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Fließtext*

Von Ana Marwan

AUFPASSEN! Das Kind wird abgeholt. Wieder habe ich ihm viel Wahres erzählt. Sie bezahlen mich schlecht, dass ich auf ihn aufpasse. Wenig Bares für viel Wahres. Ich sagte ihm heute ungefähr: „Du wirst zufällig, ich reduziere jetzt alle weltlichen, damit meine ich auch über- und unterweltlichen Einflüsse, auf Zufall, auf Zufall reduziere ich alle Einflüsse, zufällig wirst du zu einem Wesen geformt, und danach wird deine wesentliche Aufgabe darin bestehen, dich von diesem Wesen zu befreien. Alles mögliche Schöne an dir wirst du als Fehler wahrnehmen und deine Freiheit darin finden, nur darin und sonst nirgendwo, eine Entscheidung zu treffen, das heißt glauben, eine Entscheidung treffen zu können, diese Fehler entweder auszubügeln oder anzunehmen. Beides wird unmöglich.“ So sage ich es ihm, nicht jedes Kind hat das Glück, das Leben in drei Sätzen, die sich mit etwas Mühe und Feilen auch auf zwei schrumpfen ließen, zusammengefasst zu bekommen, aber es weiß nicht, wie viel die Zusammenfassung der Welt wert ist, es weiß sein Glück nicht zu schätzen. Ich werde nächstes Mal alles wiederholen. Ich darf aber nicht zu oft wiederholen, die Anzahl meiner Versuche ist begrenzt, sonst wird meine Weisheit zum Weißrauschen. So ist es auch mir passiert – nur was ich selbst erlebe, finde ich im Weißrauschen meiner Mutter bestätigt. Retrograd ist meine Erziehung. ¶ Gleich nachdem das Kind abgeholt wird und ich schlecht bezahlt, ruft mich mein Bruder an. Mein Zwillingsbruder ruft mich an, und diesmal hebe ich ab. Ich habe einen Monat lang nicht abgehoben, weil er letztens gesagt hat „Es ist schade, jammerschade, dass du deine Gaben so vergeudet hast.“ Um die Zeitform ging es mir. Ich hätte alles sein können, hat er noch gemeint, was mich aber nicht getroffen hat, denn ich wollte nie alles sein, das wäre unsinnig. Ich verzeihe dem Bruder letztendlich immer, aus Not verzeihe ich ihm immer alles. Wir reden lange. Unabhängig von mir wundert er sich, dass „ausgerechnet Kinder zur Haupteinkommensquelle“ … Das Wort „Buße“ wird umschrieben. Ein derart schicksalsbehaftetes, an Unsinn grenzendes Denken ist mir fremd, mein Bruder, mit dem ich alles teilte, die Gebärmutter, die Mutter, das Zimmer, das Zeug, die Meinung, sagt jetzt plötzlich etwas Neues, etwas Fremdes. Wann hast du dich von mir entfernt, mein Fleisch? „Du solltest öfters in die Stadt fahren“, sagt er auffällig oft; und auch „ich hab dich lieb“. Auch das ist neu und fremd. ¶ Dabei war ich gerade in der Stadt. Nichts, was ich mache, reicht, immer wird mir befohlen, lass mich lieber sagen geraten, es öfters zu machen. Vage Hinweise, das ist das Leben. Dem ich entgegenwirke. Der Freund, mit dem ich zu Mittag aß, meinte, er würde selbstverständlich gerne auch zu mir aufs Land kommen, aber wenn er zu mir kommt, lässt sich das mit nichts verbinden, während es umgekehrt, also wenn ich zu ihm in die Stadt komme, sehr wohl der Fall ist, also ist es vernünftiger, wenn ich zu ihm komme, und nicht er zu mir. Mittels „vernünftig“ werde ich entwaffnet, also fahre ich in die Stadt. Ich verbinde das Mittagessen mit gar nichts, nie, verschweige es aber, aus erster Hand wissend, dass das Nichtverbinden des Mittagessens unvernünftig ist. Mit dem Freund, mit dem ich zu Mittag esse, habe ich einmal zusammengearbeitet. Ich habe mit ihm nur zu Mittag gegessen, trotzdem nenne ich ihn einen Freund, weil wir sicher hundertmal miteinander zu Mittag gegessen haben, und das ist bestimmt „öfters“, und ich ihn so gut kenne, das sind seine Worte, du kennst mich so gut, und manchmal auch, du bist die Einzige, die mich versteht. Das sagen mir viele Leute, mit denen ich zu Mittag esse, und ich sage es dann höflichkeitshalber zurück, und ich würde so gerne wissen, ob das etwas ist, was man sich untereinander sagt, ob das eine übliche Floskel ist, eine Beschwichtigung vielleicht, oder habe ich eine Gabe, Leute glauben zu lassen, dass ich sie verstehe, so gerne würde ich das wissen, aber das ist nicht zu erfahren. ¶ Aufgrund meiner Unzulänglichkeit rede ich beim Mittagessen anfangs wenig mit dem Mund und viel mit den Augen. Wenn ich gar nicht rede, wird das gerne missverstanden, meine Augen machen aber ihre Arbeit gut, sie sind fließend. Ich spüre beim Mittagessen: Da ist etwas, was über das üblich Fade hinausgeht. Ich spüre, wir werden uns nie wieder hören, wenn ich mich nicht mehr melde. „Es war schön, dich zu sehen. Melde dich, wenn du wieder mal in der Stadt bist“, sagt er zum Abschied. „Mache ich“, sage ich. Ich lächele und winke wie ein Kind. Er spürt meine Wut nicht. Er ist nicht „der Einzige, der mich versteht“. Es wäre sinnlos, ihn zu fragen, warum er so leicht auf den Einzigen, der ihn versteht, verzichtet. Alles, was ich hören möchte, ist jenseits des Sagbaren. Man muss etwas Selbstzerstörerisches in sich haben, um ehrlich zu sein, ich weiß. ¶ Das Telefonat mit dem Bruder liegt mir im Magen. Alles, was mir davor auf der Zunge lag, liegt mir danach im Magen. ¶ „Bei unserem Sohn ist das Exzentrische in Ordnung“, haben die Eltern gesagt, „er steht dazu, er ist stark genug für das Exzentrische“, dabei ist es aber viel eher umgekehrt, und er ist stark, weil meine Eltern das Exzentrische an ihm in Ordnung finden, anders als bei mir. Ich rede jetzt nicht von den kleinen Exzentrizismen, die einfach aus der Nachahmung meiner Person stammten, meiner sich anpassenden, Exzentrizismen ausweichenden Person, wie zum Beispiel sich schön die Nägel zu lackieren, nein, er ist ganz bestimmt nicht aus dem Grund exzentrisch, weil er sich seine Nägel so wie ich lackiert, er ist exzentrisch, weil er Dinge sagt, die ich auch denke, aber nicht sage, oder Dinge macht, von denen ich auch rede, die ich aber nicht mache, anpassungshalber. ¶ Der Bruder ist ein Künstler. Natürlich ist er Künstler, ein exzentrischer Mensch ist naturgemäß Künstler. Sein Exzentrizismus ist so einerseits normal, normal für ihn als Künstler, anderseits, für normale Leute, „ein frischer Blick auf die Welt“. Er hat mich immer gefragt, bevor er etwas abgegeben, ausgestellt, veröffentlicht hat, ob das eh stimmt, ob das eh so ist, und ich bestätigte immer. Meinen eigenen Blick würde ich niemals frisch nennen, mein Blick ist alles andere als frisch, ich habe ihn seit meiner Kindheit und teile ihn noch dazu mit dem Bruder; er ist abgenutzt. ¶ Jetzt fragt er mich nichts mehr, weil er etabliert ist. Jetzt braucht er mich nicht mehr, er ist aber auch kein guter Künstler mehr. Ich finde es witzig, dass er mich nicht gebraucht hat, als er dachte, er braucht mich, und umgekehrt. Aber es ist gut, dass er mich nicht mehr braucht. Er schätzt sich glücklich, hat er unlängst geschätzt. Wir sind nicht aus dem gleichen Ei, ich und der Bruder, nur aus dem gleichen Nest, der Unterschied unserer Schicksale beweist nichts, nichts. ¶ Ich weiß nicht, wie es dazu gekommen ist, dass ich, die nie etwas mit Kindern zu tun hatte, nicht einmal als Kind, mit der Ausnahme von meinem Bruder, plötzlich auf Kinder aufpasse. Dass das eigene Leben einen überraschen kann! Ich vermute, es hängt damit zusammen, dass es mittlerweile allen Eltern klar ist, dass ihre Sprosse durch das Internet eh Zugang zu allem haben, also muss man nur aufpassen, dass sie nicht sterben. Und meine Wohnung ist weich und die Fenster immer zu. Ich halte alle am Leben – oh, wie sehr!

— * Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u.  Ä. gesetzt wird.
— Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.

 

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