Nachgeschrieben: Oskar Pastior. Von Jan Koneffke
„Jalousien aufgemacht“: Vor dreißig Jahren, am 3. Juni,
im Innsbrucker Szenelokal Bogen 13. Auf zwei von Metallstangen begrenzten Podesten unter der wellblechverkleideten Decke sitzen sich – getrennt vereint und vereint getrennt – Pinguin Moschner, der Free Jazzer, und Oskar Pastior, der Dichter, gegenüber. Was folgt, ist ein Wechselgesang: dort die Stimme der Tuba von Moschner, die grummelt und grunzt, keucht und kichert, quakt, schmettert und bettelt – da die menschliche Stimme von Pastior, schwebend, fein, leise, sprechsingend, singsprechend und artikuliert, voller schelmischer List … ein Wechselgesang wie ein Wechselbalg in seiner Freiheit von gängigen Regeln und Konventionen. Da wäre ich gerne das „Höricht“ gewesen. Nur war ich leider bei dieser Begegnung, von der man bis heute erzählt, nicht dabei …
Mit „Wechselbalg“ war der Gedichtband betitelt, mit dem ich Pastior kennenlernte. In Berlin, 1981. Ich studierte im 1. Semester an der Freien Universität und hatte mir aus dem Verzeichnis der Lehrveranstaltungen ein (freiwilliges) „Lyrik-Seminar“ ausgesucht. Es wandte sich an Interessierte derzeitiger Dichtung und selber Gedichte verfassende Studenten. Der junge Dozent, der es anbot, hieß Hans-Ulrich Treichel.
Zu einem Termin lud er Pastior ein. Ein hagerer Mann, dunkeläugig, mit Schnurrbart und Wuschelkopf, klappte sein Buch auf und las. Ich wusste von Pastior nichts, und ich weiß nicht mehr, ob seine Herkunft zur Sprache kam. Das spielte auch keine Rolle für mich, als er mit seiner eindringlich sanften, verschmitzten und deutlichen Stimme das „Abendlied“ vortrug. Ich verfiel dieser Stimme noch vor den Gedichten – auch wenn Stimme und Verse an sich nicht zu trennen waren.
„Höricht“ heißt eines der Worte, die Pastior erfunden hat und das der Literaturkritiker Jörg Drews, mit Sigmund Freud, „überdeterminiert“ nannte. Was kann ein „Höricht“ nicht alles verbergen? „Hör ich richtig?“ zum Beispiel und auch das „Gerücht“. „Rettich“, „Kehricht“ und „töricht“, das alles klingt mit. Bei mir verband sich das Pastior’sche „Höricht“ freilich auch stets mit der „Hörigkeit“. So „höricht-hörig“ verfiel ich der Stimme und den poetischen „Ohrwürmern“, die sie las.
Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob es ein Regentag war oder dämmerte. Doch herrschte im Seminarraum der „Rostlaube“, einer Schachtel mit dunkelgrauen Wandelementen, ein die Konturen verwischendes Halbdunkel. Oder bilde ich mir das nur ein, weil Pastior das „Abendlied“ las? „Der Tag legt sein Verhalten an den Flauschhund / … Verhalten knickt der Nachbar ins Papierbett / … Der Tag legt seine Gurken an den Drehstrom“. Er kam mir vor wie ein „listenreicher Odysseus“ auf seiner Verwirrfahrt durch die Sprache, der sich in eine „listenreiche O-Diseuse“ verwandelt hat. Von diesem Sirenengesang ließ ich mich gerne verführen. Und in mir dichtete es (sich) weiter: „Der Tag legt seinen Schlafhund an die Leine“, „der Mond wird umgeleitet um den kranken Nachbarn“, „das Taschentuch vergießt sein Mitleid in die Akte“ usw.
Denkbar, das Halbdunkel, das ich erinnere, kam von der Trance, in die das Gedicht mich versetzte. Eine seltsame Trance, muss ich sagen. Da gab es den Rhythmus, der auch Melodie war, nicht zuletzt durch die schwebende Stimme des Autors (und doch prononciert, mit dem rollenden R, das ich zu dieser Zeit noch nicht zuordnen konnte), beides rief die aus der Kindheit vertraute und innige Abendliedstimmung hervor. Außerdem machten die Verse den Eindruck, als seien sie im Halbschlaf gesprochen. Oder beim Aufwachen, wenn das Bewusstsein traumlogisch noch alles mit allem verbindet. Doch war auch was Lustiges um dieses Sprechen, das auf der syntaktischen Ebene korrekt war, freilich „unsinnige“ Sätze erzeugte (unsinnig ja, doch nicht unsinnlich). Sätze wie Traumreste oder Zitate, verschobene, verstellte, ent-stellte Zitate der motivisch und rhythmisch anklingenden Tradition.
Ich war noch benommen, als Pastior endete. Und wurde unsanft aus dieser Benommenheit gerissen. Ein Großteil der Kommilitonen im Raum reagierte befremdet, verständnislos. Was das denn solle, da habe ja nichts Hand und Fuß! Den einen fehlte die „subjektive Erfahrung“, den anderen „politisch-gesellschaftliche Relevanz“. Pastior, der sich an alte rumänische Zeiten erinnert fühlen mochte, als die Partei sozialistische Wirklichkeitsnähe verlangte, antwortete höflich und in aller Ruhe. Ein Gedicht, das auch mir aufgefallen war, zog besondere Ablehnung auf sich: „Am Rande, denkst du, denkst du Sätze, die dich den-/ken …“*
Es schien eine Kette von Versen zu bilden, die sich kausal aufeinander beziehen. An dieser „Logizität“ hielten sich die Studenten fest. Das musste schiefgehen, Pastiors logische Operation im Gedicht blieb ein Spiel – ein Spiel mit beachtlichem Einsatz! Nicht nur ich merkte ihm einen Ernst an, der tiefer ging, ja, bis zur Verzweiflung reichte – was die Abwehr der Kommilitonen noch steigerte, weil das existenzielle Motiv nicht „zu fassen“ war.
Um Pastior und sein Gedicht zu verteidigen, legte ich es psychologisch aus. Vers um Vers zeichne der Text Denkprozesse nach, wie sie am Rand des Bewusstseins ablaufen und sich in „automatischen“ Sätzen bewegen, als könnten sie selbstständig denken. Dass diese Sätze das „du“ denken, das sie denkt, und das denkende Ich zum Objekt machen, ließ sich – psychologisch betrachtet – als paranoide Psychose verstehen: Zum Beweis diente mir die „Ver- / schwörung“ im Text. Pastior lächelte skeptisch und nickte erleichtert.
Die zweite Begegnung, ein knappes Jahr später. Das war in der Wohnung des jungen Ralf Rothmann. Ein Dichtertreffen, an dem außer Pastior (Ralfs und mein Förderer) Christoph Meckel, Jürgen Theobaldy und Hans Christoph Buch teilnahmen. Das Vorgelesene wurde besprochen. Nach Pastiors Vortrag rief Meckel aus: „Mir bleiben die Sachen von Oskar verschlossen. Doch ich finde sie absolut großartig!“ In der Pause gab es in der Küche zu essen, bei dieser Gelegenheit stand ich bei Pastior. Ich hätte die Lesung im Seminar miterlebt, sagte ich, und die Engstirnigkeit meiner Kommilitonen habe mich entsetzt. „Sie saßen links, nicht wahr?“, meinte er mit einem Schmunzeln, „links saßen die Guten.“
Weitere Begegnungen verteilten sich über die Jahre. Ich weiß noch, wie er mir bei einer Gelegenheit mit nahezu kindlicher Freude erklärte, welches Verfahren er bei den „Sonetburgern“ anwandte. Mittlerweile verstand ich „Am Rande …“ als eine poetisch-phänomenologische Reflexion, die ich mit seinem eigenen, bis in die Lautfolge, witzigen Stoßseufzer konterkarierte: „O Enge des Denkens, o kränkende Beschränkung! O wesensgegebene Keks-Menge! Verzehrende Zwänge, fernere Dränge, o transzendente Klemme!“
Unvergessen das Lyrikertreffen in Münster, im Jahr 1991. Wir wohnten zufällig im selben Hotel und saßen beim Frühstück zusammen. Der von ihm übersetzte rumänische Dichter Marin Sorescu, der ebenfalls teilnahm, war noch nicht wach und so konnten wir über ihn sprechen. Oskar berichtete in amüsiertem Ton, wie Sorescu sich in den Ceaușescu-Jahren bauernschlau durchlaviert habe.
Erst vor kurzem erinnerte ich mich daran, als ich im Tagebuch Ana Blandianas unter dem Datum vom 8. November 1988 auf eine Stelle mit Marin Sorescu stieß. Die Dichterin hatte man gerade verboten. Bei jenem Essen verkündete er, ihm drohe mehr als ein Publikationsverbot, ihn habe man vor zu ermorden. „Damit konstruiert er sich eine Legende, um sie sich in der Zukunft zunutze zu machen, und die dafür sorgen wird, dass man vergisst, dass er in diesen Jahren einer der Profiteure gewesen ist“, notiert die Blandiana empört.
Und mir fiel ein, dass ich Pastior bis dahin nicht zu den rumäniendeutschen Autoren gezählt hatte, die ich in den 80er Jahren der Reihe nach kennenlernte, als sie aus dem Land emigrierten (Herta Müller, Rolf Bossert, Klaus Hensel und Richard Wagner). Nichts von seiner Herkunft und Lebensgeschichte war mir gegenwärtig gewesen; nichts von seiner Deportation, als er gerade erst 17 war, in ein sowjetisches Lager; nichts von seiner Zeit als Gelegenheitsarbeiter oder von seiner Anstellung als Redakteur in der deutschen Abteilung von Radio Rumänien – nun stellte ich mir das „Höricht“ als namenloses Publikum draußen am Rundfunkempfänger vor.
Pastiors rumäniendeutsche Vergangenheit lud das Gedicht, das mir nicht aus dem Kopf ging, „Am Rande, denkst du …“, mit neuer Bedeutung auf. Als Teil einer (Sprach-)Minderheit hatte er sich am Rand der Gesellschaft bewegt. Ein Rand, der sich auch auf sein Schwulsein erstreckte. Mir ist entfallen, von wem ich es wusste. Nicht von ihm. In den 80er Jahren bekannte man sich in der Öffentlichkeit nicht dazu. Umso weniger Oskar, der äußerst diskret war und den man mit seinen geschlechtlichen Neigungen in der Diktatur unter Druck gesetzt hatte.
Waren seine Wortspielereien ein Versteckspiel – aus Not? Wollte er in seinen Texten verschwinden, um sich vor dem Terror der Staatsmacht unsichtbar zu machen? Bei der Arbeit an den Anagrammen gelang das Verschwinden fast … Sicher, es gab die ästhetischen Einflüsse, die mit der rumänischen Herkunft zusammenhingen, Urmuz und Dada (rumänische Mitwirkung!), der Surrealismus von Gellu Naum oder Ionescus absurdes Theater.
Erst mit seinen Übertragungen von Sorescu, die er vortrug, als seien es Sachen von ihm (was ihm bei den Gedichten Sorescus nicht schwerfiel, beide teilten den listig-verschmitzten Humor), begann ich den anderen Sprach- und Kulturkontext zu erahnen, mit dem seine Arbeit verbunden war. Marin Sorescu saß freudig und stolz neben Pastior, der mit den deutschen Versionen den Saal in Verzückung versetzte.
Dieses Erlebnis verschaffte mir einen neuen Zugang zu Oskars Gedicht. „Am Rande, denkst du, denkst du Sätze …“ – war das nicht der Übersetzer fremdsprachiger Sätze, die er über-sätzt? Die ihn „denken“, zwangsläufig, wenn sie in die Zielsprache wechseln? Und die „Tatbestände“ des Übersetzers waren seine „Faktizität des Daseins“, während die „Tatbestände“ der Sätze Referenten und sedimentierte Bedeutungen waren. Dass der Übersetzer in Sätzen in Sicherheit und nur in Sätzen in Freiheit war, passte gut – und ging trotz allem nicht auf.
Unsere letzte Begegnung. 2004. Bei der Lesung von Pastior und Herta Müller, Nora Iuga, Grande Dame der rumänischen Poesie, und Ernest Wichner in Bukarest. Meine Frau und ich hatten ein Jahr zuvor unseren Wohnort in Rom aufgegeben, nun lebten wir halb in Wien, halb in Rumäniens Hauptstadt. Am Treppenabsatz lehnte Herta und grüßte ein wenig verdrossen: „Ah, bist ja jetzt auch hier …“ Oskar hingegen, der anders als sie von meiner rumänischen Ehe nichts wusste, lief in der Pause, als er mich entdeckte, mit ausgebreiteten Armen auf mich zu: „Jan!“, rief er aus, „wie kommst du denn hierher?“ Nie war mir Oskar beschwingter erschienen als in diesen Nachmittagsstunden in Bukarest – als seien seine schlimmsten Erinnerungen verheilt.
Große Freude, als man ihm den Büchner-Preis 2006 zusprach. Und umso trauriger, als er kurz vor der Verleihung starb. 2010 wiederum las ich, ungläubig, von seinen Securitate-Verstrickungen. Nun wurde das „Höricht“ zum Sicherheitsdienst, einer alles und alle abhörenden Spitzelbehörde. Und das Gedicht, das mich weiter beschäftigte, schien mir nun die zwanghafte Wiederkehr schuldhafter Sätze. Oder ein verzweifeltes Sich-Winden des Denkens vor Sätzen, die sich nicht mehr abwerfen lassen, die den sich Erinnernden „denken“ und anklagen. „Tatbestände“ – hier waren sie konkrete Vergehen mindestens im moralischen Sinn. Und in diesen Sätzen in Sicherheit sein, „die dich wiegt“? Ja, in Sicherheit vor der Verhaftung! Und in diesen Sätzen in Freiheit sein? Ja: nicht im Knast.
Eine zu simple Lesart, gewiss. Doch der Vorwurf an Pastior durch Richard Wagner vom angeblichen „Feuerwerk an Sprachartistik“ ohne „jede moralische Begründung“ würde mit dieser Auslegung gegenstandslos.
Sicher geht sie nicht auf, wie der Mensch und der Dichter nicht „aufgehen“. Und in mir spricht bis heute die schwebende Stimme, mit der ich das Spielzimmer der Poesie betrat (verwechselt es nicht mit dem Kinderzimmer!). Denn der Mensch spielt nur, wie wir bei Schiller erfahren, „wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“
Oskar Pastior war so ein Mensch.
* Am Rande, denkst du, denkst du Sätze, die dich den- / ken. Du denkst, sie denken dich. In deinen Sätzen / bist du an ihrem Rand. Du bist eine Anrandung von / Sätzen, die dich an den Rand stoßen, Gegensätzen, / und auch an denen wandelst du entlang. Sätze, die / dich gegensätzlich denken, wandeln dich an und den- / ken Gegensätze, die du nicht denkst. An deinen Tat- / beständen kommst du nicht vorbei – es sind seltsame / Sätze. Du kannst an sie denken, sie denken nicht an / dich, sie denken dich seltsam am Rande, du bist ei- / ne Anwandlung von ihnen, die an Gegensätzen nicht / vorbeikommen. Am Rande der Sätze, in denen du bist, / liegst du noch ganz am Rand, wenn du darüber hinaus / denkst. Auch sie denken dich hinüber doch an ihren / Tatbeständen kommen sie nicht vorbei. Es sind nur / Sätze, die nur denken können. Du denkst, sie denken / dich, sie denken, du denkst sie, es ist eine Ver- / schwörung an den Sätzen, die dich nicht abwerfen / können, die du nicht abwerfen kannst, ein Inzest. / Am Rande des Denkens, solange du denkst, liegst du / in Sätzen an Sätzen, noch kann dich keiner über den / Rand verstoßen, den du nicht denkst, seltsam, du / bist nur in Sätzen in Sicherheit, die dich wiegt, / und nur in Sätzen in Freiheit, aber in welcher.