zurück zur Startseite

Die Seele des Automaten

Conlon Nancarrow (1912–1997) war mit seinen ausgetüftelten Kompositionen für Selbstspielklaviere einer der großen Einzelgänger in der Musik des 20. Jahrhunderts. Im Zuge der zufälligen Entdeckung dieses so gut wie unbekannten Kollegen Anfang der 1980er Jahre empfing der damals bereits weltberühmte György Ligeti (1923–2006) unschätzbare künstlerische Impulse, die ihn aus einer Schaffenskrise befreiten. Ein Schauplatz ihres fruchtbaren Austauschs war Hall in Tirol. Von Walter Weidringer

Das Maschinelle hat in der Musik gewöhnlich nicht den besten Ruf. Dabei wurde und wird es in der Ausbildung nur allzu gerne verlangt: das völlig Gleichmäßige, Abschnurrende, perfekt Geölte. Übung macht den Meister: So lautete die gefährliche Drohung wider alle Musikschulzöglinge landauf, landab. Und geübt wurde und wird mit Übungsmusik schlechthin: Studien, Etüden. Stücke, einzig zu dem Zweck ersonnen, den Ausführenden Schwierigkeiten zu bereiten und sie zugleich musikalisch nicht zu verwöhnen. Rudimentäre Melodik, banale Harmonik – aber der reinste Spießrutenlauf über Schwarz und Weiß. Die Etüde und ihr Kumpan, das Metronom, sie waren die finsteren Spießgesellen, die den Lern(un)willigen Technik eintrichtern sollten und dabei doch oft nur eines vermochten: ihnen die Freude am Musizieren auszutreiben. Davon wusste auch Conlon Nancarrow, geboren in Texarkana, der Stadt an der Grenze zwischen Texas und Arkansas, ein Lied zu singen. „This horrible piano teacher I had at the age of four“, sollte er sich später mit Grausen erinnern: „Naturally, I never learned to play anything.“ Tatsächlich hat dieser eminent originelle Komponist nie wirklich Klavier spielen gelernt – und trotzdem einige der eigentümlichsten Werke des 20. Jahrhunderts für dieses Instrument geschaffen. Musik, die kein Mensch spielen kann und die dennoch erklingt, real, ohne Zuhilfenahme von Computern. Studies nannte Nancarrow seine durchnummerierte Werkserie für Player Piano, ein automatisches Klavier. Ein anderer ganz Großer sollte dann durch die zufällige Begegnung mit dem zurückgezogen lebenden Nancarrow und seiner Musik neue Inspiration gerade auch zu Klavierstücken finden, zu einer Serie von Études, freilich wieder von Menschenhand gespielt, die der Behandlung des Instruments neue Impulse verleihen konnten: György Ligeti. Dass die beiden, Ligeti und Nancarrow, ausgerechnet in Hall in Tirol einen ihrer denkwürdigen gemeinsamen Auftritte absolviert haben, ermöglicht durch Gerhard und Maria Crepaz, gehört zu den wenig beachteten Unterkapiteln der Musikgeschichte.

Mensch, Maschine, Musik
Das Maschinelle in der Musik: Einst brachte es die Pulse zum Rasen. Die riesigen, durch wörtliche Wiederholung kurzer Motive so suggestiv wirkenden Orchestercrescendi in den Werken Gioachino Rossinis, seine wie Zahnräder ineinandergreifenden Ensembles, sie gelten als musikalisches Abbild der technischen Errungenschaften des frühen 19. Jahrhunderts und wurden ebenso wie diese fasziniert bejubelt. Doch die Begeisterung über viele schwere Arbeiten erleichternde Maschinen, die spätestens seit der Industriellen Revolution, die James Watt mit seiner Steam Engine (1769) im wörtlichen Sinne angeheizt hatte, schneller, stärker, produktiver, ja schlicht: besser agierten als der Mensch, wich bald dem Entsetzen: Gegen den drohenden Verlust ihres Arbeitsplatzes und die brutale Ausbeutung protestierten jene französischen Land-
arbeiter, die ihre Holzschuhe (frz. sabot) in die Mäh- und Dreschmaschinen warfen und sie mit dieser Sabotage zum Stillstand brachten. Karl Marx sah die Maschine dann als wesentliches Element im Prozess kapitalistischer Produktion: Ihre Funktion sei nicht mehr die Arbeitserleichterung, sondern sie diene dazu, den Menschen zu versklaven. Ihm ist es erspart geblieben, mitzuerleben, wie bis zum heutigen Tag Menschen in den Räderwerken sich „kommunistisch“ nennender Apparate zermalmt werden. Unterdessen mag freilich auch der Kapitalismus der Gegenwart insgesamt als erbarmungsloser Mechanismus erscheinen: einmal in Gang gesetzt, arbeitet er unaufhaltsam wie ein Perpetuum mobile und wirft nur für jene Profit ab, die seine Schalthebel richtig zu bedienen wissen …
Futurismus und Avantgarde der 1920er-Jahre bildeten, etwa mit der Eisenschmiede aus Aleksandr Mosolovs Ballett Stahl (komponiert zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution) oder George Antheils Ballet mécanique, auch auf dem Gebiet der Musik nochmals in konkreter Weise eine Welle der Fortschrittsbegeisterung ab, aus der in gleicher Weise Arnold Schönbergs Zwölftonmethode (und vollends dann die daraus abgeleitete Serielle Musik der Nachkriegszeit) ihren energetischen Schub bezog. Auch Kompositionsmethoden, so erweist sich, sind in gewisser Weise Maschinen, die dem Menschen dabei helfen, Kunstwerke zu erzeugen: Es ist, als hätten wir auf politischer, sozialer oder künstlerischer Ebene immer wieder Systeme und Mechanismen ersonnen, die das Verhältnis von Freiheit und Zwang, von Leben und Tod neu zu definieren versuchten.

Weg in den Rückzug
Conlon Nancarrow zählte zu jenen Menschen des 20. Jahrhunderts, für die Kunst und Politik durchaus nicht fein säuberlich getrennt zu betrachten waren. Das zeigt sich schon an seiner frühen Liebe zum Jazz, in Zeiten der US-amerikanischen Segregation zwischen Schwarz und Weiß und lange vor den Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung auch ein Statement. Der 17-Jährige studierte zunächst in Cincinnati Trompete und Komposition, bevor er mit einer gewissen Enttäuschung das Konservatorium verließ: „I was looking for a little less academic.“ Obwohl im Wesentlichen Autodidakt, holte sich Nancarrow in der Folge in Privatstunden beim Komponisten Roger Sessions vor allem jenes Rüstzeug im Kontrapunkt, das ihn ein Faible für Stimmführung entwickeln ließ: Was bei Johann Sebastian Bach vorgezeichnet war, fand seine Entsprechung in der Gegenwartsmusik etwa von Igor Strawinski und Béla Bartók. Nancarrows politische Überzeugungen ließen ihn 1937, mit 25 Jahren, dem Lincoln-Bataillon beitreten, das im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der jungen Zweiten Republik gegen die faschistischen Truppen General Francos kämpfte. Nach seiner Rückkehr im Jänner 1939, verwundet und an Gelbsucht erkrankt, war er Repressalien durch die US-Regierung ausgesetzt, aus denen er die Konsequenzen zog: Im März 1940 emigrierte er nach Mexiko, wo er bald in einem kleinen Apartment am so genannten Zócalo lebte, der zentralen Plaza de la Constitución in Mexiko Stadt. Als Komponist hatte er damals bereits ein einschneidendes Erlebnis hinter sich: Wenige Monate zuvor waren die Musiker bei der Uraufführung seines Septetts in New York auf spektakuläre Weise gescheitert, indem sie durch die außerordentlichen Anforderungen der Partitur ans Zusammenspiel schon nach wenigen Takten heillos durcheinandergeraten waren. In Mexiko weigerten sich dann die Interpreten eines Trios, Nancarrows Musik zu spielen, weil sie fürchteten, das Publikum könnte glauben, sie spielten ständig falsche Töne. Kein Wunder, dass der Komponist andere, nicht von menschlichen Schwächen beeinträchtigte Kanäle für seine musikalische Expression erschließen wollte. Dass er das Player Piano für sich entdeckte, das „Pia-
nola“, verschiedene Systeme des damals eigentlich schon als überholt geltenden Musikautomaten, und statt Partituren zu schreiben seine kompositorische Tätigkeit in der Anfertigung von gelochten Papierrollen bestand, die zum Betrieb nötig waren, verschaffte ihm ein aus damaliger Sicht einzigartiges Ausdrucksmittel und machte ihn doch zugleich auch zum Einzelgänger. „Atemberaubende Geschwindigkeiten, furiose chromatische Glissandi, monumentale Akkordgebilde unter Ausnutzung der gesamten Klaviatur, komplizierte Rhythmen und vielschichtige, zum Teil irrationale Metren und Geschwindigkeiten, hingehauchte Klangwölkchen und orkanartige Tonkaskaden“, wie der deutsche Nancarrow-Experte Jürgen Hocker das Klanguniversum des Komponisten einmal zusammengefasst hat, waren in dieser Form definitiv neu in der Musik, mochte auch das Instrument ein „altes“ sein, eine Art Nebenprodukt auf dem Weg zur kommerziell nutzbaren Schallaufnahme, in dem Nancarrow einen Eigenwert entdeckte. In der Folge schrieb er „hochkomplexe, avancierte Kompositionen“, so Monika Fürst-Heidtmann, auch sie eine Freundin Nancarrows und genaue Kennerin seines Schaffens, „in denen er den Zeitfaktor bzw. dessen musikalische Ausprägungen in Rhythmus, Metrum und Tempo zu primären Kompositionselementen ausbaute“ – das gehöre „zusammen mit seinem späten Ruhm nach jahrzehntelanger Isolation zu den Paradoxien der Musikgeschichte des vergangenen Jahrhunderts.“ Denn nach einem für ihn grotesken Konzerterlebnis 1962 im Kulturpalast Bellas Artes, wohin er ein Selbstspielklavier geschafft hatte, um seine Musik vor einem Grüppchen Leute aufzuführen, die er alle persönlich kannte und die die Werke kannten, zog sich Nancarrow zurück, um seine Walzen fortan für die Schublade zu schreiben: ein Jahr Arbeit für fünf Minuten Musik. Bis …

Weg ins Freie
Schon 1962 hatte György Ligeti seine eigene Variante von Maschinenmusik geschrieben: Das Poème symphonique verlangt 100 Metronome, die auf verschiedene Tempi eingestellt, voll aufgezogen und möglichst gleichzeitig in Gang gesetzt werden. Das Stück entfaltet sich im wechselnden Reiz zwischen zunächst schier undurchdringlichem Geknatter über den Anschein rhythmischer Muster, die sich freilich in ständigem Fluss und vor allem in einem Ausdünnungsprozess befinden, da im Laufe der Zeit immer mehr Metronome verstummen – eine musikalisch aufregende Entwicklung. Dass Ligeti einst mit an der Spitze der (west-)europäischen Musikgeschichte stehen würde, war ihm freilich keineswegs schon an der Wiege gesungen worden. Geboren 1923 im siebenbürgischen Dicsoszentmárton (rumänisch Târnaveni, deutsch Sankt Martin), war der aus einer jüdischen Familie stammende Ungar (Vater und Bruder wurden in KZs ermordet) hinter dem Eisernen Vorhang bald als Komponist, Lehrer und Volksmusikforscher tätig – freilich in den engen Grenzen, welche die Doktrin des „Sozialistischen Realismus“ zuließ. Dennoch brach sich Ligetis musikalische Kreativität unweigerlich Bahn. Schon um das Jahr 1950 habe er, wie er später rückblickend schrieb, „die ersten Vorstellungen einer statischen, in sich ruhenden Musik (gehegt), die keine Entwicklung und keine überlieferten rhythmischen Gestalten kennt“: Vorboten jener „Klangflächenmusik“, die er dann zeitgleich mit Friedrich Cerha (Spiegel) um das Jahr 1960 entwickeln sollte – eine radikale Befreiung von den auf ihre eigene Weise maschinellen Reihenmethoden des Serialismus. Doch erst der ungarische Volksaufstand 1956 brachte die entscheidende Wende: „Von einem Tag auf den anderen wurden Kontakte mit dem Ausland möglich; Noten, Schallplatten, Informationen über neue musikalische Ideen und Veränderungen kamen nach Ungarn. Wie ungeheuer schnell das alles geschah, ist kaum zu schildern. Der Vorgang ähnelte dem Einströmen von Luft in ein plötzlich geöffnetes Vakuum.“ Als die Rote Armee den Aufstand schon nach wenigen Wochen blutig niederwalzte, flohen Ligeti und seine spätere Frau Vera Spitz über die grüne Grenze nach Österreich – so wie 200.000 ihrer Landsleute auch. Im Westen kam Ligeti rasch in Kontakt mit den führenden Kollegen – und trat, „ein Außenseiter, ein Neuling, ein Emigrant“, wie die Musikwissenschaftlerin Monika Lichtenfeld einmal pointiert feststellte, „mit soviel Selbstbewusstsein wie Entdeckerfreude und Risikobereitschaft (an), die etablierte Avantgarde das Staunen zu lehren“.

Das Neue in Hall
Dennoch: Nach Vollendung seiner Oper Le Grand Macabre, uraufgeführt 1978 in Stockholm, geriet Ligetis Phantasie ins Stocken – zum einen wohl mitbedingt durch zwei längere Krankenhausaufenthalte. „Zum anderen“, so hält es der Musikwissenschaftler und Ligeti-Biograph Constantin Floros fest, „meinte er, eine entscheidende Wende in der Kunst und in der Musik der Zeit erleben zu können – eine Wende, die ihm viel zu schaffen machte. Den Weg zur Postmoderne, die sich damals schnell verbreitete, wollte und konnte er nicht gehen. Aber auch der Avantgarde fühlte er sich nicht mehr zugehörig.“
Neue Freunde sollte er jedoch bald in Hall in Tirol finden: Gerhard und Maria Crepaz. 1968 hatte dort eine Schar von Studierenden, Künstlern und Handwerkern die Galerie St. Barbara als Ort geistiger Auseinandersetzung gegründet. Gerhard Crepaz, Jahrgang 1945, studierte Theologie, Germanistik, Musikwissenschaft, Schulmusik sowie Klavier und war von Beginn an für die musikalischen Belange zuständig; ab 1972 führte er die ursprüngliche Kunstgalerie als Musikgalerie weiter – gemeinsam mit seiner Frau Maria, geboren 1949, die Germanistik, Geschichte und Psychologie studierte und dann Familie und Kinder mit Kulturmanagement und Geschäftsführung unter einen Hut brachte. Zusammen waren sie damals längst in die Rolle von unerhört ambitionierten Kulturveranstaltern hineingewachsen, für deren umfassende Tätigkeit etwa der Physiker, Mathematiker und Musikkritiker Peter Quehenberger im Rückblick das Wort „Pionierleistung“ im Mund führt: „Sie haben sich ein Publikum für Neue Musik erzogen. Ich glaube, ich war seinerzeit der erste Besucher eines Konzerts von Gerhard Crepaz – damals waren Maria und er noch gar nicht verheiratet. In der Zeitung war annonciert, es werde eine Tonbandvorführung von Pendereckis Lukaspassion geben, in Hall. Ich bin also mit meinem Puch-Roller hingefahren, bin in einem Zimmer gelandet, in dem ein Tonbandgerät mit zwei Lautsprechern aufgebaut war und ein paar Sessel standen. Da waren also Gerhard, Maria – und ich. Wenig später kam dann immerhin noch ein weiterer Zuhörer dazu. Und so haben wir die Lukaspassion angehört. Dann bin ich in alle ihre Konzerte gekommen. Inzwischen gibt es in Tirol längst volle Säle für Neue Musik. Vor nicht allzu langer Zeit, John Cage war noch am Leben, da sind die Leute während des Konzerts laut lachend und Türen knallend hinausgegangen. In München! Da hat es bei uns längst ein verlässliches Publikum gegeben. Und das ist nicht zuletzt das Verdienst von Gerhard und Maria 
Crepaz.“
Die Größen der Alten Musik, etwa Jordi Savall und René Jacobs, kamen schon nach Hall, bevor sie zu Weltstars wurden; die Heroen der Avantgarde, als sie zum Teil noch als Bilderstürmer, Ketzer und Krachmacher verschrien waren: John Cage, Morton Feldman, Terry Riley und Steve Reich, Friedrich Cerha, Klaus Huber, Dieter Schnebel, Karlheinz Stockhausen. Gerhard Crepaz kann sich so mancher Skandale entsinnen, etwa mit Cornelius Cardew und dem London Scratch Orchestra. Ob er deshalb jemals von Leuten nicht gegrüßt worden sei? „Nein“, lautet seine verschmitzte Antwort, „das ist schon deshalb nicht in Frage gekommen, weil wir selber ja immer jeden gegrüßt haben, das ist in Tirol so üblich. Aber es hat Radau in Zeitungen gegeben, in der Leserbriefsektion.“
Jedenfalls drängte es sich geradezu auf, auch den Versuch zu starten, Ligeti nach Tirol zu locken. „Hans Landesmann, damals Generalsekretär des Wiener Konzerthauses, war ein Fan unserer Arbeit, und wir haben ihn gebeten, für uns den Kontakt zu Ligeti zu knüpfen“, erzählt Maria Crepaz. „Er meinte, er würde es versuchen, könnte aber nichts versprechen. Und wirklich rief er dann an und sagte: ‚Tut mir leid, nichts zu machen. Aber schicken Sie ihm doch vielleicht Ihre bisherigen Programme.‘ Einige Zeit danach läutet plötzlich spätabends das Telefon, ich weiß noch, dass ich mich über die Zeit gewundert habe. Ich hebe also ab und höre drei Worte: ‚Ligeti – ich komme!‘“

Sensation …
Damals war Conlon Nancarrow bereits indirekt in Ligetis Leben getreten – und oft schon wurde die Anekdote vom Dieb mit dem profilierten Musikgeschmack erzählt: 1980 hatte Ligeti in Paris zufällig auch ein paar obskure Schallplatten mit Player-Piano-Werken von Nancarrow gekauft. Auf der Heimfahrt wurde dann in der Garage einer Autobahnraststätte in der Nähe von Solingen Ligetis Auto aufgebrochen: Das Autoradio fand Gefallen, aus den Koffern die gebügelte Wäsche, nicht aber die Schmutzwäsche, und von den Platten Gamelan, jiddische Musik und Messiaen. Nur die Nancarrow-Aufnahmen ließ der Langfinger zurück … zu Ligetis kopfschüttelnd-frappierter Freude. Denn beim Anhören der verbliebenen LPs wurde ihm klar, dass er eine verwandte Seele gefunden hatte, einen Kollegen wie keinen sonst: „Wenn J. S. Bach statt mit dem protestantischen Choral mit Blues, Boogie-Woogie und lateinamerikanischer Musik aufgewachsen wäre“, schrieb er im Juni 1980 dem Dirigenten Mario de Bonaventura begeistert, „er hätte wie Nancarrow komponiert, d. h. Nancarrow verkörpert die Synthese amerikanischer Tradition mit die Polyphonie Bachs und der Eleganz Strawinskys – mehr noch: Er ist der bedeutendste Komponist der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts … Er ist ein Phänomen wie Charles Ives, das im Verborgenen wirkt.“
Damals kannte Ligeti weder Nancarrows Adresse noch seine Telefonnummer. Doch aus dem Verborgenen sollte er den so hoch geschätzten Kollegen dennoch ein für alle Mal herausholen.
„Als György Ligeti im September 1981 nach Hall kam, sprach man von einer Sensation, 10 Monate später kam er wieder, diesmal mit einem anderen großen Komponisten, dem erst vor kurzem für Europa entdeckten, bereits siebzigjährigen in Mexiko lebenden Amerikaner Conlon Nancarrow“, so fasste Markus Spielmann das Geschehen zusammen, nachdem die beiden Anfang November 1982 zusammen in Hall aufgetreten waren. Erst wenige Tage zuvor hatten sie sich endlich persönlich kennengelernt, in Graz, beim Weltmusikfest der IGNM im Rahmen des Festivals Steirischer Herbst. Die Reise war Nancarrows erster Europaaufenthalt seit seiner Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg – nach ausführlichem Briefwechsel und auch dem Erhalt von Ligeti-Platten, die der damals zwar mit Selbstspielklavieren nebst Stanzmaschine, nicht aber mit einer Hi-Fi-Anlage ausgestattete Nancarrow bei einem Freund anhören musste (und ehrlich beeindruckt war).
Dass zwischen Graz und Köln auch Hall eine Station dieser späten, aber deshalb nicht minder denkwürdigen Vorstellungstour war, ist letztlich Maria und Gerhard Crepaz zu verdanken – und natürlich Ligeti, der es sich nicht nehmen ließ, jeweils persönlich in Nancarrows Schaffen einzuführen. Nur im Pariser IRCAM war er nicht mehr dabei. „Die beiden haben sich sehr schnell bestens verstanden und angefreundet, was ja gar nicht unbedingt hätte klappen müssen“, gibt Maria Crepaz zu bedenken. „Die Gespräche, die daraus entstanden sind, waren überaus spannend, so wie Nancarrows Musik generell.“ Quehenberger, damals einer der Ohrenzeugen in Hall, präzisiert: „Ich war fasziniert von dem Umstand, dass diese Klänge eben nicht elektronisch erzeugt werden, sondern mechanisch. Das Interessante bei Klangmaschinen ist ja, dass sie etwas ermöglichen, was auf andere Weise eben so nicht geht. Nancarrows Klangstrukturen sind anders nicht denkbar: Diese spezielle Unerbittlichkeit, mit der seine Musik abläuft, ist etwas Besonderes. Und Ligeti, den wir ja schon kannten, war ein nicht minder faszinierender, großer Musiker. Einmal hat er am Klavier die komplette Musikgeschichte vorgestellt, mit Beispielen von Mozart, Schubert und vielen anderen. Nur waren diese Beispiele alles keine Originalstücke, sondern Ligeti hat jeweils im Stile dieser Komponisten improvisiert. Das hat mich ungeheuer beeindruckt und war zugleich einfach auch sehr lustig.“

… und Inspiration
Gewiss waren es auch die Forschungsergebnisse des Ethnomusikologen Gerhard Kubik über zentralafrikanische Musik („Inherent Patterns“), aus fraktaler Geometrie („Mandelbrot-Menge“) und Erkenntnisse aus der Computermusik, die Ligeti Anfang der 1980er Jahre mit vielerlei neuen Impulsen versorgten – doch die Begegnung mit Nancarrows Studies darf dabei wohl als die wichtigste, einflussreichste Quelle gelten. Ohne den elf Jahre älteren Einzelgänger aus Amerika wäre es niemals zur faszinierenden Serie der 18 Études (1985–2001) gekommen – zumindest würden sie völlig anders klingen. Schon im Poème symphonique war Ligeti dem Unberechenbaren, Zufälligen der Maschine auf der Spur gewesen, wenn man so will: ihrer Vermenschlichung. Selbst dort, wo sich der Pianist, die Pianistin in einen Präzisionsmechanismus verwandeln müsste, wollten sie die Partitur ohne die geringste Unwägbarkeit verwirklichen, gebe es „immer einen Moment, wo der Prozess zu weit geht“, wie der berufene Ligeti-Interpret Pierre-Laurent Aimard 2003 in einem Gespräch mit Stefan Fricke einmal festgestellt hat: „Dann kommt das Menschliche. Anders gesagt: Der Teufel muss sich ein bisschen vermenschlichen! Zum Beispiel in der ersten Klavieretüde Désordre (1985), die mit einem Mechanismus ohne Mitleid anfängt. Nach und nach wird es dann sehr verrückt, aber eine menschliche Präsenz gibt dieser Verrücktheit noch Blut und Schweiß. Der Interpret muss immer da sein. Nicht nur, weil es wunderbare oder poetische Gefühle sind, sondern weil hier alles Mechanische für einen Menschen gedacht ist. Aber Ligeti liebt die Grenzen. Er liebt die Gefahr für den Interpreten. Es gibt Stücke, die sind kaum spielbar. Und vor ein paar Jahren dachte man noch, sie wären nie zu spielen. Dann machen die Interpreten Fortschritte oder es kommt eine neue Generation von Musikern – und schon ist es spielbar …“ Nancarrow hingegen dringt mit seiner Musik zu etwas vor, das nicht mehr von Menschenhand darstellbar ist, aber auch nicht digital simulierbar wäre: in eine Art Zwischenreich der Erfindung, wo sich die Vorstellungskraft vom Körper löst, aber analog bleibt.
Ob nun Studies oder Études, zehn Finger oder ein Apparat mit Walzentechnik: Spätestens bei Nancarrow und Ligeti hat sich die Gattung von der Übung für Hände und Geist des Ausführenden zu einer Problemstellung oder gar Versuchsanordnung des Komponisten selbst entwickelt. Vielleicht formen beide zusammen so etwas wie das Wohltemperierte Clavier des 20. Jahrhunderts.
Die Faszination für die Maschine bleibt und wirkt über Generationen hinweg. Maria Crepaz: „Nancarrow war mit seiner Frau Yoko und dem gemeinsamen Sohn Mako in Hall, der sich mit unseren Kindern schnell angefreundet hat. Mako war ein großer Flipper-Fan: Alle fünf Minuten hat er von seinem Vater 5-Schilling-Münzen erbettelt, damit er sie im alten Parkhotel in den Flipperautomaten einwerfen konnte. Und der Papa hat immer ohne Zögern die Geldbörse gezückt.“

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.