. Februar
Neue Worte, eine Anatomie, die ich nicht verstehe, die logische Hypothese, dass ich mehr zu verstehen glaube, als ich wahrscheinlich verstehe. Ich bin im Labor gerne gesehen, und man erklärt mir mit den besten Absichten Zigmillionen Dinge, ich versuche mitzuhalten, versuche mich zu entspannen, wie die kleinen Organismen. Ich beobachte die Atmung der Organismen; ich versuche, in ihren Rhythmus zu kommen, und atme sogar mit ihnen.
(…)
Meine neuen Forschungsobjekte … sehr zart. Voller Transparenzen, zartes Rosa, ein ins Orange gehendes Rosa. Worte sind zu mächtig, um sie zu beschreiben, sie sind so zart. Wenn ich sie heute zeichnen würde, dann nur auf Transparenzfolien.

28. Februar
Ich bin von der Zartheit der Organismen fasziniert – die Farben sind zart, auch die Bewegung. Sie haben nichts Heftiges an sich, weder die Farbe noch die Materialität oder die Bewegungen.
(…)
Die Bewegung der Tiere provoziert eine lockere Linie –
danach habe ich lange gesucht.“

Die Künstlerin legt großen Wert auf ihre Methode und erklärt: „Ich glaube fest daran, dass die Zeichnung ein Instrument ist, um zu Einsicht und Wissen zu gelangen, eine Möglichkeit, eine bestimmte Art des Denkens zu aktivieren.“
 
Auf die Frage nach den Auswirkungen dieser künstlerischen Präsenz in ihren Labors betonen beide Wissenschaftler die Relevanz der von Irene Kopelman gemachten Beobachtungen, gingen diese doch über die Parameter der Forschung hinaus. „Irene betrachtet und beachtet morphologische Details und Farbentwicklungen, die nicht Teil unseres Protokolls sind, aus denen wir aber Lehren ziehen oder Verhaltensmerkmale eruieren, die neue phänotypische Marker bieten könnten“, erklärt Stefano Tiozzo, während Eric Röttinger hinzufügt: „Leider versucht die moderne Wissenschaft oft, sich auf die komplizierten und technisch ausgefallenen Dinge zu konzentrieren, anstatt sich die Zeit zu nehmen, die Forschungsmodelle richtig zu beobachten. Wenn wir also Irene im Labor haben, die unser Forschungsmodell und die biologische Frage, die wir stellen, auf der Grundlage von Beobachtungen und unvoreingenommen bewertet, kann das zu sehr unerwarteten und von uns vielleicht übersehenen Beobachtungen führen.“

Im Juni 2021 haben alle an dem Projekt Beteiligten eine einzigartige Gelegenheit geschaffen, über ihre Fachgebiete hinauszugehen und ihr Wissen miteinander zu verbinden. Gemeinsam mit der Künstlerin und mit Unterstützung der Labore organisierte das MAMAC eine zweiwöchige „Workstation“. Der als künstlerische Installation und Experiment konzipierte „Arbeitsplatz“ wurde in einem der Ausstellungsräume eingerichtet und zeigte historische Bücher über Meeresmodelle aus der Bibliothek des Labors in Villefranche, Aquarien, Linsen, Mikroskope, Projektionen von Nematostella und Botryllus, aber auch Werke der Künstlerin. Dank der im Eingangsbereich der Galerie ausgestellten Bücher schlägt diese einzigartige Installation eine Brücke zwischen den wissenschaftlichen Beobachtungen der Naturforscher des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts und den Forschungsmethoden der heutigen Zeit; sie verbindet die damaligen unglaublichen zeichnerischen Fertigkeiten und Techniken zur Darstellung der natürlichen Welt mit der künstlerischen Praxis von heute. Ein langer in der Mitte aufgestellter Arbeitstisch, auf dem alle wissenschaftlichen Materialien versammelt waren, und die lebenden Organismen, deren Bild sich live über die Wand erstreckte, verlieh den Museumsräumen eine deutliche Referenz auf die Welt des Labors. An den Wänden waren große Plakate aufgehängt, die mit Bildern aus den Laboratorien die monatlichen Forschungen und „Fortschritte“ der Künstlerin darstellten. Nicht weit davon befand sich ein intimerer Raum mit Zeichnungen, Notizen und Farbproben. Die Besucher konnten nach Belieben von einem Raum zum anderen gehen und so verschiedene Ebenen der Erfahrung, des Wissens und der Darstellung ein und desselben Themas durchlaufen. Zwei Wochen lang bot die Workstation einen Raum, der einem großen Publikum offenstand und es in die wissenschaftlichen und künstlerischen Prozesse, die normalerweise unsichtbar bleiben, eintauchen ließ. Tägliche Treffen mit den Wissenschaftlern, Workshops (Zeichnen, Arbeiten mit Ton usw.) wurden angeboten, um diese einzigartige Erfahrung an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft für ein Publikum unterschiedlichen Alters und Hintergrunds zu ermöglichen. Man konnte an den Beobachtungen teilnehmen, sich mit den Wissenschaftlern austauschen und die faszinierende Regenerationsfähigkeit dieser winzigen, in ihren Ökosystemen lebenden Tiere entdecken. In informellen Gesprächen bekamen die Besucher Zugang zu den Forschungsprotokollen und -prozessen, konnten sich aber auch mit Irene Kopelman über ihre Anliegen und Schwerpunkte austauschen. Die Workstation, die weder Ausstellung noch Performance oder wissenschaftliches Ereignis war, kreierte einen zeitlichen Rahmen, in dem sich alle Fragen, die bei einer solchen Zusammenarbeit aufgeworfen werden, verkörpert und kristallisiert fanden. Das Museumsteam musste sich mit lebenden Organismen auseinandersetzen und sich um sie kümmern, die wissenschaftlichen Teams entdeckten den Begriff der Präsentation und der ästhetischen Intentionen, die wir durch diese „Laboranmutung“ vermitteln wollten, usw.
Die Workshops boten Besuchern das Privileg, die Unterschiede in den Beobachtungen, Erwartungen und Fragen hautnah mitzubekommen, Unterschiede, die sich, je nachdem, ob man die Dinge aus einer wissenschaftlichen oder künstlerischen Perspektive betrachtet, auftun, und mitzuerleben, wie diese beiden Bereiche sich gegenseitig befruchten können. Zusammen mit der Künstlerin konnten sie sich auf ein „Learning by Doing“ einlassen und aus ihren direkten Beobachtungen eine eigene Darstellung der Lebewesen ausprobieren. In dem Raum war eine große Wand den Zeichnungen der Teilnehmer oder ihren Tonarbeiten gewidmet, die sich Tag für Tag immer weiter füllte und damit die gemeinschaftliche Beteiligung an diesem Abenteuer verdeutlichte.

In den ersten Monaten des Aufenthalts von Irene Kopelman kam in den Wissenschaftlern der Wunsch auf, ihr Forschungsgebiet über die wissenschaftliche Welt hinaus bekannt zu machen und die Gelegenheit zu ergreifen, die eine solche Verbindung mit der Welt der Kultur bietet. Wahrscheinlich hatten sie nicht damit gerechnet, dass ein solches Experiment so weit gehen würde, dass ein Teil ihrer Labormaterialien sowie ihre Teams in einen Museumsraum verlegt würden, wo sie zwei Wochen lang buchstäblich im ständigen Dialog mit wissenschaftlichen Laien lebten. Sie erwiesen sich als unglaublich großzügig und offen; sie gewährten Einblick in die Kernfragen ihrer Arbeit und scheuten sich nicht, ihre Motivation, nämlich sich auf die Befruchtung und Hybridisierung zwischen zwei Bereichen einzulassen, in Worte zu fassen.

Und nicht zuletzt gestattete es die „Workstation“ Irene Kopelman, ihr Experiment und ihre Methode nicht nur mit einem großen Publikum zu teilen, sondern auch ihre langwierige persönliche Auseinandersetzung mit den genannten Meeresbewohnern zu öffnen und mit den je eigenen Wahrnehmungen der Teilnehmer zu konfrontieren.
Mittlerweile ist die Künstlerin zurück in ihrem Atelier in Amsterdam. Dort wird sie ihre Forschungen und Versuche auf Grundlage der über ein Jahr lang gesammelten Notizen, Beobachtungen, Farbtests, Gedanken und Skizzen weiterführen. Form und Materialität der Werke von Irene Kopelman resultieren stets aus einer engen Verbindung zwischen dem ureigenen Wesen des beobachteten Ökosystems – oder der Lebensform –, seinen typischen Merkmalen, und der Möglichkeit, in der sich diese Einzigartigkeit in einem Bild, einem Prozess vermitteln lässt. Neben der ursprünglichen Serie von Zeichnungen zieht sie auch andere Medien in Betracht, um dem Verhalten oder der grundlegenden Natur von Nematostella und Botryllus Form und Gestalt zu geben. Im Atelier der Künstlerin entstehen subtile, mittelgroße Gemälde, die mit den floralen und visuellen Qualitäten von Botryllus spielen, sowie Glasarbeiten, die auf die Transparenz von Nematostella, die Geschwindigkeit ihrer Bewegungen und auf die Veränderungen bei Reizeinwirkung abzielen. Auch keramische Arbeiten werden wohl in den kommenden Monaten eine Rolle spielen.

Im September 2022 wird das Museum eine Ausstellung präsentieren, in der die Werke und Serien, die Irene Kopelman während ihres Forschungsaufenthalts geschaffen hat, gezeigt werden. Damit wird ein einzigartiges, grenzüberschreitendes Abenteuer, das sich dank des Engagements aller Partner Monat für Monat weiterentwickelt hat, Gestalt annehmen und sichtbar werden, ein Abenteuer, das, durch die Einführung jeweils anderer Denkmuster, den Forschungsprozess und unsere Wahrnehmungen neu beleben wird.

Das Projekt wird einem breiten Publikum wichtige Organismen in der Kette des Lebens und der Evolution nahebringen und eine Meereswelt beleuchten, in der sich die heutigen ökologischen und eine intakte Umwelt bedrohenden Probleme spiegeln.

(Übersetzung aus dem Englischen: Dirk Höfer)

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.