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„Arbeit und Andacht“

Anna Baar hielt ihre Innsbrucker Poetik-Vorlesung „An die Musik“ im Mai 2023 im Literaturhaus am Inn. Exklusiv in Quart erscheint hier eine gekürzte Fassung der Vorlesung: Die Schriftstellerin bezieht sich darin mehrfach auf „Streifzüge und Randnotizen“, die erst kürzlich unter dem Titel „He, holde Kunst“ im Wallstein Verlag erschienen sind. Wenn nicht anders angegeben, sind die Originalzitate diesem Band entnommen.

Du holde Kunst
In wie vielen grauen Stunden
Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt
Hast du mein Herz zu warmer Lieb entzunden
Hast mich in eine bess’re Welt entrückt

Schuberts Liebeslied „An die Musik“, komponiert 1817 als Vertonung eines Gedichts des befreundeten österreichischen Lyrikers und Librettisten Franz von Schober, preist die rettende Macht der Tonkunst, lässt sich aber mit gutem Willen – und der gute Wille scheint mir die Voraussetzung jeder glückenden Annäherung zu sein – als dankbare Würdigung der Kunst an sich begreifen.

Der gute Wille also. Er soll in den kommenden Tagen unsere Annäherungen an die Kunst bestimmen. Ich kann Ihnen nicht dienen mit Sachverständnis und professioneller Betrachtung, müsste dilettieren, würde ich mir hier als eine Art „Mensch der Kunst“ den Anschein zu geben versuchen. Es geht also nicht ums Wissen, sondern um die Ahnung, die Fähigkeit und Bereitschaft, sich einem Werk hinzugeben, sich ihm zuzufügen, d. h. zur Verfügung zu stellen als geistiger Resonanzraum. Unser eigener Anteil an der Wirkung des Werks liegt darin, es Anklang finden und uns erschüttern zu lassen, vor allem im guten Sinne.

Dazu eine kurze Geschichte. Ich erinnere mich an André Hellers Rummel auf einer Hamburger Wiese. Der hieß Luna Luna und wir schrieben das Jahr 1987. Der Vater hatte mich 14-jährigen Backfisch auf eine längere Dienstreise mitgenommen. Es gab ein Riesenrad, das aber ziemlich klein war, eine Schiffschaukel auch und Gruselkabinette und Geschicklichkeitskünstler, Gaukler, Musikanten. Was es dagegen nicht gab: laute Discomusik, Licht- und Farbenblitze, und nicht die Hysterie des Schneller-Höher-Weiter. Luna Luna war ein leiser Gegenentwurf zur Vergnügungshalbwelt des Wiener Wurstelpraters, die mich immer abstieß.
Am eindrucksvollsten war mir der „Palast der Winde“, gestaltet von Manfred Deix. Auf der Bühne stand ein schwarzer Paravent mit einem Spruch von Mozart: „Gefurzt wird allzeit auf die Nacht und immer so, dass es brav kracht“. Das F-Wort auszusprechen in Gegenwart des Vaters schien mir schier undenkbar. Er legte sehr viel Wert auf Schliff und „schöne Sprache“. Und jetzt stand dieses Wort da. Und ich schämte mich. Aber dem Vater schien es gar nichts auszumachen. Oder sagen wir so: Dem Genie verzieh er’s.

Warum ich davon erzähle? Die mitgebrachte Textsammlung, das noch unfertige Manuskript zu „He, holde Kunst!“, das ich voraussichtlich mit „Streifzüge und Randnotizen“ untertiteln werde, beginnt mit einem Erlebnis im „Palast der Winde“, einem Schlüsselerlebnis, gleichsam Offenbarung:
„Sowie das Bühnenlicht anging, traten zwei Herren im Anzug vor den Paravent, ersuchten die Schauer um Ruhe und wandten sich feierlich ab, um sich gemessenen Schritts, ungerührt vom Gekicher, das unterdessen anhob, wieder dorthin zu begeben, woher sie gekommen waren. Alle Blicke waren auf die Hinteransicht der beiden Herren gerichtet, auf das tellergroße allesverheißende Nichts anstelle der Hosenböden. Und als die feinen Herren die Allerwertesten durch zwei kreisrunde Löcher in diesem Paravent drückten und kraft gewaltiger Winde Beethovens Neunte bliesen, mindestens den Schlusssatz, johlte die Menge und klatschte. Ich schlug die Augen nieder, steif, zusammengeschrumpft zu einem Häufchen Elend mit glühend heißen Ohren und wollte im Boden versinken im Vorausgehorsam. Bloß nicht zum Vater schauen, dem, Freunde, nicht diese Töne!, die Neunte heilig war und das, was hier vor sich ging, ganz bestimmt ungenießbar. Gleich würde er überschäumen, derlei gehöre sich nicht, sich beim Kassier beschweren, den Eintritt zurückverlangen … Doch als ich losheulen wollte, weil mir nichts Besseres einfiel, mengte sich ein Laut ins festliche Gebläse, so unverhofft und köstlich, dass ich unwillkürlich zu meinem Sitznachbarn aufsah. Es war das Lachen des Vaters. Seither bin ich mir sicher: Kunst ist mehr als Trost in manchen grauen Stunden, mehr als Weltentrückung. Sie ist ein Weg zur Vergebung.“

In „He, holde Kunst!“, natürlich spielt der Titel auf das Schubert-Lied an, wird es um Begegnungen gehen, die mir prägend waren oder sogar rettend, Annäherungsversuche an Orte, Werke, Künstler, denen ich Impulse fürs eigene Werden verdanke. Ich trage dafür gerade Essays und Reden zusammen, Texte aus Sammelbänden, Programmheften, Anthologien und Ausstellungskatalogen aus den vergangenen Jahren, um die man mich ersucht hat. Echos auf Rufe also, um das hässliche Wort „Auftragstext“ zu vermeiden.
Im besten Fall werden Sie in den Leseproben, die Sie zu hören bekommen, Wege und Fehlgänge zur „Schreib-Existenz“ erkennen, die man mir fälschlich nachsagt, denn es gibt nie Gewissheit für derlei „Schreib-Existenzen“, keine Bescheinigung und auch keinen Freibrief. Schreiben ist übrigens nur der letzte Akt einer Alltagsarbeit, die sich um Wahrnehmung dreht, um das Beeindruckt-Werden, das Ordnen von schönen Zu-Fällen zu eigenen Geschichten.

Wie kommt die Musik in den Text?

Dem Roman „Als ob sie träumend gingen“ ist vorangestellt: „KV 618 (Wolfgang Amadeus Mozart)“. Das Ave Verum also. Das zieht sich sozusagen als Tonspur durch die Geschichte. Im Erzählungsband „Divân mit Schonbezug“ sind einigen Texten Zitate aus musikalischen Werken vorgeschoben: „Kindermund“ etwa, wo es um die Vergewaltigungsverbrechen des Kinderpsychiaters Franz Wurst geht, um institutionelle Gewalt, um Selbstschonung durch Wegsehen, beginnt mit einem Zitat aus dem Abendlied von Matthias Claudius: „Verschon’ uns Gott mit Strafen / Und laß uns ruhig schlafen“. Ein Lied zur guten Nacht, das man Kindern vorsingt, im Wunsch nach Seelenruhe. Dem Text „Meermanns Garn“ steht Nick Cave voran mit einem Zitat aus dem Ship Song: „Come sail your ships around me / And burn your bridges down“. Auch „He, holde Kunst!“ sind etliche Anleihen aus der Musik eingeflochten, selbst in Kapiteln, in denen es nicht primär um Musik geht.
Vielleicht fragen Sie sich, wozu das gut sein soll. Es bringt einen in die Spur, einen Soundtrack zu „hören“, die Anwandelung im Vorfeld. Musik heißt erzählen, dort, wo der Begriff nicht hinreicht.

Der erste Sinn

Von Anfang an war das Gehör mein hauptsächlicher Sinn, eine Empfindlichkeit im Guten wie im Schlechten. Darauf will ich eingehen in „He, holde Kunst!“ – mit einer Überlegung zur perinatalen Prägung:
„Vielleicht entscheidet sich in den acht, neun Sekunden, da der letzte Schrei der Kreißenden verhallt ist und der neue Mensch zu seinem ersten anhebt, auf welchen Sinn er geprägt ist. Vielleicht ist es wirklich so wie bei Jean-Baptiste aus Süskinds Mördergeschichte. Hinter einem Fischstand auf die Welt geglitscht an einem Sommertag im achtzehnten Jahrhundert, da sich die Hitze bleiern über Paris ergoss und die engen Gassen nach Verwesung stanken, inmitten der fauligen Jauche aus Eingeweiden und Gräten, blähte das blutverschmierte frischgeschlüpfte Etwas, von dem die Mutter hoffte, es würde prompt verrecken, unverhofft seine Nüstern. Unser Kind spitzte die Ohren, ehe es kopfüber an den Beinen gehalten nach ein paar kräftigen Klapsen auf die Hinterbacken endlich Atem holte, beim Krach der Kanonensalven zu Ehren des Präsidenten, und die Wände bebten und die Kreissaalfenster knacksten und vibrierten.“

Dieses Kind, das ich an meine Stelle setze, verwebt das polyphone, üppige Durcheinander von Tönen und Geräuschen zu seiner eigenen Klangwelt, um aus dem Stegreif Takt und Cantus abzuleiten, das Außen mit dem Inneren gleichsam in Einklang zu bringen.

„Frühförderung“

Von Anfang an gibt es im Leben dieses Kindes etwas, das man heute als „musikalische Frühförderung“ beschreibt: Der Vater spielt Klavier – und die folgenden Zeilen werden Ihnen vielleicht vertraut vorkommen, wenn Sie den Roman „Die Farbe des Granatapfels“ gelesen haben:
„Das Kind lag unter dem Flügel, während Füße in Hausschuhen auf den Pedalen zuckten, und gab sich wohl oder übel an die Unsichtbaren, die sich der Spieler herbeirief, und es fragte sich, ob er sie bemerkte, die Fänger und Verführer, die einem das Schönste versprachen und einem die Liebe erklärten, indem sie Gewalt androhten.“

Natürlich ist der Erlkönig mit im Spiel, wie schon in früheren Texten: Kind und Vater und allerlei Gespenster. Und das Kind, infiziert mit väterlicher Schwermut, bleibt in der Furcht allein, sich angesteckt zu haben mit einem der Sterbensleiden der großen Komponisten, von denen ihm erzählt wird. Früh schnappt es Erzählungen auf von Mozarts frühem Tod am „hitzigen Frieselfieber“ oder Beethovens Taubheit. Krankheit erscheint ihm als Fluch, als göttliche Rache am Künstler, der sich, um Werke zu schaffen, mit teuflischen Mächten verbindet. Der Vater sieht darin die Verheerung des Genius, der die Physis aufzehrt. Seine Mollsonaten (Chopins F-Moll-Nocturne, die Mondscheinsonate …) multiplizieren die Schwerkraft, ziehen einen runter:

„Die Klänge drangen einem nicht nur in die Ohren. Sie dehnten Muskeln und Sehnen, zogen die Kopfhaut zusammen, fuhren in die Knochen, schlugen die Stimmbänder an, machten den Atem stocken.“
Bald schon wird sich das Kind in hypochondrischen Phasen mit den medizinischen Fachbüchern seiner Mutter beschäftigen.

Es gibt allerdings auch Stücke, die es erheben, trösten und mit der Welt versöhnen. Und die alten und jungen Virtuosen auf Vaters Langspielplatten haben noch mehr zu bieten:
„Glenn Goulds Bestehen auf dem Stuhl mit den gestutzten Beinen, dessen Knarren man auf Studioaufnahmen hörte, genau wie der falsche Singsang oder die Angewohnheit, Interviews selbst zu verfassen oder das Fallenlassen angeblich guter Freunde beim kleinsten Missverständnis …“
Derlei Anekdoten begeistern das Kind besonders. Zum ersten Mal trifft es da auf erwachsene Menschen, die trotz ihrer „Schrägheit“ beliebt und sogar berühmt sind. Ivo Pogorelić, der die Nächte nach seinen Klavierkonzerten angeblich in Clubs verbringt und als exaltiert gilt, ist einer von ihnen.
„Der männliche weiße Künstler, ganz im Widerspruch zum konservativen Ethos, wahnhaft und unbezähmbar, extravagant und schamlos, dient den Tugendhaften als Projektionsfigur ihrer geheimen Wünsche.“
Im Kind regt sich der Verdacht, dass die Kunst ein Ausweg aus den strengen bürgerlichen Konventionen sein könnte. Es setzt sich in den Kopf, selbst Klavier zu spielen, selbst ein Meister zu werden, nicht, um bewundert zu werden, sondern um Nachsicht zu finden.

Mitspiel und Befreiung

„Noch vor dem ersten Schultag wurde ich eingeschrieben am Konservatorium und redete mir ein, eines gesegneten Tages genauso berühmt zu sein, wie die Virtuosen auf Vaters Plattencovern und genauso verwegen.“
Wie schnell aus dem Spiel aber Ernst wird, ist bereits im Roman „Die Farbe des Granatapfels“ beschrieben:
„Das Konservatorium war größer als alles, was das Kind kannte; oder vielleicht erschien es ihm nur so, weil es sich da kleiner fühlte als andernorts, ausgesetzt auch. (…) Trommelschläge, wiederkehrende Tonfolgen, Stimmen und Gesänge, die sich verflochten und ineinander verschwammen und als Dröhnen über die Steinstufen fegten, hinunter ins Vestibül und weiter oben durch die riesigen Gänge – Zellentrakte, deren Fluchtlinien in einem anderen Universum zusammentreffen mochten. Tausend Türen gab es da, gewaltige Doppeltüren und dahinter nichts als Frieren (…)“

Das Kind, das kein Kind mehr ist, will die Schule schmeißen, findet neue Idole, will lieber wie Keith Moon sein, nicht wie der blasse Ivo, der trotz seiner Discobesuche eigentlich viel zu brav ist, findet Trost bei denen, die um die Finsternis wissen:
„Nick Cave war mir früh begegnet. An der Schulbushaltestelle hatte mir ein Mädchen aus einer höheren Klasse die Kopfhörer ihres Walkmans unverhofft aufgesetzt. Zu hören war Gemurmel und hartes Geigengekreisch, schrille Gitarrenhiebe. Dann setzte die Stimme ein: Sie haben ihn geholt und hierhergebracht, in die Todeszelle, wofür er beinahe nichts könne, er, der das Antlitz Jesu in seiner Suppe sieht und meint, dass ihm der Kopf brennt, der rasierte Kopf, der verdrahtete. Er habe nichts zu verlieren und keine Angst vorm Sterben, sehne sich danach, dass all das ein Ende fände, das Abwägen der Wahrheit. Er habe so oder so nichts als die Wahrheit gesagt. Die Hinrichtungsmaschine nennt er ‚Mercy Seat‘. Und der Gnadenthron wartet.“
Der junge Mensch begibt sich wieder auf die Suche, geht auf Rockkonzerte, später in die Oper, erlebt das Altbekannte als Soundtrack neuer Filme, denkt sich seinen Teil – und empfindet Mitleid mit dem Vater, der einzuholen sucht, seit er begriffen hat, dass es kein Zurück gibt in die traute „Klavierzeit“:
„Unvergesslich der Sommer nach dem Fall der Mauer, da er ungefragt Sitzplatzkarten besorgte für das Wien-Konzert der Rolling Stones im Prater. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, als ich ihn dabei ertappte, sich Zigarettenfilter in die Ohren zu stopfen.“

Das junge Ich nimmt sich nicht einen Stil zum Vorbild, sondern den „Mut zum Eignen“. Wir werden im Folgenden sehen, dass das nicht allein mit Blick auf Musiker gilt, sondern auch in der Bildenden Kunst und, aber davon noch später, in der Literatur.

Sehen

Der Mensch ist das, was er aufnimmt. Sein Wahrnehmen ist bedingt durch sein Fassungsvermögen, die Kraft seiner Sinne und die Fülle an Perspektiven, die einzunehmen er imstande und bereit ist. So soll es auch im Buch, das da im Enstehen ist, um eine Sparte gehen, die oft ignoriert wird, nämlich die Kunst der Betrachtung.

Bilder sind nicht nur das, was wir mit vermeintlich freiem Auge erkennen – kann das Auge frei sein? –, auch Träume spielen eine Rolle, Erwartungen und das, was im Narrenkastl liegt und hinter Schlüssellöchern, durch die man nicht zu schauen wagt.
Schreiben ist Denken in Bildern. Und meistens freut es mich, ein Bild ins Bild zu setzen, um zu veranschaulichen, welche Bilder wir uns voneinander machen und wie wir andere reizen und sogar manipulieren, damit sie dem Musterbild möglichst nahekommen.

In „Die Farbe des Granatapfels“ gibt es eine Szene, in der eine Großmutter ihre Enkeltochter von einem Straßenmaler porträtieren lässt und sich am Ende empört, weil das Kind auf dem Bild mit ihrer Vorstellung so gar nicht übereinstimmt: „Wie mürrisch sie aussieht und wie ein Bub!“, bemerkt sie und begehrt sogleich einen Preisnachlass, weil sie sich ein fröhliches Mädchen an die Wand hängen möchte. Auf dem Heimweg stellt sie die Enkelin zur Rede.

An einer anderen Stelle des Romans habe ich versucht, mit Vaterbildern zu arbeiten:
„Er besaß einen Koffer voller Bilder, die in kleinen Plastikrahmen steckten, aufgereiht in länglichen Kunststoffkästchen, die er in seinen Projektor schob und über den an einem Kabel befestigten Drücker weiterschaltete, dass ein Bild nach dem andern auf der Leinwand erschien, bis sie am Ende weiß blieb. Er nannte es seine Momentsammlung.“

Das Zeigen von Diabildern legt hier den Versuch bloß, sich und das „Eigene“ anderen so zu zeigen, wie man es gerne hätte. Heute macht man das auf Instagram und Facebook. Der Vater in meinem Text geht allerdings noch weiter, indem er die Bilder mit seinen Geschichten auflädt:

„Bei jedem Bild erklärt der Vater lang und breit, wer oder was zu sehen sei. Meistens erzählt er auch, was nicht zu sehen ist. Zuweilen unterbricht die Mutter. Drück weiter, sagt sie, Drück! Die Gäste danken es ihr, aber das sagen sie nicht. Leise schnarrt der Projektor. Die Gäste auf glühenden Kohlen. Der Qualm ihrer Zigaretten steigt im Lichtkegel auf. Manchmal ein kurzes Schnarchen. Dazwischen wieder das Malmen.“

Sichtbar wird das Bemühen, was man für peinlich hält, tunlichst zu verbergen in einer weiteren Szene, in der die ermüdeten Gäste Interesse zeigen, wo die Hüllen fallen, aber sogleich wieder gähnen beim Anblick eines Bilds, das ihnen nichts bedeutet, dem Kind aber nahezu alles:
„Und einmal faustische Stille, gefolgt vom Ausruf des Vaters, Hoppla, da sind mir die Bilder wohl durcheinandergeraten. Die Schaulust ist endlich geweckt, aber der Vater drückt weiter. Die Gäste, sichtlich gelangweilt vom Anblick des nächsten Bilds, geben sich interessiert. Eine Geburtstagstorte, darauf fünf brennende Kerzen und mehrere Marzipantiere …“

In einem Text für Ö1 anlässlich des 100-Jahre-Jubiläums zur Kärntner Volksabstimmung habe ich geschrieben:
„Was man einmal geschaut hat, bleibt dem Hirn eingebrannt, auch wenn die frühen Bilder auf den Erinnerungshalden durcheinandergeraten und zwischen neueren lagern, was ihre Aussichten schmälert, dass der View-Master in meinem Kopf sie erneut vor mich hin projiziert. Die meisten Projektionen bestimmt allem Anschein nach ein Zufallsgenerator. Für andere braucht es als Trigger nur ein seltenes Lied oder die ersten Takte einer Klaviersonate, den Geruch nassen Laubs …, schon steht mir wieder vor Augen, was ich vergessen glaubte …“

Kommen wir aber jetzt zu den Bildern der so genannten Meister.

„Bildnerische Erziehung“

In „He, holde Kunst!“ wird das Ich erzählen:
„Die Alte, bei der ich Kind war, huldigte den Meistern, indem sie die Mauern ihrer hermetischen Privatheit mit Gemälden schmückte, Fenstern, durch die man entkam in eine Sommerlandschaft mit turmhohen Zypressen und viel zu knappen Schatten, in Höfe und schmale Gassen und winterliche Dörfer oder zu fremden Leuten, jüngeren und alten, die einen völlig nackt, andere in Kleidern posierend, oder ins Gemach des siechenden Offiziers, der, auf dem Krankenbett liegend, gestützt von einem Helfer, mit letzter Kraft die Nüstern eines Pferdes streichelt.“

Auch hier wird ein altes Bild neuerlich aufgegriffen. Denn schon im Roman „Die Farbe des Granatapfels“ wird die Bedeutung der Bilder im Salon der Großmutter angedeutet:

„Über die Jahre meines Aufwachsens hatte ich sie (die Bilder, Anm.) bei jedem meiner seltenen Besuche neu entdeckt, sie von Mal zu Mal aus einer anderen Perspektive betrachtet – vom Aufschauen zum Anschauen, das, wenngleich in anderer Hinsicht, ein Aufschauen blieb. (…) Was galt, war einzig ihre magische Kraft, mich augenblicklich auf jene Empfindungen zurückzuwerfen, da ich als Kind bis zum Narrenblick in die Welten der großen Meister eingedrungen war – in die Haarrisse, Pinselspuren und Craqueluren des barocken nackten Frauenleibs, in die düstere Sterbekammer des armen Offiziers, in die leichthändig mit einem Kohlestift hingekritzelte Taube, die, und das allein machte sie bedeutsam, von einem weltbekannten Freund so hingekritzelt worden war, in die lichtlose Nachtlandschaft im handtellerbreiten schwarzen Holzrahmen, in den Hinterhof mit der wie wartend sich im schmalen Schattenwurf der Gebäude drängenden Menschentraube.“
Es geht nicht ums Detail, nicht um erwiesene Wahrheit, nicht um exakte Prüfung, was auf einem Bild nachweislich zu sehen ist, nur um die Anwandelungen beim Betrachten.

Auch die bildnerische Prägung wird bestimmt von Mythen und allerlei Anekdoten, die sich um Künstler ranken. Die Maler erweisen sich als widerspenstig, wild und unbezähmbar oder jedenfalls anders als die braven Bürger, denen es darum geht, was andre von ihnen halten. Die bildende Kunst erscheint dem Kind als neuer Fluchtweg aus der konservativen Welt der Angepassten. Hier ist aber nicht der Vater die unbeugsame Instanz, sondern die Großmutter, die „ihre“ Maler verehrt, obwohl sie ihren Prinzipien in manchem widersprechen. Zum Beispiel scheint sie sich an der Schamlosigkeit der Künstler zu ergötzen, etwa an Frauenkörpern in unkeuschen Posen. Das Kunstwerk legitimiert selbst Gewalt und Nacktheit. Es legitimiert alles, was man vor Kindern geheim hielt.

Im Erzählungsband „Divân mit Schonbezug“ ist vom Später die Rede: Da bewundert das Ich, inzwischen am Gymnasium, Mitschüler aus dem bildnerischen Zweig, die nach Wundbenzin riechen und ab und an Haschisch rauchen. Und in „He, holde Kunst!“ komme ich einmal mehr auf dieses Motiv zu sprechen:
„Ich wollte nie in den Musikzweig, wollte lieber malen, als Klavier zu üben, wollte zu denen gehören, die nach Tabak rochen und Henna und Wundbenzin und löchrige Bluejeans trugen und ihr Haar nicht kämmten und einen Dreck auf Make-up und Markenkleidung gaben. Die traf ich in den Pausen bei der Räderscheune, wo die Kunstzweigschüler zum Rauchen zusammenfanden. (…) Es bestand kein Zweifel: das waren die wahren Künstler …“

Ein neues Kunst-Verständnis

Nach der Schulzeit geht es dem Ich im werdenden Buch nicht um Kunstverständnis im herkömmlichen Sinne, sondern ums wache Auge:
„Zu einem Kunstwerk aufsehen, sich nach dem Zufallsfund bücken oder ein Loch in die Luft schauen, um es mit Bildern zu füllen – ist es nicht das Gleiche?“

Da geht es an einer Stelle um Museumsbesuche, die es tödlich langweilen:
„Keine Museen, bitte, kein Schön, das einen anfliegt, sich aufdrängt, blinkt und reizt! Archäologische Stätten, Kirchen, Orte der Andacht und solche, die Sightseeing-Fans als sehenswürdig gelten, langweilen mich zu Tode. Berührungsverbot und Stauraum, meist zu viel des Guten. Dinge und Betrachter stehen sich gegenüber, oft genug getrennt durch Lichtschranken, Kordeln, Pfosten. Fesselndstes Objekt: das flackernde Fluchtwegkästchen mit dem laufenden Männchen, das aber nicht vom Fleck kommt, wie schockgefroren beim Versuch, der Öde zu entkommen.“

Wo andere nicht hinsehen, wo man nicht hinsehen soll, erwacht eine trotzige Schaulust:
„Das Schöne im Unscheinbaren liegt in der Erzählung von der Neuentdeckung. Leere Schaufenster rühren mich, auch die scheinbar vergessenen und herabgekommenen: Melancholie des Scheiterns. Ein Ort, als Blickfang gedacht, anderen ein Schandfleck und mir umso lieber. Er lässt sich neu bestücken mit dem selbst Erfundenen.“

Ein Besuch im renovierten Wiener Narrenturm ruft dem Ich die Tücken des Wegsehens ins Gedächtnis: Die allgemeine Gesellschaft verlangt offenbar nach Schonung vor dem Ungeheuerlichen. Und wie einst Kaiser Joseph II., der Individuen, die Abscheu erregen mochten, durch den Bau des Wiener Narrenturms aus dem Blickfeld tilgte, wird der Blick durch die jüngste „Modernisierung“ des Narrenturms abermals gelichtet. Die Ästhetisierung der Erbarmungslosigkeit ist weit fortgeschritten: Der neue Narrenturm erscheint als „Sightseeing-Schlager für Ausflügler und Touristen, die den Nervenkitzel ohne das Risiko einer Mitleidenschaft suchen. Totalsaniert und geweißt prunkt die einst schauerliche fünfstöckige Rotunde mit den schmalen Fenstern dem Schaulustigen entgegen. Die allgemeine Gesellschaft will alles appetitlich, will den früheren Tatort als gepflegtes Museum samt Museumsshop, will kleine Plastikschädel, die im Dunkeln leuchten, will den behaglichen Schauraum und gibt sich in diesem Framing moralisch überlegen gegen den Voyeurismus, den sie durch Neuinszenierung zu bezwingen trachtet.“

Lesen und Schreiben

„Gerade fiel mir ein, wie der Vater gesagt hat, mein Werdegang sei seltsam, wo es doch die Musik war, die er gefördert habe, auch das Malen, Zeichnen. Und wie man sich täuschen könne. Dass sich die liebe Verwandtschaft im Blick auf die Literatur nicht so bewandert gab wie in anderen Bereichen, niemand sie besetzt hielt oder auch nur versuchte, sie mir schmackhaft zu machen, steigerte meinen Hunger nach Sprache und Erfindung. Auch dass der Schriftstellerei etwas Verwegenes, Verruchtes innewohnte. Sie galt als kauziges Hobby, solange man kein Genie war, als Laster der Desolaten, als Ventil für den Weltschmerz hoffnungslos Verliebter, als zwanghafte Entblößung eines exzentrischen Geistes.“

Zur Sprache

Neulich fiel mir ein „Lied an die Sprache“ ein, das ich aufbewahren will. Eine Art frühes Gedicht:
„Sprache, du kannst alles. / Ich wette, du würdest mich retten / vor meiner Wirklichkeit, / Sprache, wenn ich dich hätte.“

Das sagt eigentlich alles: Die Sprache ist mir störrisch, sie sperrt sich mir und fremdelt, ist aber alles entscheidend. Man muss irgendwie in den Sattel, ohne sie zu bezähmen. Vielleicht erinnern Sie sich: In der Kinderzeit konnte ein harmloser Reim über Leben und Tod im Pausenhof bestimmen. Auszählreime waren das, Machtinstrument der Anführer, und die Anführer waren im Kleinen wie im Großen stets die mit der gültigen Sprache, die Schlagfertigen, Scharfzüngigen, denen das Sagen gehörte wie ein altes Erbrecht. Die anderen standen mundtot, kuschten und parierten, wenn die Wortmächtigen neue Reime bestimmten, weil alte nicht mehr taugten, ihren Willen durchzudrücken, oder Verse so lange kürzten oder durch weitere Strophen ergänzten, bis das Resultat passte:
En-ten-ti-ni / sava-raka-ti-ni – die Mitläufer standen im Kreis und nickten dazu im Takt. Wer nicht an den Zufall glaubte, galt ihnen als Spielverderber. Wer petzte, hatte verloren, noch ehe er mitspielen durfte. (…) Die Kinder sind überall so. Sie neiden einander das Glück. Und wenn zwei zur selben Zeit zufällig dasselbe sagen, rufen sie Eins, zwei, drei, vier / und das Glück gehört mir! und klopfen dreimal auf Holz, und wenn sie richtig in Fahrt sind, verdunkeln sie ihre Spiele gegen die Welt der Erwachsenen.“ („Divân mit Schonbezug“: Kugel-Kugel-rot)

Wer keine Sprache hatte, jedenfalls nicht die rechte, hatte keine Chance auf den sozialen Aufstieg.

Ich bin, wie man so sagt, zweisprachig aufgewachsen als
Kind eines österreichischen Vaters und einer jugoslawischen Mutter. Da ich schon als Kleinkind viel Zeit bei den dalmatinischen Großeltern verbrachte, während die Eltern in Wien studierten, waren meine ersten Wörter serbokroatisch. Aber das war nur ein klitzekleiner Vorsprung. Mein österreichisches Umfeld lehrte mich fast zeitgleich erste deutsche Wörter. Ich plapperte also doppelt und vermischte manches, ehe ich begriff, dass man nicht überall beides verwenden konnte, um sich verständlich zu machen. Als ich mit vier Jahren aus Wien nach Kärnten kam und in den Kindergarten, wurde ich redescheu, schämte mich für das Deutsch, das anders war als das der meisten Kärntner Kinder, eine Art Österreichisch ohne besonderen Einschlag, garniert mit Ausdrücken alteingesessener Wiener und jiddischen Begriffen, beeinflusst wahrscheinlich auch von den vielen Märchen, die man uns Kindern vorlas.
Heute noch finden Bilder aus den Kindermärchen Eingang in mein Denken, zum Beispiel in einer Szene in „Divân mit Schonbezug“, in der die Ich-Erzählerin mit der inzwischen betagten Großmutter telefonierend nicht weiß, was sie sagen soll in Anbetracht der Erinnerungen, die das Einzige bleiben, womit sie sich die Liebe zur Alten noch erklären kann:

„Und wie ich wieder nichts sagte und an die Erstürmung dachte und daran, wie gut es war, die lockige Telefonschnur um einen Finger zu wickeln oder den Hörer zum Abschied auf die Gabel zu knallen, und an die alten Lieder und die riesigen Ohren meiner verfallenen Schönen, Großmutter, sag, warum hast du plötzlich so große Ohren? – Damit ich dich hören kann. Ruf mich an! Ruf mich an! – Willst du mich gar nicht fressen? …“

Lektüren und Versuche

„Die Bücher in unserem Regal: Philosophie, Geschichte, Mutters Ärztewälzer, in die ich mich vertieft hab, bevor ich lesen konnte, und allerhand Lebenshilfe, die mir offenbarte, woran die Eltern litten.“
Meine Mutter war in den 80er Jahren Donauland-Abonnentin, bestellte aber nie etwas, sodass ihr jedes Mal das Quartalsbuch geschickt wurde und sich bei uns schon bald die Simmel-Bücher türmten, die niemand lesen mochte. Einmal schickte man ihr ein populärwissenschaftliches Krankheitshandbuch zur praktischen Selbstdiagnose bei gängigen Beschwerden. Und dieses Krankheitshandbuch hat mich durch meine Kindheit und frühe Jugend begleitet, weil ich immer etwas Außergewöhnliches spürte oder zu haben glaubte.

Die Bücher meines Lebens sind mir oft zugefallen als Geschenke von Menschen, die eine Ahnung hatten von dem, was mich zu ihrer Zeit provozieren und begeistern konnte.
Früh begann ich mit ersten Schreibversuchen. Es passte mir, etwas zu äußern, das schwarz auf weiß in der Welt stand, obwohl es keiner hören oder sehen musste. Die Hauptsache war, das Innen ein Stück weit im Außen zu wissen, der Welt etwas auszurichten und hinzuzufügen. Das Beste daran war: Ich konnte im Schreiben in meinem Tempo denken, also ziemlich langsam, die Gedanken ordnen, ohne hinweggefegt und unterbrochen zu werden von den Schnellen, Lauten.
Mit acht Jahren begann ich während der langen Sommer in Dalmatien, Postkarten und Briefe zu schreiben an die vermissten Eltern und an die österreichischen Freundinnen, und aus diesen Briefen wuchsen notgedrungen später auch Geschichten, weil mir die Nacherzählung meines einförmigen Alltags nicht spannend genug erschien, mit denen mitzuhalten, die in den Sommern mit den Eltern auf Urlaub fuhren und allerhand erlebten. Monotonie und Sehnsucht bestimmten mein Inselleben bei den kriegsversehrten Großeltern, wo es niemanden gab, mit dem ich spielen konnte. Oft hatte ich wochenlang keinen Kontakt zu Kindern meines Alters. Also begann ich damit, Ereignisse zu erfinden, schrieb von gefährlichen Riffen und sinkenden Überseeschiffen, von Haifischen und Schlangen. Die Großmutter sah es nicht gern, da ich diese „Briefe“ sämtlich auf Deutsch verfasste und sie nichts anstreichen konnte. Als pensionierte Lehrerin muss sie das gejuckt haben. Jedenfalls hatte ich beim Schreiben in ihrer Gegenwart immer ein schlechtes Gewissen, fühlte mich ertappt beim allergrößten Fehler: etwas zu verbergen.
In „Die Farbe des Granatapfels“ gipfelt die Selbstanklage im Verfolgungswahn, der sich zum Alptraum steigert:
„Über allem deine Augen, die nach den Zeilen spähen, sich nach mir verdrehen wie die Augen eines Leguans. In meinen Träumen hältst du sie mir drohend vors Gesicht, die Ansichtskarten an Vater und Mutter: Ist das wahr? Ist das alles wahr? Ich will die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, verdammtnochmal! Und wieder: Wie kannst du mir das antun, Kind! Dann zerreißt du sie, ratsch! und Jebem ti boga!, zerreißt die Mördersprachenkrakel, die du nie entziffern konntest, zerfetzt auch die Insellandschaften und Dorfansichten auf der Rückseite, wirfst die Schnipsel in die Luft, dass sie wie Konfettiregen auf uns herabfallen, und dann dein verrücktes Lachen, in das ich einstimme, zuerst zögerlich, dann wie durchgedreht, dann plötzlich ernst: Ich scheiß auf deine Wahrheit!

Das Gefühl, beim Schreiben etwas verbergen zu müssen, das mitgeteilt werden wollte, wurde ich nie ganz los. Mit sechzehn Jahren begann ich, meine Briefe an ein namenloses, fremdes Du zu richten – und hatte ein schlechtes Gewissen wegen des Papiers, das ich dafür verbrauchte und letztlich fast immer zerknüllte, zerfetzte und verbrannte. Selbst die so genannten „Tagebuch“-Notizen waren zum Großteil erfunden, mein Ich der Held eines Schicksals, das mir zum Glück erspart blieb oder zu meinem Bedauern bisher nicht vergönnt war. Scheu, Scham und Einsamkeit waren überwunden, solange ich mir das Leben fantasieren konnte, aber zu beiden Seiten des schmalen Grats aus Schwindel, Versehen und Selbstbetrug lauerte ein Abgrund. Man glaubt ja irgendwann selbst an das Zurechtgelegte, wenn es zur Obsession wird.

Um halbwegs unverdächtig vom Schreiben leben zu können, heuerte ich mit neunzehn Jahren bei Wiener Zeitungen an. Wenn ich schon nicht selbst Dichterin sein konnte, wollte ich wenigstens über Dichter schreiben. „Die Leute, die ich traf, waren meine Helden, und nicht weil ich weiß Gott was von ihnen gelesen hätte, sondern weil sie sich, so glaubte ich jedenfalls, ungeniert Dichter nannten. Milo Dor zum Beispiel, Dževad Karahasan oder Žarko Petan und Christian Ide Hintze, der mir im Dezember 1993 im Wiener Café Ritter aus seinem Leben erzählte, von seinem Klo am Gang, von Sappho und Allen Ginsberg und seiner Schule für Dichtung.“
Mmmhhhmm, machte ich, und so, als sei mir ein Licht aufgegangen, während Christian Ide Hintze von seinem Leben erzählte. Ich brauchte alle Kraft, den Drang zu unterdrücken, die Rollen aufzubrechen – er der Dichtungsfachmann, ich bloß Journalistin einer Studentenzeitung. Er war der Auskunftsgeber, ich hatte zu notieren, was er mir offenbarte.
„Gerne hätte ich ihm von den Nächten berichtet, da ich mich dazu verstieg, Geschichten zu erfinden, statt Interviews abzutippen. In einem schwachen Moment schnitt ich ihm beinah das Wort ab, um ihm anzuvertrauen, dass ich das Zeug dazu habe (…) Natürlich, ich sagte nichts, auch nichts vom großen Gewinn bei einem Preisausschreiben, dem nagelneuen Mercedes, den, wie sich herausstellen sollte, als ich ihn auslösen wollte, nur ausgehändigt bekäme, wer die Gebühr überwies, die ich nicht aufbringen konnte.“

Bald darauf beschloss ich, das Zeitungsschreiben künftig besser bleibenzulassen, und begann stattdessen, „Gebrauchstexte“ zu schreiben. Da musste man den eigenen Namen nicht daruntersetzen und konnte trefflich flunkern.
Damals trat Ilse Aichinger (ohne dass ich sie kannte) zum zweiten Mal in mein Leben. Zu einer Zeit, da ich mein Medizinstudium mehr oder weniger schwänzte und die Nächte mit dem Schreiben verbrachte, fiel mir ein Interview Iris Radischs mit Ilse Aichinger in die Hände. Wie ich als Kind einer Ärztin am Versuch gescheitert, ebenfalls Ärztin zu werden, hat sie mich mit einem Satz mit meinem Schleichweg versöhnt, ja buchstäblich gerettet: Schreiben ist kein Beruf. Erstmalig stand fest, dass meine Nebensache in ihrer Notwendigkeit jeden Beruf überträfe.

Ansätze

Man kann das Schreiben nicht wie einen Beruf ergreifen. Es ist Arbeit, Andacht, Anmaßung und Luxus – oft auf Kosten der Nächsten, die sich um einen sorgen, einen entbehren, ertragen, trösten und bekochen.
In „Nil“, meinem dritten Roman, ist das Schreiben beschrieben als eine Art „einsamer Kult, wie ihn Trinker an sich vollziehen, etwas in sich zu betäuben. Einmal auf dem Papier ist die Furcht zwar gebannt, nur noch ein leiser Schmerz oder sogar zum Lachen, wie mit dem richtigen Abstand besehen; aber da ist noch ein Rest, mit dem man einsam bleibt, allein mit dem fremden Wesen, das tief in einem haust und dunkle Befehle gibt. (…) Niemand kriegt zu Gesicht, was wirklich in mir gespenstert. (…) Was einem heute die Luft nimmt, kann morgen lächerlich sein wie die Konserven der Mutter, für ein Morgen bewahrt, aber dem Gestern geweiht. Der Leser aber nähme mich morgen beim heutigen Wort, und keiner ahnte die Not, sobald ich gezwungen bin, etwas fertigzubringen oder gut sein zu lassen. Nichts ist je gut noch fertig erzählt, und liegt nicht im Akt der Vernichtung das reine Wesen der Dichtung?“

In „He, holde Kunst!“ will ich darauf eingehen, was es bedeuten kann, sich „hinzugeben“ ans Schreiben oder an andere Künste – und wie trügerisch die Sache mit dem Ruhm ist:

„Wer weiß von der Not des Künstlers, den Manen und Gespenstern, denen er Eintritt gewährt, ohne vorherzusehen, wie er sie loswerden könnte? Wer weiß, was es heißen kann, endlich hinauszutreten nach Monaten oder Jahren abgeschiedener Arbeit, um für eine Saison beklatscht und gehätschelt zu werden oder ausgepfiffen, und wenn sich das Auge endlich an die Helle gewöhnt hat, abermals abzutauchen und Neues auszubrüten, worüber dann wieder welche zu Gerichte sitzen, die keine Vorstellung haben von dem, was drinnen abgeht: Basteln, fabrizieren, sich an etwas abarbeiten … Nichts davon trifft zu. Der Künstler ist nicht Berufsmensch noch Geschäftsbesitzer, höchstens Zwischenhändler einer Obrigkeit, die ihm selber fremd bleibt. Ruhm gebührt ihm nicht. Deshalb bezahlt er ihn (womöglich ganz zu Recht) mit der härtesten Währung: Integrität, Gesundheit oder sogar mit dem Leben.“

Schreiben als stetes Ringen, als Besessenheit der Bedauernswerten, eine Art „Schamanismus“? Es gibt auch den anderen Zugang. Man mag ihn pragmatisch nennen: sich etwas einfallen lassen, ausdenken, recherchieren, aufschreiben, lektorieren, drucken lassen, fertig.
Der sich selbst als „freier Schriftsteller“ bezeichnende Mensch ist aber in jedem Fall ab dem Zeitpunkt unfrei, da er seine Arbeit unter die Leute bringt, erst recht, wenn daran verdient wird.
Er ist der Logik des Betriebs verpflichtet, seiner Anhängerschaft, den Freunden und Verwandten und dem moralischen Kodex seines sozialen Umfelds, den er entweder ernst nimmt oder mit Unernst bemäntelt, um nicht als Streber zu gelten. Was zählt, sind in erster Linie Herkunft und Gesinnung und „Betroffenheit“ vom gewählten Thema.

Ingeborg Bachmann hat sich mit ihrem unvollendeten Roman „Der Fall Franza“ in die Nesseln gesetzt: In einem Alptraum wähnt sich die Protagonistin in einer Vernichtungskammer, in die ihr Ehemann tödliche Gase einlässt. Dieser Ehemann, ein angesehener Psychiater, wird als Sadist beschrieben, der die Protagonistin nach Art der KZ-Doktoren für Versuche heranzieht. So erfährt Franza die Tragödie der anderen selbst an Leib und Seele. Ingeborg Bachmann, hieß es vonseiten der Kritik, stilisiere sich voller Selbstmitleid zum Opfer der deutschen Geschichte.
Die Identifikation mit dem Schicksal der jüdischen und für wertlos befundenen Menschen mag auf den ersten Blick tatsächlich obszön erscheinen. Man muss aber unterscheiden, ob sie aus existentieller eigener Not erfolgt, aus dem Bemühen um Solidarisierung, Einsicht und Verständnis, oder nur um sich damit Geltung zu verschaffen, um Kapital zu schlagen aus dem Leid der anderen. Aneignung und Anteilnahme sind nicht gleichzusetzen.
Unter dem Vorwand der Rücksicht bleibt das Unrecht oft alleiniges Problem der Betroffenen – und rückt leicht ins Vergessen.

Meine Rede zur Literatur anlässlich der Eröffnung des Bachmannwettlesens 2022 war angelegt als eine Art „Jugend in einer österreichischen Stadt 2.0“. Ich wollte anschaulich machen, was Jugend in dieser Stadt in der Generation nach Bachmann bedeuten konnte. Ich kam auf ein monströses Verbrechen meiner Zeit zu sprechen, verübt an hunderten Kindern: die von höchster politischer Stelle vertuschten Sexualverbrechen des Kinderpsychiaters Franz Wurst. Politiker und Sponsoren waren zum Teil verschnupft, auch einige Aktivisten, jeder aus anderen Gründen.
Im Nachhinein denke ich: Gut, wenn alle sich gemeint fühlen, wenn man Namen ausspart und manches „verklausuliert“, wie ein Lästerer sagte. Ich nenne es ein „Anspielen“. Den Rest macht der Resonanzraum. Der Raum der wahren Empfindung. Jeder soll sich finden, auch wenn er es nicht zugibt. Und so soll es sein: Streitbar sein, es bleiben!
Schön und beängstigend war, wie viele sich im Guten angesprochen meinten. Die sich an mich wandten, waren
vor allem dankbar. Vor allem solche, denen Franz Wurst zum Verhängnis geworden war: Keiner von ihnen fragte, ob mich eigene Erfahrung dafür qualifiziere, über sein Leid zu berichten.
Am meisten gibt mir zu denken, dass manche die Rede als mutig bezeichnet haben. Wir hier riskieren wenig, wenn wir Verdrängtes hervorholen, verglichen mit Rednerinnen und Rednern in autoritären Staaten. Die müssen um ihre Freiheit und um ihr Leben fürchten. Solidarisierung kann nicht schweigen heißen.
Den Stummen die Stimme zu leihen, ist die Pflicht des Erzählers – auch um den Preis der Anfeindung und des Triggervorwurfs. Werden die allseits Verschonten nicht um Erfahrungen gebracht, die ihnen helfen könnten, um neue Betrachtungsweisen und Handlungsmöglichkeiten? Und kann es nicht heilsam sein, was einen sprachlos macht, endlich benannt zu finden?

Exkurs

Ein kleiner Exkurs zuletzt in Anbetracht des Kahlschlags der Kunst mittels „Korrektheit“:
„Korrektheit ist verlogen und vor allem lieblos, wo sie dazu dient, Ressentiments zu tarnen und einer Toleranz, die doch nichts anderes meint als teilnahmslose Duldung, gnädig das Wort zu reden. Das wütende Unvermögen zu differenzierter Betrachtung, der Unwille zur Sorgfalt, erst recht zur Anteilnahme, mündet in Fanatismus.“ Dem meist elitären Bemühen um eine solche „Korrektheit“ liegt oft ein Dünkel zugrunde, das chronisch schlechte Gewissen mancher „Bessergestellten“. Uneingestandene Herablassung, Ignoranz und Feindseligkeit werden abgegolten durch vorgetäuschte Sorge. Mir scheint die Attitüde des „großzügigen“ Hinwegsehens über „Besonderheiten“ fast genauso schlimm wie offene Diskriminierung.
„Korrektheit“ hat längst auch in der Kunst Einzug gehalten. Sie ist ein Weg zur Vergebung, aber nicht alle gehen ihn. Die Freiheit der Kunst schützt den Schöpfer, nicht aber den Betrachter. An ihm liegt es, Antwort zu finden auf das, was zur Welt gebracht ist. Das Werk stellt ihn auf die Probe, gleich einem Rorschachtest, weil was er darin erkennt auf ihn selbst zurückgeht – der Teil, den er denkt, bleibt seiner.
Ich habe zu Beginn vom guten Willen gesprochen als eine Vorbedingung glückender Annäherungen. Der gute Wille, die Kunst als Gegenentwurf zu begreifen, als Infragestellung des Normalen und Gesollten, scheint abhandenzukommen. Was nicht in den Kram passt, wird herabgewürdigt. Maßgenommen wird am eigenen Fassungsvermögen, das leider oft beschränkt ist.

Die Freiheit der Kunst ist gefährdet, solange es Leute gibt, die Künstler disziplinieren wollen oder nur jene fördern, die nach ihrer Pfeife tanzen oder, wie es heute immer wieder heißt, „die Fragen der Zeit“ erörtern – im Sinne derer freilich, deren Brot sie essen. Will man Museen und Bühnen als Moralanstalten? Dann lasst sie uns gleich zusperren!
Jubeln wir der Kunst keine Aufgaben unter! Sie kann politisches Versagen nicht ahnden noch begleichen. Sie kann beim Leben helfen, was mehr als genug ist.

Der Abdruck der Originalzitate aus den Büchern von Anna Baar erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Wallstein Verlags. Vielen Dank an das Institut für Germanistik der Universität Innsbruck und das Literaturhaus am Inn für die Erlaubnis zum Erstabdruck.

 

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