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Brenner-Gespräch (23): „Das Individuum fühlt sich heute ständig angesprochen.“

So viele Leute fahren über die Alpen. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause mit Gespräch. Folge 23: der Islamwissenschaftler und mit dem Buch „Die Vereindeutigung der Welt“ bekannt gewordene Autor Thomas Bauer im Gespräch mit dem Kulturjournalisten Bernhard Flieher – über eine Welt der Scheinvielfalt zwischen Gleichgültigkeit und Fundamentalismus, über Maschinenmenschen, Ich-Lösungen und warum sich Sinn nicht in Zahlen messen lässt.

Bernhard Flieher: Sie sagen, dass uns die Ambiguitätstoleranz abhandenkommt. Was fehlt uns denn da eigentlich?

Thomas Bauer: Es geht um die Fähigkeit, das Widersprüchliche, die Vielfalt, das Vage und Unvorhergesehene schätzen zu können.

B. F.: Ihre These, die Sie in Ihrem Buch beschreiben, lautet: Uns kommt diese Mehrdeutigkeit überall abhanden. Wie äußert sich das?

T. B.: Im Grunde sieht man diesen Verlust der Mehrdeutigkeit so gut wie überall. Im Alltag lässt es sich etwa daran ablesen, dass wir alles in Zahlen darstellen – und je exakter die sind, desto besser. Die Politik wird von der Demoskopie bestimmt, weil die schließlich Zahlen liefert – wenn auch nicht immer richtige. Beim Wert eines Kunstwerkes trauen wir uns gar kein ästhetisches Urteil mehr zu, weil schnell und gern gesagt wird: „Schönheit ist ja etwas ganz Subjektives“. Stattdessen bemessen wir den Wert danach, was ein Kunstwerk auf einer Auktion bringt. Auch der dramatische Abstieg der Bedeutung von Religion gehört zu diesem Phänomen.

B. F.: Inwiefern ist Mehrdeutigkeit in der Religion wichtig?

T. B.: Es wird gerne diskutiert, was die Kirchen alles falsch machen, warum immer mehr Leute austreten, und es spielt sicherlich auch eine Rolle, dass sich kirchliche Vertreter falsch verhalten haben. Es liegt aber auch daran, dass Religion unbedingt Mehrdeutigkeit, also Ambiguität braucht. Religion – das sind ja keine Hard Facts, man hat es mit Texten zu tun, die schwer verständlich und mehrdeutig sind, mit Dingen, die nicht eindimensional zu beweisen sind. Dem gegenüber steht ein moralischer Rigorismus – etwa wenn Theaterstücke oder Musik nicht mehr gespielt werden, weil ein Komponist oder ein Buchautor irgendwann einmal etwas falsch gemacht hat. Dieser Rigorismus stärkt die Ränder der Gesellschaft.

B. F.: Was passiert dann?

T. B.: Es entsteht einerseits Gleichgültigkeit, die sagt, dass alles egal ist, und andererseits Fundamentalismus, in dem nur mehr eine eindeutige Position gilt.

B. F.: Sie sind Islamwissenschaftler. Inwiefern brachte Sie denn der Islam zu Ihren Erkenntnissen?

T. B.: Das passierte aus einem einfachen Grund. Wenn man in einer Kultur, in einer Umwelt, in einer Gesellschaft lebt, die davon bestimmt ist, sich selber wahrzunehmen, ist es schwer abzuweichen. Sicher ist man auch frei, manches anders zu sehen als die anderen, aber vieles hält man einfach für normal. Das Problem mit der Ambiguitätsintoleranz ist mir erst aufgefallen, als ich einen Bezug zu meinen Beobachtungen der islamischen Geschichte suchte. Dort gab es nämlich über 1000 Jahre hinweg Ambiguität – man freute sich über Kunstwerke, die möglichst vieldeutig sind. Man freute sich über Koranauslegungen, die verschiedene Deutungen zulassen und nicht auf einer richtigen bestehen.

B. F.: Aber das begann sich dann zu ändern.

T. B.: Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts wollte man im Westen mitmischen. Und der Westen war wirtschaftlich und militärisch überlegen. Eine Lösung war: Wir werden wie der Westen. Die andere Lösung war: Wir müssen uns auf den einen wahren Islam zurückziehen, der dann eben ein fundamentalistischer wurde. An dieser Stelle wurde mir klar, dass dieser Verlust der Ambiguitätstoleranz, der die islamische Geschichte vielfach auszeichnete, ein Modernisierungsprozess war. Damit einher ging ein Perspektivenwechsel: Jetzt wurde geschaut, wie es in Europa war.

B. F.: Wie war es denn?

T. B.: In Europa gab es über viele Jahrhunderte keine Vielfalt in der Religion. Die Reformation erwies sich nicht als Beitrag zur Ambiguität. Man denke nur an Martin Luthers Satz „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“. Ab dem 18. Jahrhundert passiert dann ein Feldzug gegen die Ambiguität, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts endet in den ganzen großen Ideologien, in der Industrialisierung, Technologisierung und Bürokratisierung. Die haben uns bis heute nicht losgelassen und wollen alles in Zahlen und Daten rechenbar machen.

B. F.: Wovor fürchten wir uns denn, wenn wir uns vor der Vielfalt oder dem Vagen fürchten?

T. B.: Es ist wie bei vielen Gefühlen und Reaktionen, dass es gute und schlechte Zeiten dafür gibt. Nehmen wir die Liebe. In ihr erkennt der Kapitalismus etwas Schönes und Gutes. Das war nicht immer so. Wer sich richtig verliebt, ist ja eigentlich asozial und ganz fixiert auf die andere Person, das heißt: Das Leben in der Gemeinschaft leidet auch darunter. In der Jugend ist das okay, wenn man älter wird, soll man sich – so etwa war es eine Ansicht in der Antike – nicht mehr verlieben. Denn die Liebe braucht Energie. Und in der Ambiguität ist das ähnlich. Es gibt in uns diese Gefühle von Ambivalenz. Die Mehrdeutigkeit kann wunderbar beglückend sein. Sie ist aber immer auch mit Energie verbunden. Da gerät man leicht in einen Teufelskreis: Der Zwang, sich für etwas entscheiden zu müssen, ist aufwändig. Daher versucht man, die Mehrdeutigkeit tendenziell zu beseitigen. Früher war das anders. Man hatte mehr Zeit und Spaß daran. Die Beseitigung jeder Mehrdeutigkeit ist dann aber noch viel aufwändiger. Es führt dazu, dass immer neue Ambiguität, neues Unvorhergesehenes entsteht, und das möchte man dann ja wieder beseitigen.

B. F.: Andererseits leben wir aber doch mitten in einer unglaublichen Vielfalt. „Diversity“ ist ein großes Schlagwort.

T. B.: Wenn etwas wie „Diversity“ so betont wird, muss man besonders skeptisch sein. „Zukunft“ ist auch so ein Begriff. Alles ist jetzt „Zukunft“ und man liest, dass die Jugend ihrer Zukunft immer weniger traut.

B. F.: Also haben wir ein Problem, mit unserer Vielfalt zurechtzukommen?

T. B.: Freilich haben wir eine riesige Vielfalt an Konsumgütern und wir haben zugleich ein riesiges Potenzial. Auch wenn von 2000 Apfelsorten nur mehr ein paar im Geschäft landen, sind die 2000 Sorten ja immer noch da. Aber es ist doch recht fraglich, ob wir 30 Sorten Joghurt brauchen. Oder nehmen Sie die Vielfalt an Opern, da gibt es ein paar tausend, aber aufgeführt werden immer die gleichen. Heute gibt es etwa auch keine Kleidungsvorschriften mehr, jeder könnte anziehen, was er will – und doch tragen viele dann das Gleiche. Es gibt ein vielfältiges Potenzial, das aber auf Dauer austrocken wird, wenn wir es nicht nutzen.

B. F.: Gibt es diese „Vereindeutigung der Welt“, wie ihr Buch heißt, denn überall?

T. B.: Die Globalisierung hat auch eine Globalisierung der Ambiguitätsintoleranz zur Folge. Wir erleben keine Entwicklung, die sich zu einer größeren Offenheit dem Fremden gegenüber entwickelt.

B. F.: Wie ist das dann mit den Informationen, den News? Davon gibt es – und zwar blitzschnell und jederzeit – auch mehr denn je zuvor, was dazu zu führen scheint, dass jeder zu allem eine Meinung hat oder haben muss.

T. B.: Wie schon gesagt: Wenn man Ambiguität nicht will oder nicht mit ihr umgehen kann, gibt es zwei Möglichkeiten, ihr scheinbar zu entfliehen: Gleichgültigkeit, ein „Mir ist alles egal“, was nur eine Schein-
lösung ist – oder man wird Fundamentalist oder Extremist und hat dann eine einzige Antwort für alles. Und vor allem gibt es die Ich-Lösung.

B. F.: Was ist das?

T. B.: Menschen meinen, es gäbe so etwas wie ein „wahres Ich“. Und dieses Ich ist dann der große Schiedsrichter für eindeutige Lösungen. Das heißt, dass Identität und Authentizität, die im Moment so groß geschrieben werden, aus dieser Position alle Mehrdeutigkeiten und Unsicherheiten lösen können. Hinter einem Wunsch nach Authentizität steckt ja auch der Gedanke, dass ein wahres und eindeutiges Selbst in jedem steckt. Und dann muss man auch zu allem etwas sagen können. Daher hat man plötzlich zu allem eine Meinung, was ein Zeitalter der Rechthaberei hervorbringt.

B. F.: Sie schreiben auch über eine Art Wahrheitsobsession: „Viele Menschen, denen immer alles erklärt wird und denen eine Welt ohne Geheimnisse, ohne Unerklärbares und Überkomplexes vorgegaukelt wird, glauben schließlich selbst, alles zu verstehen.“ Und wenn in dieses angebliche Verstehen etwas nicht hineinpasst, bricht ein Shitstorm los.

T. B.: Ja, Medien fordern dazu ja auch auf. Ich mag an der gedruckten Zeitung, dass es da eben keine Kommentare zu den Artikeln gibt, in denen Menschen dauernd das Beste, aber auch Schlechtes von sich geben. Es ist ein Problem, dass sich das Individuum heute ständig angesprochen fühlt und sich dann als letzte Instanz fühlt, die in den Wirrungen der Welt das Sagen hat.

B. F.: Dann landen wir also alle in unseren kleinen Ich-Kästchen?

T. B.: Und die letzte Stufe ist dann der Maschinenmensch. Das Erstaunliche ist für mich, dass das für viele keine Bedrohung, sondern eine Utopie ist. Der Gedanke, das Gehirn mit einem Computer zu vernetzen und in einem Haus zu wohnen, in dem man sich nicht entscheiden muss, was man einkauft, weil einem alles eine künstliche Intelligenz abnimmt – das ist für mich die absolute Horrorvision. Ich bin ja auch verzweifelt, wenn ich einen neuen Computer bekomme.

B. F.: Weil Sie sich nicht auskennen?

T. B.: Nein, weil der immer schon Vorgaben hat, die ich gar nicht haben will. Die Umgebung wird immer mehr zu einer Autokorrektur, das erscheint niemandem als Schreckensvision, dass dann alle Ambiguitäten aufgehoben sind.

B. F.: Sie schreiben auch, dass „die Demokratie auf ein gewisses Maß“ an Ambiguität angewiesen ist. Was also, wenn diese Ambiguität aufgehoben wird?

T. B.: Es ist viel darüber gesprochen worden, dass die Demokratie in einer Krise, jedenfalls in einem Umbruch steckt, weil sich die milieuhaften Volksparteien weltweit in Auflösung befinden. Dazu kommt, dass nur mehr einzelne Ichs abstimmen, und sie tun es relativ willkürlich, weil sich die Stimmungen sehr schnell ändern. Das führt zu einer großen Unübersichtlichkeit. Das muss nichts Schlechtes sein, doch in einer Welt der Ambiguitätsintoleranz will man diese Willkürlichkeit ja nicht. Das wird uns große Probleme machen. Denn wir stehen vor großen Problemen, für die Corona nur ein kleines Vorspiel war. Nehmen wir die Klimaproblematik: Da bin ich mir nicht sicher, wie die bei dieser mentalen Haltung souverän und demokratisch bewältigt werden kann.

B. F.: In der österreichischen Politik gab es zuletzt eine Regierungskrise wegen gekaufter Meinungsumfragen und gekaufter Berichterstattung. Welche Rolle spielt denn das allem zugrundeliegende System des Kapitalismus bei der Abschaffung der Mehrdeutigkeit?

T. B.: Der Kapitalismus ist die große Vereindeutigungsmaschine, in der allem ein Wert zugemessen wird, der nur ein Marktwert ist. Wie viel also ist uns zum Beispiel der Wald wert? Er ist so viel wert, wie die Menschen bereit sind dafür zu bezahlen. Wenn die Menschen aber nicht mehr spazieren gehen, wenn der Erholungswert keine Rolle mehr spielt, weil das Gefühl für Natur verschwindet, dann sinkt dieser Wert. Dann bleibt nur mehr der Wert der Bäume, also das Holz. Beherrschender Gedanke ist, dass der Markt über den Wert von allem das letzte Urteil fällt. Das ist eine verlockende Idee, weil sie alles eindeutig macht. Es bedeutet aber auch, dass es vieles Schöne einfach nicht mehr gibt. Theater oder Oper oder Konzert rechnen sich nicht, wenn man es auf hohem Niveau haben will. Der Kapitalismus hätte sich nicht in diesem Maß durchsetzen können, wenn ihm nicht das Versprechen zugrunde läge, dass er alle Ambiguität auflöst, dass wir alles privatisieren und meinen, alles wird gut. Wir ahnen oder wissen mittlerweile, dass das bei der Bahn oder bei den Energieversorgern oder auch im Wohnbau nicht der Fall ist. Da ist im Moment aber keine Alternative in Sicht. Also werden wir noch eine ganze Weile mit der Dauerkrise des Kapitalismus zu tun haben.

B. F.: Wenn wir von Schönheit und ihrem Wert reden, fällt mir ein, dass der Regisseur Werner Herzog ein wunderbares Buch über seine abenteuerlichen Dreharbeiten mit Klaus Kinski in Südamerika „Eroberung des Nutzlosen“ nannte. Müssen wir das sogenannte Nutzlose wieder mehr in den Blickpunkt rücken?

T. B.: Ich nenne das „Ambiguitätstraining“. In der Zeit des klassischen Islam konnte man überhaupt nicht angesehen sein, wenn man nicht mehrdeutige, hochkomplexe Texte geschrieben hat. Das war sogar bei banalen behördlichen Schriftstücken so, die mit einem riesigen rhetorischen Aufwand gestaltet sind, obwohl man alles auch in zwei Zeilen sagen könnte. Aber dadurch erreicht man eine Kultivierung der Sprache, man erreicht Mehrdeutigkeit und Komplexität. So etwas müsste man heute schärfen. Es geht dabei eben nicht um etwas „Nutzloses“. Wir haben uns nur abgewöhnt, Schönheit, abgesehen von der konsumistischen „Beauty“, als Maßstab zu nehmen. Nehmen wir einen Bauantrag: Da gibt es Dutzende Gründe, warum der abgelehnt wird – aber nirgends steht der Grund, dass der Abtrag abgelehnt wird, weil der Bau hässlich ist.

B. F.: Gibt es denn dafür Maßstäbe?
T. B.: Freilich heißt es schnell: Das sei völlig subjektiv und jeder sähe das anders. Aber natürlich gibt es
Maßstäbe. Die Leute fahren halt nach Florenz und Salzburg auf Urlaub – und eben nicht nach Eisenhüttenstadt und Bochum. Es gibt ein Gefühl und einen Sinn dafür. Aber dieser Sinn lässt sich nicht in Zahlen messen.

B. F.: Da Sie gerade von Salzburg sprechen: Da gab es den Kulturhistoriker Hans Sedlmayr, der schon in den 1960er Jahren von „demolierter Schönheit“ und einem „Verlust der Mitte“ sprach.

T. B.: Die Mitte liegt genau zwischen den Polen „Gleichgültigkeit“ und „Fundamentalismus“. Sie entsteht, wenn man sich auf etwas einlässt – egal ob in Kultur, Politik, Religion und vielen Bereichen des Alltags – und es klar wird: Es gibt immer Argumente dafür und dagegen, aber wir richten uns in dieser Mitte ein.

B. F.: Aber diese Mitte erodiert – etwa in der Parteienlandschaft.

T. B.: Das stimmt und doch ist es die Mitte, in der eine funktionierende Demokratie besteht. Letzten Endes verabschiedet ein Parlament ja keine letztendgültigen Wahrheiten, sondern nur das, von dem man meint, dass es jetzt in diesem Moment das Beste sei. Auch in der Kunst ist das so. Leider werden dann oft außerkünstlerische Kriterien hergenommen, die objektiv zu sein scheinen – kommerzieller Erfolg etwa, moralische Reinheit oder ideologische Stimmigkeit. Und weil es ums Rechnen geht, konnte man dann bei Corona auch früher wieder Fußball spielen als in die Oper oder ins Konzert zu gehen.

B. F.: Vielleicht liegt das, wenn wir die Ambiguität nicht aushalten, daran, dass ein Fußballspiel immer ein Resultat hat?

T. B.: Ja, aber das ist auch so eine Sache. In den USA, wo es eine noch deutlichere Ambiguitätsintoleranz gibt als bei uns, mag man ja Sportarten, in denen es kein Unentschieden gibt, viel lieber als andere. Es wird gespielt, bis alles ganz eindeutig ist.

B. F.: Nun wird vermutet, dass sich Sedlmayr in seiner Theorie auf den französischen Philosophen Blaise Pascal beziehen könnte, der sagte: „Die Mitte verlassen, heißt die Menschlichkeit zu verlassen“. Sind wir schon dort?

T. B.: Wir sind entweder auf dem Weg in die Barbarei oder zum Maschinenmenschen.

B. F.: Wo gäbe es Ansätze, das zu verändern, einen neuen Weg zu finden?

T. B.: Die Schule bietet sicher einen Ansatzpunkt. Sie müsste Fächer wie Literatur, Musik und Kunst, die ja von der Mehrdeutigkeit leben, stärken und wichtiger machen – das ist freilich ein aussichtsloses Plädoyer. Stattdessen schaut man darauf, „was der Markt braucht“, und richtet danach schulische Schwerpunkte aus. Die Welt ist aber viel komplizierter, als dass wir sagen: „Wir brauchen Leute, die wir in Wirtschaftsfächern ausbilden.“ Das lässt sich durchaus schnell lernen, und manche Betriebe stellen lieber Leute ein, die etwas anderes können.

B. F.: Schließe ich daraus, dass es wichtig ist, Umwege zu gehen, weil der direkte Weg einengt und engstirnig macht?

T. B.: Ja, dieser Gedanke gerät aber mehr und mehr ins Hintertreffen. Auch die Grundlagenforschung hat es schwerer als jene Forschung, die unmittelbar anwendungsbereit ist. Ähnlich ist es mit einer Pädagogik, die mit dem verfehlten Slogan arbeitet, dass man Kinder und Jugendliche „bei sich abholen“ müsste. Eine Abholpädagogik. Dann lesen Zehnjährige immer nur Texte, die als für diese Altersgruppe geeignet betrachtet werden. Klassiker werden so gestutzt, dass man meint, die Zehnjährigen könnten sie verstehen.

B. F.: Unterschätzt man die Kinder und Jugendlichen damit also, traut man ihnen nicht genug zu?

T. B.: Es versteht niemand, dass gerade Kinder neugierig sind und oft von den Sachen besonders angesprochen werden, die sie eben nicht verstehen oder schlecht verstehen. Dann wollen sie etwas herausfinden, versuchen also etwas zu lernen. Das kollidiert mit unserem Notensystem, weil man immer Leistungsnachweise braucht. Kinder werden also überfordert und unterfordert gleichzeitig.

B. F.: Erinnern Sie sich noch an ein derartiges Erlebnis bei Ihnen selbst?

T. B.: Ich erinnere mich noch, als wir zum ersten Mal einen mittelhochdeutschen Text sahen, in einem Buch, das sicher nicht auf mein Alter zugeschnitten war. Ich war begeistert. Das weckte meine Neugier. Und wenn alles maschinenmäßig abgestimmt wird, begraben wir das Abenteuer des Entdeckens. Ein Abenteuer ist immer ambiguitätsmäßig, weil man nicht weiß, wo es enden wird.

B. F.: Nobelpreisträger Peter Handke spricht davon, dass seine Literatur auch entstehe, weil er sich „konsequent verirren“ möchte, und er sagt auch, er lebe „in Zwischenräumen“.

T. B.: Literatur und andere Künste sind in der Lage, dass sie Menschen aus ihrer Bequemlichkeit, aus ihren komfortablen Zonen holen und so in uneindeutige Situationen bringen. So werden Empfindungen und Eindrücke erweckt und es wird Raum für Interpretation geschaffen.

B. F.: Also könnte man sagen, eine Art Nichtverstehen weckt die Entdeckerlust und lässt die Lust am Abenteuer wachsen?

T. B.: Man lernt eines: Man kann die Welt nicht hundertprozentig verstehen. Es ist wohl gut, wenn man ein paar Sachen einigermaßen versteht. Wenn man aber erkennt, dass man die Welt nie zur Gänze verstehen kann, glaubt man auch nicht mehr, dass man zu jedem Thema eine Meinung haben muss.

 

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