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„Der Clown, der Clown war immer lustig anzuschau’n“

Autor und Theaterkritiker Simon Strauß über eine Begegnung mit einem traurigen Akrobaten, geschlossene Bühnen, offene Fenster und den „Live-Moment des lebendigen Schauens“.

Ein windiger Nachmittag im Nordosten Brandenburgs. Vor dem örtlichen Shoppingcenter stehen die Menschen für die Einkaufswagen Schlange. Es ist noch Anfang des Monats – das spielt jetzt wieder eine Rolle, denn da ist wieder Geld auf dem Konto und die Angst vor der Zukunft noch nicht so groß. In den Augen der Wartenden spiegelt sich eine Mischung aus gespannter Erwartung und peinlicher Berührung: Weil das Geschehen nirgends sonst mehr einen Raum hat, wird selbst der Einkauf zum Erlebnis. Zumindest zur Abwechslung von der herzenslähmenden Wiederkehr des ewig Gleichen. Gegenüber in einem Imbiss-Trailer drehen sich die Brathähnchen am Spieß. Daneben, gleich hinter dem Standaschenbecher, hält ein junger Mann in glänzender Dompteursjacke ein Schild in den Händen mit der Aufschrift: „Bitte um Hilfe – unser Zirkus stirbt“. Die meisten Einkäufer hasten achtlos an ihm vorbei, nur hin und wieder steckt ihm jemand den Trolley-Euro in seinen Becher. Der junge Mann steht still da und lächelt, verbeugt sich vor jedem, der ihn beachtet. Er ist das Betteln nicht gewohnt, das merkt man, umso erleichterter ist er, angesprochen zu werden. Wenn er redet, dann untermalt er die Worte mit seinen kräftigen Händen, als würde er sie, die ihm zu schnell von den Lippen springen, im Nachhinein noch zurechtformen wollen. Seit über einem Jahr ist sein Zirkus jetzt zu, nicht einmal Ponyreiten und Tierschauen sind erlaubt. Das Zelt, die Manege, die Trapezstangen – alles leer, alles unberührt, als wäre ein Bann auf sie gelegt, ein Fluch gesprochen, der ihr Dasein als sündhaft verdammt. So wie zu Zeiten von Elizabeth I., als die Puritaner in den Zirkussen „Stätten von Zügellosigkeit“ sahen und ihnen die Schuld dafür gaben, dass als „Strafe Gottes“ immer wieder die Pest ausbrach. Wenn in einer Woche mehr als 30 Londoner an der Pest starben, mussten zur Strafe alle Vorführungsstätten schließen – allein zwischen den Jahren 1603 und 1613 blieben die Zirkusse und Theater im Durchschnitt sieben Monate pro Jahr geschlossen … Der durch die Jahrhunderte reichende Schmerz dar-
über, dem System nicht zu genügen, im Grunde überflüssig zu sein und der Allgemeinheit im entscheidenden Moment nichts zu bedeuten, keine Fürsprecher, sondern im besten Falle nur rührselige Kurzliebhaber zu haben, die sich einen Nachmittag lang von ihm an alte Zeiten erinnern lassen, steht dem jungen Akrobaten ins Gesicht geschrieben. Die Traurigkeit, die ihn umgibt, ist keine hergelaufene. Sie kommt von tiefer her, hat lange überdauert und sich in eine Aura von Verlust und letztem Abend gehüllt. Der alte Heinz Rühmann hat ihr einmal eindrücklich sein Gesicht gegeben, in der 1975, ursprünglich für eine TV-Wohltätigkeitsgala produzierten Liedparabel „Der Clown“. Da steht der in die Jahre gekommene Volksschauspieler mit Hut, Fliege und Frack allein in einer nur noch schwach beleuchteten Manege und gibt ein letztes Mal den traurigen Clown. Von irgendwoher erklingt leise Musik, hinten sind zur Zierde blaue Vorhänge aufgebunden, durch die lange schon kein Windzug mehr gefahren ist, darüber zwei kleine Lichterketten und links oben das sanft schimmernde Logo des Senders: ZDF. Und Rühmann, der wegen seines Einvernehmens mit den Nationalsozialisten nach dem Krieg bei vielen an Achtung verloren hatte, trägt mit leiser, immer wieder nach Fassung ringender Stimme von einem Schicksal vor, das er als Sinnbild für sein eigenes begreift: Der Clown, der immer lustig anzuschauen war, aber niemanden in sein Herz hineinschauen ließ, der schnell die große Karriere machte, aber darüber immer einsamer wurde, der von Glitzer und Applaus lebte, bis das Alter kam und ihn in seinem Trikot frieren ließ. Bis zum Schluss steht Rühmann still da, hebt nur hier und da leicht die Arme oder nickt ein klein wenig mit dem Kopf, als ob er der von ihm als Schauspieler vorgetragenen Geschichte auch persönlich, als Mensch, zustimmen möchte. Dann kommt das Finale: Die Kamera fährt langsam an Rühmann heran, bis sie ganz nah an seinem Gesicht ist und er die letzten Zeilen aufsagt: „Hinter ihm liegt nun ein langes Leben / Bald wird sie verstummt sein, die Zirkusmelodie / Er hat Millionen das Lachen gegeben / aber selber gelacht hat er nie / Der Clown, der Clown war immer lustig anzuschau’n /
doch keinen ließ der Clown, der Clown in sein Herz hineinschau’n“.
Und bei diesem letzten „hineinschau’n“ scheint Rühmann die Stimme zu versagen, scheinen ihm die Lippen zu beben und die Tränen zu kommen – aber bevor das zum Bild wird, wendet die Kamera sich pietätvoll ab und hüllt das Gesicht des verletzten Spielers in ein erlösendes Schwarz. „Bald wird sie verstummt sein, die Zirkusmelodie“ – so würde der junge Akrobat vor dem Einkaufscenter das natürlich nicht ausdrücken. Aber dass es bald mit seinem Zirkus zu Ende gehen könnte, das sagt er schon. Anders als Kunstschaffende hätten Zirkusleute nämlich kein Anrecht auf Unterstützung vom Staat. Nur von Sozialhilfe aber könne ein kleiner Familienzirkus wie seiner nicht überleben. Die großen, Roncalli und Krone, die vielleicht, die hätten Rücklagen und Beziehungen zur Politik, aber bei ihnen im Schlafwagen werde inzwischen jeder Euro umgedreht. Die Tiere müssten schließlich gefüttert und der Fuhrpark unterhalten werden. Er und seine zwölfköpfige Zirkusfamilie sind auf einem ehemaligen Sportplatz in der Nähe der Stadt gestrandet. Weihnachten ist die Spendenbereitschaft immer groß, da kommen die Menschen aus der Umgebung und bringen Heuballen und Hafer für die Tiere. Eine Schulklasse aus der benachbarten Grundschule sammelte Flaschen und spendete den Erlös von fünfzig Euro. Aber schon Ostern kommt keiner mehr. Da müssen sie sich die Flaschen selber zusammensuchen und in der Stadt betteln gehen, um für sich und die Tiere das Nötigste zu besorgen. Wie es weitergehen soll, weiß keiner. Der junge Akrobat spricht, als ob er das Sprechen nicht für seine wichtigste Ausdrucksform hielte. Nachlässig und abrupt reiht er die Worte aneinander, ohne sich Mühe um eine Melodie zu geben. Sein kraftvoller Körper aber zuckt bei jedem Wort, wie um seiner Enttäuschung darüber Ausdruck zu verleihen, immer noch nicht zum Zug kommen zu dürfen, sich bis auf weiteres von der Sprache vertreten lassen zu müssen und nichts als beiläufige Selbstverständlichkeit zu sein. Denn das – „selbstverständlich“ – war er nie, damit hat er keine Erfahrung. Wenn der muskulöse Körper des jungen Akrobaten sich hoch oben im Zirkuszelt ungesichert von Stange zu Stange hangelte, dann spürte er die staunenden Blicke auf sich, dann folgten selbst die leidenschaftslosesten unter seinen Beobachtern atemlos jeder seiner Bewegungen. Ließen sich bewegen von seinem Mut, seiner Tatkraft. Sie waren dabei, saßen nur ein paar Meter entfernt, konnten sein Keuchen hören, seine angespannten Muskeln sehen, in den vordersten Reihen sogar seine Schweißtropfen spüren. Das war „live“, nicht voraufgezeichnet, nicht trickreich zusammengeschnitten, sondern es geschah im Hier und Jetzt, vor Ort, an der nämlichen Stelle. Wenn er gestürzt wäre, krachend durch die Sicherheitsnetze gefallen, dann hätten das alle mitangesehen, dann wären alle Zeuge gewesen seines Übermuts. Es gibt einen Unterschied zwischen dem distanzierten Anteilnehmen an Schicksalen, die über flimmernde Bildschirme nach unserem Mitgefühl fragen, und jenem unmittelbaren Ergriffenwerden durch eine Handlung, durch ein Spiel, das vor unser aller Augen, nur wenige Meter entfernt von uns geschieht. Die Bühne ist deshalb so ein Zauberort, weil sie ihre Spieler nur durch die kleine absetzende Erhöhung von der Gegenwart des Alltags trennt. Wenn aber ein Feueralarm losbricht oder jemand im Publikum einen Herzinfarkt bekommt, dann vereinigen sich die beiden Welten augenblicklich wieder miteinander. Dann löst sich die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in Gemeinsamkeit auf.
Bühnen sind wie Fenster in eine andere Welt. Sie leben nur, wenn lebendige Augen auf sie schauen. Überhaupt: Fenster – das sind die wichtigsten Stützen einer Gesellschaft. Es gibt Orte, da fallen die Rollos schon am frühen Nachmittag: Punkt 16 Uhr rasselt das schwere Metall fallbeilartig herunter aufs Fensterbrett. Und dann flackert bis spät in die Nacht das blau-grüne Bildschirmlicht durch die winzigen Schlitze zwischen den Rollladenstäben. Den Blicken der Anderen entzogen, schaut man in verknautschter „Privatsphäre“ lieber weit von sich weg anstatt nah vor sich hin. Heizkosten soll das Fensterverrammeln angeblich sparen, dass die Stromrechnung steigt, vergisst man dabei. Die Fenster verdecken, das bedeutet mehr, als auf Belichtung und Luftzug zu verzichten und in der eigenen Gemütlichkeit zu ersticken, mehr, als eine Häuserfassade zu entstellen. Es ist ein gewaltsamer Akt, eine rüde, abrupte Handlung, ohne Erbarmen, ohne Vorsicht. Räume, ganze Welten, die eben noch frei ineinanderströmten, werden voneinander getrennt. Fenster sind visuelle Nabelschnüre, wer sie verdunkelt, zuhängt, abschottet, wird traurig werden.
Nachts, wenn die Straßen leer sind und die Baustellenschilder einsam vor sich hin blinken, wenn einem die Gedanken verloren gehen und die Zeit zermürbend lang wird, wenn man nicht schlafen kann und Filmszenen nachspielend durch die dunkle Stadt läuft – dann ist ein hell erleuchtetes Fenster, auch im 18. Stock einer heruntergekommenen Platte, manchmal tröstender, beruhigender als das Telefonat mit der Freundin, dem Freund. Dunkle Fenster sind wie tote Augen, aber wenn sie leuchten, leben, dann sprechen sie großen Mut zu: Es gibt ja noch jemanden, der auch wach ist, der nicht schläft, der da oben in seinem Zimmer sitzt und liest, vielleicht vor sich hin denkt, auf etwas wartet, dem man zuwinken oder den man im schlimmsten Fall sogar ansprechen könnte. Dem Verzweifelten können Fenster Vertrauen stiften, Hoffnungsträger sein. Auch wenn einer nur vergessen hat das Licht auszumachen.
Und erst aus dem Fenster zu schauen! Einfach so, nur aus dem Fenster gucken, ohne Plan und Ziel, jenseits der Wettervorhersage, den Blick ungezügelt laufen lassen. Nichts sonst machen. Am Fenster sitzen und beobachten. Ein Türmer werden: „Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt“, die Luft anhalten, nicht auf die Uhr schauen, schon gar nicht aufs Telefon. Wie scharf dann der Sinn wird, wie ruhig die Gedanken. Eine Stunde lebendiges Fensterschauen ersetzt drei Yogakurse, fünf Stressbewältigungsseminare. Manche bewahrt es sogar vor der Midlifecrisis. Im Süden lehnen die alten Frauen von früh bis spät aus dem Fenster, sie verbringen ihre Tage damit, sich Blicke zuzuwerfen und manchmal auch Sätze oder Apfelsinen. Auf den Vorbeieilenden schauen sie amüsiert-hochmütig herab, was weiß der schon von Glück und Schicksal? Ihre Fenster sind ihnen Lebensmittel, durch sie atmen und fühlen sie Freiheit. Finestra aperta. Ein offenes Fenster bedeutet auch ein offenes Herz. Und wenn der Regen anfängt und der Sturm, dann werden Fenster zu Schießscharten, durch die man hinausschauen kann in das wilde Schlachtgeschehen. Dann wird das kleinste Kabuff zur sicheren Festung, der elendeste Trinker zum Reichsfürsten. Aber wer keins hat, wer ganz ohne Ausblick lebt, wird leiden. Wird bald heulend durch das Zimmer kriechen und die Wände anflehen, sich doch nur für einen kurzen Moment, nur einmal ein ganz klein wenig aufzutun. Fenster sind die Material gewordenen Abkömmlinge unserer Augen, ohne sie zu sein, bedeutet quälende Blindheit für immer.
Fenster sind Hoffnungsträger, Strukturgeber, Lebensmittel, Herzensöffner – verschließt, vergesst, verliert sie nicht! Wer aus dem Fenster schaut, findet sich selbst. Wer Oberflächen betrachtet, findet die Anderen. Nur wer einen freien Blickpunkt wählt, kann klare Gedanken fassen. Nur wer am Fenster sitzt, kann vor­ausschauende Entscheidungen treffen. Eine „offene Gesellschaft“ braucht offene Fenster, offene Fenstergucker – sonst geht sie zu Grunde. Jetzt, heute, in Zukunft, geht es wie nie darum, das lebendige Sehen neu zu lernen, sich nicht vom leblosen „Mehr“ der Bilder verführen zu lassen, sondern nach sicheren Aussichtspunkten zu suchen, von denen aus man das Geschehen überschauen, den Blick schärfen, die Einzelheiten ordnen kann. Der Live-Moment des lebendigen Schauens – ist unersetzbar.

Jetzt, hier, vor dem Brandenburger Einkaufscenter, leidet der Körper des jungen Akrobaten jedenfalls wie ein Hund an den leblosen, von Bildschirmen abgeflachten Blicken, die achtlos über ihn hinweggehen, als wäre er nur ein weiteres Element unter vielen. Als hätte er nicht Spektakuläres und Sensationelles zu bieten. „Wir sind wirklich für jeden Cent dankbar“, flüstert der junge Akrobat und hebt den Becher zur Erinnerung ein klein wenig nach oben. Während der Zwangspause hält er sich notdürftig auf einer ausrangierten Hantelbank hinter den Umkleidekabinen in Form. Wenn auch nur ein Zuschauer wieder in sein Zirkuszelt käme, würde er sofort zu turnen anfangen, würde die waghalsigsten Dinge machen und sich völlig verausgaben, damit man seinen Auftritt auch ja als großes Comeback werten könnte. Und dann, am Schluss seiner Nummer, würde er wieder ins Licht des Scheinwerferkegels treten, schwitzend, aber glücklich, und auch, wenn nur einer klatschte oder pfiff, wäre das ein erster Anfang, ein neuer Hoffnungsschimmer.
Wird es so kommen? Oder muss der junge Akrobat sein Zelt für immer abbrechen? Seinen Zirkus schließen, seine Zebras verkaufen und Bodyguard werden für irgendeinen eitlen Schlumpf? Da würden manche selbsterklärten Tierschützer wohl triumphieren. Jene, die den herzensbildenden, bewusstseinserweiternden Wert einer Zirkus-Vorführung nicht kennen, die nicht wissen, welche Bedeutung die wirkliche Begegnung mit dem Außergewöhnlichen, dem Nicht-Alltäglichen, dem Zauberhaften hat. Was es heißt, den Atem anzuhalten, den Blick gebannt zu bekommen, nichts als aufgeregtes Erstaunen zu spüren. „Und wer’s nie gekonnt, der stehle weinend sich aus diesem Bund!“ …
Einmal stand ein kleiner Junge an seinem Manegen-Rand. Noch während der Akrobatik-Nummer war er außer sich vor Erregung nach vorne gelaufen, dorthin, wo sich eigentlich nur die mit den teuren Platzkarten aufhalten durften, und hatte mit weit aufgerissenen Augen und über dem Kopf zusammengeschlagenen Händen den riskanten Luftsprüngen und Drehungen des jungen Akrobaten zugeschaut. Seine Eltern standen über ihre Handys gebeugt schon lange draußen beim Bratwurststand, aber er war hin und weg von den akrobatischen Mutproben. Und als nach dem Schlussapplaus schon alle Zuschauer das Zelt verlassen hatten, stand der kleine Junge immer noch da und schaute gebannt in die Höhe zu den schwankenden Trapezstangen. Er sei dann noch einmal hinausgetreten und habe ihm die Hand gereicht, erzählt der Akrobat stolz, und der kleine Junge habe ihn stotternd um ein Autogramm gebeten, als wäre er ein berühmter Fußballspieler. An ihn und seine glänzenden Augen denke er jetzt oft, wenn er nachts vor seinem Zelt säße und nach Auswegen suchte. Er ist doch ein Held. Ein mutiger Zauberer. Er kann doch nicht einfach so aufgeben …
Wenn die Zirkusse sterben, dann stirbt auch ein Leuchten in unseren Augen. Dann reflektieren sie bald nur noch die Lichter der Displays. Wer die Stätten der Gegenwelt, des Zaubertricks, der wirklichen Sensationen nicht braucht, der setzt Entscheidendes aufs Spiel. Der reißt etwas ein, das lange nicht wiederaufgebaut werden kann.
Der junge Akrobat steht immer noch vor dem Einkaufs­center. Still hält er sein Schild in die Höhe, verbeugt sich leicht, bittet um Hilfe.
Lauft nicht vorbei.

 

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