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Erinnerungstheater

Raimar Stange zu ausgewählten Zeichnungen von Peter Friedl, die auf den Seiten 96 bis 105 zu sehen sind.

„In jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.“ (Walter Benjamin)

Ein „schwarzer“ Mann, genauer: Ira Aldridge (1807–1867), der heute nahezu vergessene afroamerikanischen Schauspieler, der 1826 in London an einer kleinen Bühne als Othello debütierte, ist immer wieder auf Zeichnungen von Peter Friedl zu sehen. Der dreifache Documenta-Teilnehmer hat den in New York geborenen, später nach Europa ausgewanderten Shakespeare-Darsteller nämlich in unterschiedlichen Modi auf das ungeduldige Papier gebracht, das Spektrum reicht von skizzenhaften Darstellungen bis hin zu beinahe vollständig durchgearbeiteten Blättern. Der Mann ist dabei in unterschiedlichen Posen und Rollen gezeichnet. Als Vorlage für diese Darstellungen dienen damals zeitgenössische Abbildungen, auch frühe Theaterfotos gehören dazu, die durch die vermeintliche subjektive Intimität des Genres Zeichnung, die hier strategisch instrumentalisiert wird, prompt ihren Anspruch auf Objektivität einbüßen. „Ungeduldig“ ist das Papier bei Friedl insofern als seine künstlerische Produktion hier meist eine geschwinde ist, ganz so, als wolle er mit seinen tausenden Zeichnungen ein Gegengewicht generieren zu der dümmlichen Bilderflut, die uns vor allem in den sogenannten Neuen Medien täglich um die Augen gehauen wird – dazu aber später mehr.

Noch zwei Zeichnungen seien kurz vorgestellt: Ein mächtiges grünes Krokodil kommt aus blauem Wasser, betritt den gelben Sandstrand und jagt mit offenem Maul einer menschlichen Figur nach. Am rechten Bildrand schließlich ist ein roter Vorhang zu sehen. Wieder also steht hier, spätestens auf dem zweiten Blick erkennbar, Theatralisches zur Diskussion. Auf dem dritten Blick mag die Vorlage für diese Zeichnung auffallen, handelt es sich doch um Honoré Daumiers Aquarell „La parade foraine“, um 1865, das fünf Schausteller, mehr oder weniger realistisch gemalt, zeigt, die reißerisch ihr gegen Geld zu bewunderndes Schauspiel vor ihrer mobilen Bühne anpreisen. Darum hat Daumier im Hintergrund des realistischen Motivs die Szene „Krokodil jagt Mensch“ angedeutet, auf die einer der Männer mit ausgestrecktem Arm zeigt. Friedl nun stellt diese Szene frei aus, die Schausteller sind nicht von ihm gezeichnet, und rückt so den Fokus auf das Menschenverachtende dieser makabren Zurschaustellung im heute nahezu ausgestorbenen Subgenre Schaustellerei. Der Vorhang aber, der ist sowohl bei Friedl wie bei Daumier im Bilde. Eine zweite Version des Motivs, dieses mal ohne den fliehenden Mann, hat Friedl dann in Form eines Palimpsets gestaltet, indem er die Zeichnung über textliche Notate aufgebracht hat. Worte wie „Memoria“ und „Nocra“ sind da zu lesen, wodurch eine weitere, überaus kritische Bedeutungsebene ins Spiel kommt, insbesondere durch den Verweis auf das Konzentrationslager Nocra, das die italienischen Faschisten von 1936 bis 1941 „betrieben“. Dieses Konzentrationslager diente den Faschisten vor allem der „Internierung“ politisch Gefangener aus der Kolonie Italienisch-Ostafrika.

Ein ideologiekritischer Exkurs: Die drei von mir ausgewählten Zeichnungen gehören zu Friedls Unternehmung, die Optionen eines „Erinnerungstheaters“ auszuloten. Das Theater wird dabei gleichsam als ein erzählendes Archiv begriffen, das – heute versuchen das Internet und seine Suchmaschinen diese Aufgabe zu übernehmen – Geschichte konstruiert, visualisiert und aufruft zugleich. Dabei unterminieren die ausgewählten Zeichnungen das „real-existierende“ Theater (und besagte Internetversuche) und dessen quasi-„konformen“ Erzählungen von Historie dadurch, dass sie so etwas wie sonst ausgegrenzte und verdrängte Seitenstränge in den Vordergrund stellen, hier in Gestalt einer politischen-korrekten dramaturgischen Neubesetzung und in Form einer marktschreierischen Menschenjagd. Die, wenn man so will, „Regisseure“ beider Momente aber bleiben da unsichtbar. Diese künstlerische Strategie Friedls erinnert nicht von ungefähr an Gilles Deleuze Konzept der „minor art“ und dessen Annahme, in Szene gesetztes, eigentlich Marginalisertes könnte herrschende Normen in Frage stellen. Dank dieser „antihegemonialen Erinnerungsarbeit“ des Künstlers erweist sich Geschichtsschreibung dann als ein offener Prozess, der immer wieder neu „aufgeführt“ werden kann. Das Zusammendenken von Historie und Theater, von „realer“ Vergangenheit und „fiktiver“ Narration hat weitere entscheidende Konsequenzen, es gelingt Friedl nämlich, u. a. durch besagtes Ignorieren vermeintlicher „Regisseure“, den Begriff des (herrschenden) „Subjektes“ der Geschichte durch den der „Figur“ und der „Rolle“ zu ersetzen. So bedenken seine Historien-Narrative alternative Formen geschichtlicher Zusammenhänge und machen als sensibel inszenierte Gesellschaftsbiographien, in denen Individuelles und Kollektives sich immer wieder durchdringt, klugerweise nicht den Fehler, „sich darüber zu täuschen, dass die Geschichte „bis heute kein Subjekt hat“ (Theodor W. Adorno).

Diese Form der antihegemonialen Geschichtsrepräsentation ereignet sich übrigens in durchaus vergleichbarer Art und Weise auch in Friedls Installation „Theory of Justice“, 1992–2010, sowie in seinen beiden Marionettentheatern „The Dramatist (Black Hamlet, Crazy Henry, Giulia, Toussaint)“, 2013, und „Teatro Popular“, 2016–17. Auch dort geht es nämlich um die „Neuverhandlung bestehender politischer und historischer Gewissheiten“, wie Anne Faucheret und Vanessa Joan Müller 2019 anlässlich der Ausstellung „Peter Friedl Teatro“ in der Kunsthalle Wien treffend formulierten.

Abschließend kurz zu einem weiteren Rollenspiel, zu einer Zeichnung, die einen Harlekin vorstellt, also die theatralische Figur, die insbesondere in der Commedia dell’arte als so derber wie subversiver „Spassmacher“ lange eine wichtige Rolle spielte, die aber im Laufe des 18. Jahrhunderts im Rahmen der sich durchsetzenden, scheinbar vernunftbetonten Aufklärung von den „ernstzunehmenden“ Bühnen marginalisiert und verbannt wurde. Friedls bunt-gescheckter, beinahe „rokoko-zärtlich“ gezeichneter Harlekin wird dann auch von den „Bretter[n], die die Welt bedeuten“ verjagt, von einer im seriösen Schwarz gekleideten und überaus entschlossen dreinschauenden Frau. Die „Dialektik der Aufklärung“ und ihre hegemonialen Auswirkungen also stehen hier ebenso als Option zur Interpretation bereit, wie der „Kampf der Geschlechter“ – ein Erinnerungstheater ist halt ganz eindeutig keine eindeutige Angelegenheit.

S. 96:
Ohne Titel, 2018 (31. Mai 2018)
Kugelschreiber, Tusche, Wasserfarbe auf Papier
20,3 × 14,9 cm
S. 97:
Ohne Titel, 2016 (18. April 2016)
Bleistift, Tusche auf Papier
20,8 × 14,4 cm

S. 98:
Ohne Titel, 2019 (21. Januar 2019)
Filzstift, Tusche auf Papier
20,8 × 15,5 cm
S. 99:
Ohne Titel, 2015 (11. September 2015)
Bleistift, Farbstift, Kugelschreiber auf Papier
21 × 15,2 cm

S. 100:
Ohne Titel, 2016 (22. April 2016)
Filzstift, Pflanzenfarbe, Tusche auf Papier
14,8 × 20,8 cm
S. 101:
Ohne Titel, 2021 (4. August 2021)
Kugelschreiber, Tusche auf Papier
29,5 × 20,9 cm

S. 102:
Ohne Titel, 2015 (24. April 2015)
Bleistift, Kugelschreiber, Tusche auf Papier
14,8 × 20,9 cm
S. 103:
Ohne Titel, 2018 (28. Mai 2018)
Filzstift, Tusche auf Papier
20,8 × 14,2 cm

S. 104:
Ohne Titel, 2019 (17. Januar 2019)
Collage, Kugelschreiber, Tusche auf Papier
21 × 15,4 cm
S. 105:
Ohne Titel, 2019 (15. Mai 2019)
Bleistift, Tusche auf Papier
29,6 × 21 cm

Courtesy der Künstler und Guido Costa Projects, Turin

 

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