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Fließtext*
Von Terézia Mora

Ein leeres Gebäude, von oben bis unten mit dunkellila Teppichboden ausgelegt. Schwarze Tapeten mit dunkelgrauen Ornamenten, leichter Silberglanz. Es stinkt zum Gotterbarmen. Entweder ist der Teppichboden so neu oder die unbekannten Erbauer und ihre unsichtbaren Helfer arbeiten regelmäßig mit großen Mengen Desinfektionsmittel. Weil ich auf sechs Etagen vollkommen allein zu sein scheine, trage ich keine Maske. Der Fahrstuhl bleibt nicht stecken, das ist gut, aber außerhalb des Fahrstuhls ist so wenig Licht, dass ich mich jedes Mal vertippe, wenn ich den Code eingeben soll, um eine weitere Tür zu passieren. Zum Glück ist das System geduldig, es lässt mich so lange abschätzen und ausprobieren, bis ich endlich die 0 statt der 8 treffe. Natürlich setze ich alles daran, es nicht öfter als dreimal versuchen zu müssen. Vornübergebeugt, wie ich dennoch seit langen Minuten dastehe, wäre ich leichte Beute für jedermann, der mich niederschlagen oder -stechen wollte. Man würde mich erst in einigen Tagen finden, wenn überhaupt. Vielleicht ist dieses Gebäude nur für uns zwei errichtet worden: meinen Mörder und mich, damit jeder von uns die Rolle spielen kann, die er zu spielen bestimmt ist. Solche Sachen stelle ich mir oft vor. Manche Orte sind so, dass sie wie Schleusen zu anderen Welten wirken. Die andere Seite des Spiegels, Bilder, in die man eintreten kann, Computerspiele, Dioramen, deren Teil man auf ewig wird. So ewig, wie man an winzigen, dunklen Nummerncodeoberflächen nach der richtigen Kombination sucht. Dies an nacheinander drei Türen. Dann kommt eine Brandschutztür ohne Code, danach wieder eine mit, dahinter befindet sich nur noch der Raum, den man mir zugewiesen hat, und noch einer. Es stinkt zum Gotterbarmen nach Knoblauch. Der Gestank kommt nicht aus meinem Raum, also kommt er aus dem anderen. Ich stelle mir dort einen indischen Mann vor, etwas kleiner als ich selbst, mit großen Augen. Das wird nie verifiziert, ich bekomme ihn nie zu Gesicht. Der Knoblauchgeruch hält sich zwei Tage, danach dominiert wieder der Teppich oder die Desinfektion. Der erste Mensch, den ich im Inneren des Gebäudes sehe, ist eine nicht unsichtbare Helferin zwei Tage später, die nicht schnell genug im Lift verschwinden konnte. Den Tag darauf sind es zwei Männer, die sämtliche Rauchmelder im Flur abmontieren. Sie beeilen sich nicht. Keiner spricht. Mein Code funktioniert durchaus nicht überall, zum Beispiel komme ich mit ihm nicht in den Keller, und auch nicht aufs Dach, aber dann doch, denn plötzlich geht die Tür von innen auf, das heißt, von außen, von der Dachseite, denn wie sich herausstellt, kann man durch die Glastür nicht hinaus-, aber hereinschauen. Es ist ein Mädchen im Bikini, das mich hinauslässt. Mein Code funktioniert nicht, sage ich. Unserer auch nicht, sagt sie. Und dennoch seid ihr draußen, denke ich, aber das sage ich nicht mehr. Es ist unerträglich heiß und hell auf dem Dach, gut zwanzig Grad wärmer als drinnen, aber die sieben Personen, die sich inklusive des Mädchens im Bikini auf dem Dach befinden und in zwei Gruppen (vier bzw. drei) Karten spielen, lassen sich nicht stören. Zwischen ihnen ist ein kleiner, flacher Pool. Das Wasser blendet, niemand ist drin. Ich gehe wieder ins Gebäude. Eine Stunde, bevor mein Code abläuft und ich das Gebäude verlasse, wechsle ich zum ersten Mal mehrere vollständige Sätze mit jemandem. Es ist ein Mann, der vor der Eingangstür steht und nicht hineinkommt. Ich frage ihn, ob er keinen Code bekommen habe. Er sagt, bis jetzt noch nicht, und eigentümlicherweise hat sein Telefon hier keinen Empfang. Ich bleibe in der Tür stehen, um sie für ihn offen zu halten. Wir schauen uns an. Wir sind uns nicht sicher, ob wir das tun dürfen. Darf ich ihn hineinlassen, darf er eintreten, wo er doch keinen Code hat? Aber das Mädchen im Bikini hat mich doch auch hinausgelassen! Aber was tut der Mann, wenn er drinnen ist, was tut er bei der nächsten Tür? Muss er vielleicht zeit seines Lebens im Erdgeschoss verbleiben? Oder zumindest so lange, bis er den Nächsten trifft, der ihn durch die nächste Schleuse lässt? Ich könnte ihm natürlich gleich meinen Code geben, damit käme er noch bis in mein Zimmer, allerdings nur noch einmal. Ich gebe ihm den Code nicht. Ich lasse die Tür los und trete auf die Straße. Als ich mich umdrehe, steht der Mann nicht mehr vor der Tür.

— * Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u.  Ä. gesetzt wird.
— Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.

 

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