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Walking on the Etsch. Eine Gedenktafelrunde Landvermessung No. 6, Sequenz 1 Durch den oberen Vinschgau

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte). Wir befinden uns nun auf einer Geraden, die vom Südtiroler Vinschgau ins Trentino führt. Markus Köhle konzentriert sich in der Gegend um Glurns und Mals auf runde Sachen, liest jeden Text, der sich ihm bietet, und erwischt nahe einer Jausenstation Libellen beim Liebesspiel.

Alles Malles
Die Traktoren heißen: Same, Fiat, Fendt. Marschiere der Straße entlang. Es gibt einen Gehsteig. Es gibt aber auch viele Marterln am Straßenrand. Gedenktafeln für in jungen Jahren Verunglückte. Die Straße verleitet zum Schnellfahren. Glurns – Mals. Auf die Dauer ist Glurns wohl zu klein für jedes Teenagerherz. Ausgehen in Mals. Abfahren in Mals. Alle haben ihre Ziele. Manche beenden ihren Urlaub, manche ihr Leben. Manche landen in Mals. Manche landen im Jenseits. Manches endet in Mals (die Vinschgaubahn). Manches beginnt und endet hier (mein Landvermessungstrip).

Umweg Laatsch
Apfelplantagen, Sprinkleranlagen, Bunkerhügel. Die Straße zugeschissen. Am Vormittag war Almabtrieb in Laatsch / Laudes. Vorbei am Heimatmuseum mit der Volkskundlichen Gerätesammlung. Vorbei an der ersten Andreas-Hofer-Abbildung auf einer Fassade. Vorbei auch an einem Schild, das mich zu einem Natur­friseur führen will. Was machen Naturfriseurinnen und Naturfriseure? Nichts? Lassen sie einfach alles wachsen und wuchern oder wird man einmal im Jahr, im Frühling, geschert? Statt nach Glurns hatsche ich nach Laatsch. Bin in Mals motiviert aus dem Bus gestiegen und in die falsche Richtung losspaziert. Selbstbewusst in die Irre. Planlos glücklich. Lost in Apple-Space. „Die Wegweisung ist narrensicher“, behauptet der Reiseführer. Brauche keine Wegweisung, habe keine Eile, habe Wanderschuhe und die Jacke ist frisch imprägniert. Was soll schon groß passieren? Schafe glocken glücklich. Kürbisse wuchern wild auf Misthäufen. Ganzkörperverhüllte Radlerinnen- und Radlergruppen e-bike-surren an mir vorbei. Es könnte zu regnen anfangen. Es fängt an zu regnen. Und wie. Menschen flüchten in ihre Campingbusse. Ich orientiere mich am fließenden Gewässer, das will wie ich nach Glurns. Walking on the Etsch.

Glurns / Glorenza
Das Vinschgerl im Körberl ist der Ausgangskreis. Wenn das Vinschgerl einen Durchmesser von 10 Zentimetern hat, wie viel exponentiell sich vergrößernde Kreise muss ich schlagen, um den mir zugeteilten Ausgangskreis gänzlich eingekreist, erkreislauft zu haben? Wohl gar nicht so viele. Gehen wir es subjektiver an. Subjektiv, aber konzentrisch. Konzentriert auf annähernd runde Dinge. Vinschgerl, Körberl, Häuserblock. „Der Trost runder Dinge“ heißt ein Buch von Clemens J. Setz. Ja, runde Dinge sind tröstlich, denk ich mir, beim Frühstück in die Tasse mit Alps-Kaffee (köstlich!) blickend, mit einer Hand die mich umschwirrenden Fliegen verscheuchend (doch duschen gehen?), und freue mich auf das Vinschgerl mit Salami (mit Fettaugen). Ich nehme einen Schluck vom Meraner Mineralwasser, revidiere augenblicklich den Vinschgerl-Ausgangspunkt, denn es müssen die Mineralwasserbläschen, es muss ein Mineralwasserbläschen der Ausgangspunkt und Kern meiner Erkundungen sein. Auf dass es sprudeln möge.

Tutto Mals
Ich begrüße die Prägnanz des Italienischen: Orafo – Goldschmied, Consorzio Agrario – Landwirtschaftliche Hauptgenossenschaft. Ich begrüße aber auch die Vielgliedrigkeit des Deutschen. Ich feiere die Benennungsvielfalt der Dialekte und erfreue mich an Wortspielmöglichkeiten im Italienischen. Literarisch angehauchter Fluch (italienisch, Plural, verkleinernd)? Dio Canetti 1. Kulinarisch angehauchter Fluch (italienisch, Plural, vergrößernd)? Dio Cannelloni 2. In Mals sprüht der Aktionismus: „Wir wollen kein 5 G“ / In Mals fragen dich Haltestellen-Graffiti: „Bist du noch gesund oder schon geimpft?“ / In Mals steht das Geburtshaus des angeblich beliebtesten und ältesten Tiroler Heerführers des Ersten Weltkriegs, des Generals der Infanterie und Kaiserjägervaters Ignaz Freiherr von Verdroß Droßberg, behauptet die Gedenktafel in der Fröhlichstraße. Mals hat offensichtlich Geschichte. Mals ist offensichtlich touristisch. Mals hat architektonisch alles richtig gemacht. Mals spielt gekonnt mit Kunst im öffentlichen Raum. Worte auf Fassaden irritieren auf angenehme Art: „Wiederaufnahme eines Gesprächs“. Auch in Glurns stößt man unvermittelt auf gezielt verstreute Worte: „Beobachtender“. Ich fühle mich verstanden. Mals ist nicht groß genug, dass du nicht gegrüßt würdest. Mals ist groß genug, um kurz abgehandelt werden zu können. Mals muss das aushalten. Alles, was man sagen kann, kann man auch beiläufig sagen, schreibt Elfriede Gerstl. Danke, das war’s, Mals.

Umgangssprache
Ich umrunde Glurns mehrmals. Ich wandere die Stadtmauer entlang, stundenlang. Ich kreise ein. Gehst du im Kreis, wenn du was umrundest? Nicht notwendigerweise. Kannst du etwas auch umecken, umkanten? Nicht wortschatzüblicherweise. Umgangssprachlich kann ich alles machen. Auch umreißen geht. Gehend reisen, um etwas kreisen – geht. Es erst um- und dann verschlingen. Es aufnehmen, zunehmend mehr aufnehmen. Es sich erst zu Gemüte und schließlich vollends zur Brust nehmen – geht. Ich umgehe Glurns nicht. Ich ergehe mir Glurns. Ich mache einen Umgang, auf dass was hängen bleibe. Wiedergänger gibt es in der Literatur. Gibt es auch Umgänger? Der Umgang hat Tradition. Der Umgang ist eine Art Trance-Spaziergang. Der Umgang ist kein Marsch. Der Umgang ist ein gemeinsames, gemächliches Trotten.

Umadum
Ich dampfe. Könnte kälter sein. Könnte noch mehr regnen. Ich erlaube mir die Stadt. Mittelalterliche Laubengänge in erstaunlich geringer Höhe. Palabirnen überall: Palabirnen-Wochen (11. – 19. 9.), eine der Hauptattraktionen im Jahreskreislauf. Neu 2021: Palabirnenschnitzeljagd. Die frittierte Palabirne mit Wildgeschnetzeltem ist mir zu funky, über den Palabirnen-Scheiterhaufen traue ich mich drüber. „Stammtisch für Sportler, Fischer, Jäger und andere Lügner.“ Der Gasthof Steinbock ist sehr tierisch und mir sehr sympathisch. Die Katzenskulpturendichte (geschnitzt) ist hoch. Hinter mir springen wasserspritzende Delphine fast aus dem Rahmen. Thank you for the Fish. Die Fliegen sind hier noch richtig lästig und kleben nicht in Fliegenfallen. Und die Wirtin ist noch richtig fröhlich und gibt Rat: „Wersch it a so holsnocket umadum rennen.“ Das inspiriert mich augenblicklich. Umadum. Ja, ich werde umadum gehen. Den musikalisch-literarischen Tagesausklang am „Palabirasunnta“ mit besinnlichen Texten und Musik auf der neu renovierten Mauracher Orgel der Pfarrkirche versäume ich.

Widum. Zwinger. Ring.
„So schmeckt der Vinschgau“ / Der Speckladen ist ausgezeichnet. „Goldener Preis 2021 in der Kategorie Speck 5 Monate gelagert, Kaminwurz und Vinschger Salami. 10 Stück Kaminwurzen (10 €) 1 Stück gratis“ / Der Widumplatz lässt sich leicht umrunden: Rund um das Widum. Wie dumm ist das denn? Gar nicht. „La Felicità sta nella Fantasia“ / Auf der Anzeigetafel der Pfarrgemeinde St. Pankratius in Glurns werden Wanderexerzitien angeboten. „Dem Himmel so nah“. Eine Spirale ziert den Flyer. „Ich bin der Weinstock und ihr die Reben“. 12 Glurnserinnen und Glurnser begehen die Erstkommunion 2021. „Benützt das Gotteslob“, in roten Blockbuchstaben. „Nach dem Gottesdienst zurückgeben“, in verblasster Druckschrift. „Die Bücher sind Eigentum der Kirche“, in Schreibschrift. Links und rechts vom Altar brennt bereits je eine Kerze (0,30 €). Es sind keine Grablichter, es sind keine Teelichter, sind’s schlicht Kirchenkerzchen? Ich schnapp mir gratis das Informationsblatt des Gotteshauses: „Herzlich willkommen in der Kirche ‚Unserer lieben Frauen-Zuflucht‘!“

Wehrhaft
Eine diplomierte Bionaturopathin (Naturheilkundlerin) wirbt mit wohlig-bauchigen Initialen. Überall Uraltstadeltore, feinsinnig und kostspielig umbaut, behutsam in gegenwärtige Architektur eingebettet. Die Amtstafel der Stadtgemeinde informiert über die „Direktwahl des Bürgermeisters / der Bürgermeisterin und des Gemeinderats“ am Sonntag den 10. 10. 2021 und dass der Impfbus am 26. 9. in Schluderns Halt macht. Glurns war seinerzeit Warenumschlagplatz, ab 1233 landesfürstlicher Gerichtssitz, besitzt seit 1291 das Marktrecht, wurde in der Calvenschlacht 1499 gebrandschatzt und erhielt 1580 eine neue, die noch bestehende Stadtmauer. Die kleinste Stadt Südtirols hat die einzige geschlossen erhaltene Wehranlage der Alpen und eine spätmittelalterliche Ringmauer. Um Ringe lässt sich gut kreisen. Wenn ich kugle, ziehe ich dann letztlich auch nur Kreise? Dammweg: Apfel, Pflaumen, Birnen. Die Bäume strotzen vor Früchten: Apfelexplosionen, Pflaumenpracht, Birnenopulenz. Hab noch nie so viele Äpfel gesehen. War als Student allerdings auch nie auf einen Äpfel-Brock-Job angewiesen. Allgegenwärtiger Apfel gib uns unseren täglichen Saft. 1855 bricht der Mittersee-Damm, der Haidersee läuft über und zerstört Burgeis, Schleis und Laatsch. In Glurns und Schluderns steht das Wasser bis zu zwei Meter hoch. Die Stadtmauer hält stand und rettet die Glurnserinnen und Glurnser. Was Steinmauern alles überdauern. Im Zwinger Schafe, Hühner, Bienenschwärme. Gepflegte Kleingartenlieblichkeit mit natürlichem Obst- und Gemüsereichtum (und nur einem Trampolin!). Glurns is living on the Etsch.

Heute zu
Das Paul-Flora-Museum hat genau für die Dauer meines Aufenthalts geschlossen (geöffnet Sept.: Di. – So. / 11–17 Uhr). Ich nehm’s nicht persönlich. Die Montagsführungen durch die mittelalterliche Stadt finden vom 5. Juli bis 26. August statt. Der Schludernser Torturm ist Di. – Fr. geöffnet. Die Urfichten-Familienrundwanderung wäre jeden Montag bis 27. 9. Aber man muss ja nicht überall reingehen und dabei sein, man kann auch einfach alles um- und abgehen und dabei allerhand entdecken. Am Geburtshaus von Paul Flora, dem heutigen Rathaus, ist natürlich ein Rabe angebracht, auf seinem Grabstein hocken gleich zwei. Der Stadtplatzbrunnen ist so rund, wie ein Sechseckbecken halt sein kann. „Warnung: Jede Verunreinigung des Brunnens wird mit 1–5 Gulden bestraft. Der Stadtmagistrat 1873“. Die daneben stehende Palabirne aus Holz hingegen ist äußerst rundlich, stattlich, drall. Landeshauptmann Arno Kompatscher lädt zur Kandidatenvorstellung. Einer davon: Naz Niederholzer (63), Pensionist.

Tore. Deckel. Winkel.
Im Malsertor verschwindet ein Bus. Wein auf der Stadtmauerinnenseite, Wein auf Hausfassaden. Brunnen in allen Ecken, Bänke auch. Ich nehme Platz auf allen Bänken und fange immer an zu denken. Mein Blick fällt auf einen Kanaldeckel. Er heißt Buderus: Klasse D 400 kN ÖNORM B 5110 GEPRÜFT. Die Scheuneneinfahrten führen immer über eine steile Rampe zum Heuboden, darunter dann der Stall. Die Stadt mit der höchsten Stadeltor- und Hofdichte wäre ein Superlativ, den ich anführen würde im Informationsblatt über Glurns. „Glock im Spiel / Pech in der Liebe“, les ich, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass da wirklich Glück steht. Steht aber. Ob ich Frau Glock den Slogan verkaufen soll? Auch die Glurnser Bio- und Naturverbundenheit ließe sich noch etwas mehr betonen. „ZDN Zentrum zur Dokumentation von Naturheilverfahren“ – man hat’s hier mit der Natur. Man hat auch viel davon und so soll es auch bleiben. Die Lauben sind so schwermittelalterlich niedlich-niedrig, dass ich mir fast den Schädel anhau’. Duck mich und suche das Weite. Verliere mich in der St. Pankratiusgasse und bin magisch angezogen von Besteckaufdeckgeklimper aus offenen Küchenfenstern. Besteckschubladengeräusche sind Mittagstischverheißungen. Mein Mäandern führt mich in den Winkel. „Im Winkel“ ist die schönste vorstellbare Sackgasse und endet mit einem Kindergarten. Auch die Bibliothek ist im Winkel zu Hause. Die immerhin hat montags geöffnet. Die Küchengeräusche mehren sich, appetitanregende Gerüche verbreiten sich. Veranstaltungsankündigungen werden hier nach wie vor gerne via Stadeltoraushang verbreitet. Die Kirche lässt sich leicht umrunden. Dass ich jetzt an „Ich drehe schon seit Stunden diese meine Runden“ von Grönemeyer respektive meine Kindheit denken muss, ist wohl eine Mischung aus tätigkeits- und kirchen­nennungsevozierter Assoziation und nach der Graf-Trapp-Gasse (seitlich aufgehängte, alte Hühnerleitern zieren Stallgebäude) bin ich durch mit Glurns’ Inner Circle.

Flora und das Runde
Paul Flora, Meister der Grautöne mit gelegentlichen Farbeinschlägen, verbrachte fünf Jahre in Glurns (1922–1927). 2009 verstarb er in Innsbruck, ist aber in Glurns begraben. Ein Vorbild und Freund von Flora war Alfred Kubin. Stimmungstechnisch war gestern Kubin-Tag (Regen), heute ist Flora-Tag (Sonne). Kubin ist Düstermeister, Flora wird heiter in Erinnerung bleiben: lyrisch-melancholisch, ironisch-liebenswürdig. Flora war Strichgewitter- und Schraffur-Satiriker. Aber einsame Wanderer im Nebel gibt’s schon auch bei Flora, der sich selbst als Tiroler Stubenhocker auf der Hungerburg bezeichnete. Gezeichnete, allgemein verständliche Lebensphilosophie mit Witz und Tiefgang war sein Metier. Kunst ist für alle da, war sein Credo. Flora brauchte keine Sprachzusätze, musste nicht (konnte aber auch) gelesen werden. Zum Beispiel „Dies und Das. Nachrichten und Geschichten“ (1997). Darin steht geschrieben: „Das sogenannte Schöne und die echte Kunst sind undefinierbare Geheimnisse, die sich verändern wie die Wahrheit selbst. Ein jeder möge dem Stern seines guten oder schlechten Geschmacks vertrauen und ihm folgen. Was er für schön und echt hält, wird es für ihn dann wohl sein. Die Meinung der restlichen Welt ist überhaupt nicht wichtig.“

Mission. Fischen. Radiovision.
Ich mach die Schreibschnecke, spiralisier mich in die Landschaft. Der Kohlplatzweg zieht mich vom Namen her an, kann dann aber eher wenig. Hier wuchs wohl einfach das Kraut der frühen Jahre. Jetzt wachsen Einfamilienhäuser. Alle immer noch reich an Gärten. Obst-Overload all over the Place. Durchs Schludernser Tor soll ich über den Wiesenweg zu den Seen gelangen. Via dei Prati macht mich Adriano Celentano singen: Una festa sui prati (Ein Fest auf den Wiesen). Ja, ich glaubte mal, da wäre von einem Fest auf Braten die Rede. Die einen sind auf Drogen, die anderen auf Braten: Wild-, Rinds-, Schweinsbraten. Una festa sui prati con Bratenbrote, Pratibroti. Da sind sie wieder, die Bäume. Sie sind gnogglt voll. Hochsprachlich lässt sich das nicht annähernd so plastisch ausdrücken. Und inmitten der Apfelplantage ein Acker mit fetter Erde, geiler Scholle, schaut frisch gepflügt und gut gepflegt aus. „Hier wächst ein Stück Glurns. Auf diesem Feld wächst unser Regiokorn (regiokorn.com)“. Ja, da freuen sich Getreide, Bäckerinnen und Bäcker und Vinschger-Paarl-Verzehrerinnen und -Verzehrer. Das Vinschger Urpaarl und die Vinschger Marille sind – wie natürlich auch die Palabirne – mit dem Slow-Food-Siegel prämiert. „Integrierter Obstanbau“, sagt mir ein Marienkäfer auf einem Schildchen am Wegesrand, „garantiert und naturnah seit 1988“. Okay. Die Plantagenbäume allerdings machen im Vergleich mit ihren großen Schwestern im Zwinger einen eher mickrigen Eindruck. Es sind halt Hochleistungspflanzen, Zuchtproduktquellen in Reih und Glied, bewacht von habt-acht-stehenden Sprinkelanlagen (früher dienten Waale als Bewässerungssystem im Vinschgau). Da weiße Klaräpfel, dort klassisch rote, da gelb-rote. Nicht, dass sie unglücklich ausschauten, aber … Und plötzlich – siehe da – ein Teich und noch einer und noch einer. Ein künstlich angelegtes Bächlein auch, gesäumt von Blumentrögen. Ein Campingplatz da, eine Minigolfanlage dort und in der Bar und Jausenstation „Fischteich Glurns“ gelten sechs Regeln. Die fünfte lautet: „Für Verletzungen an Dritte übernimmt der Betrieb keine Verantwortung“. Auf einen Kaffee trau ich mich rein, respektive unter die Terrassenmarkise. „Gesucht wird Wolle für Nadelstärke 3,5 im Raum Meran“, begrüßt mich das Radio. „Mit dir vielleicht und sowieso kann ja noch so viel passieren“, Schlagermusik macht mich im Nu fertig. Brauche einen Marillenstrudel, um mich wieder aufzurichten. Der Sender heißt Radio2000, der Kaffee Manuel. Dass jetzt „All you need is Love“ kommt, ist tröstlicher als das Rund der Teiche. Dennoch beschließe ich, jeden der drei Teiche zu umrunden und ihnen hinterher Namen zu geben.

Teichbühne
„Dich zu lieben, muss ein Wahnsinn sein“, und schon wieder brät mir die Banalität der bösen Schlagertexte eins über. Ich schwanke, ich kann leider nicht weghören. Ich lese ja auch jeden Text, der sich mir bietet. „Heizung, Sanitär-, Solar- und Pelletsanlagen“ / „Südtirols erfolgreichstes Schlagerradio. Für mehr Normalität in unser aller Leben.“ Ich erfahre grad zuhörend mehr über das Land als beim Wandern durch die Landschaft. Teich eins ist ein Hugo, Teich zwei eine Trude und Teich drei ein/e nicht-binäre/r Mo. Erwische Libellen beim Liebesspiel in flagranti. Sie zischen ab ins Schilf, ich avanti weiter. Das Schreiben machte mich schon vorher verdächtig (für was auch immer), das Umrunden der Teiche macht mich zum Terrassenthema. Ich sehe, wie mir die Jausenstationsgäste zuschauen. Ich genieße es. Lang genug Bühnenabstinenz ertragen. Im Schilf diese tollen Flötenputzer-Früchte (Schmalblättriger Rohrkolben), die in den 1970er Jahren getrocknet in Flurdekorvasen staken (greifen sich gut an, leicht sprödes, aber sehr angenehmes Streicheln). Ich nütze die Teichbühne weiter und stehe sinnierend am Teichzuflussbrücklein. Bin selbst den Enten suspekt. Sie flüchten gen Teichmitte, ich weiter Richtung Schluderns.

Burg. Berg. Betriebsareal.
Schluderns begrüßt mich mit Blick auf Burg, angezuckerte Bergkette und „Betriebsareal Trans-Albert Durchgang verboten“. Ich umgehe und sehe: Schluderns ist der Geburtsort der Haflinger-Pferde. Da Baustoffe, Einrichtungshäuser, Sommerreifen aller Art. Dort immerhin eine Mosterei. Die Mosterei ist sprachlich das einfachste Versteck vom Osterei. Muss man mögen: Sprachspiele. Muss man mögen: Most. Most famous Most, müsste man werben. Oder: Fast and most furious Most in Town – ein Must. Oder einfach: Most-Must-Have. Schluderns meint’s gut mit meiner Manie und vom Kirchplatz gehen ab: die Andreas-Hofer-Straße, die Schmalz- und die Pfaffengasse. Bitte je nach Präferenzen abbiegen! In der Kirche abgesperrte Weihwasserbecken, aber automatische Weihwasserspender. „Was die Welt jetzt braucht? Regeneration Humusaufbau“. Die Kugelgasse passt mir perfekt ins Konzept. Da ist das Rathaus und davor steht ein Denkmal mit Pferd. „1874: Schluderns Geburtsstätte der Haflingerzucht“. Kleiner, im Hintergrund, an der Rathauswand, flankiert von einem überwucherten Geranientopf und einer Thuje im Trog noch ein Denkmal: das Ehrenbürgerdenkmal für Eduard Wallnöfer (1963–1987, Landeshauptmann von Tirol).

Böllerboy
Die Churburg hat am Montag Ruhetag. Der Burgrundgang ist immer geöffnet. Ganz schön steil der Anstieg. Wo Burgen sind, ist oben. An der Abzweigung (zur ebenfalls geschlossenen Burgschänke), in die Mauer eingelassen, eine Gedenktafel: „Franz Fritz wurde hier durch Böllerschießen am Herz-Jesu-Sonntag, dem 13. Juni 1920 verunglückt, und verschied nach Empfang der heiligen Ölung in selbiger Stunde. Ende gut, alles gut = Jesus sei ihm gnädig.“ Das ist die Tafel des Tages. Konsequenterweise verunglückte man in seligen Zeiten noch passiv. In gottesfurchtlosen Tagen wie diesen ist das natürlich immer aktiv selbstverschuldet. Gut, dass das Vinschger Museum auch Ruhetag hat. Der Saldurbach hat eine Hubbrücke. Im Hochwasserfall wird die Brücke angehoben und der Abflussquerschnitt vergrößert sich so. Der Europäische Fonds für Regionalentwicklung finanzierte das Bachbettabflussprofil von Schluderns und die Bevölkerung profitierte. Die Bevölkerung von Glurns wiederum profitierte 1945, lese ich an einer Kapelle am Straßenrand: „In dankbarem Gedenken für Gottes Beistand zum 50. Jahrestag 1995. Der Verhütung einer schweren Munitions-Explosions-Katastrophe in der Festungsanlage Nr. 13 am Allerheiligentag 1945.“ Feiertage scheinen hierorts gefährlich. Vielleicht sollte man an Feiertagen Ruhetag machen. Das Schlusswort für meine Rundumerkundung finde ich am Glurnser Friedhof (Eintritt für Hunde verboten): „Müh und Arbeit war das Leben / Ruh hat nun Gott gegeben“.

1 Dio Cane ist ein beliebter Fluch im Italienischen. Dio ist Gott. Cane heißt Hund. Die Verkleinerungsformen im Italienischen werden meist mit den Suffixen -ino/a, -ello/a und -etto/a gebildet. In der Pluralform dann eben Cane – Canetti.
2 Die Vergrößerungsform im Italienischen wird mit dem Suffix -one gebildet. In der Pluralform dann eben Canna – Cannelloni (große, dicke Röhrennudeln).

 

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