Auf den nachfolgenden Seiten 104 bis 113 breitet Sophia Mairer in ihren Aquarellen innere Landkarten aus. Zudem hat die Künstlerin die folgende Gedankensammlung beigelegt:
„Das Persönliche fühlt sich gefährlich an und ist das, wovon man am meisten Ahnung hat, Betonung auf Ahnung. Ich erinnere mich an Apfelbäume, saftiges Grün, das Läuten der Kuhglocken, die Aussicht auf die gegenüberliegenden Dolomiten – ein idyllisches Bild, Betonung auf Bild. Der bäuerliche Hof meiner Großeltern auf 1450 Höhenmetern in Osttirol könnte direkt auf eine Postkarte gedruckt werden.
Ich erinnere mich an Ursula K. Le Guins wütenden politischen Roman, der auf einem Waldplaneten spielt, auf dem Waldwesen, die man Athsheaner nennt, in der Lage sind, Nachrichten aus der Ferne untereinander zu übermitteln, indem sie Signale über Bäume senden. Auf Athshe ist – bis zur Ankunft der Kolonisten, die sich der Ausbeutung des Planeten verschrieben haben – das Reich des Geistes in die Gemeinschaft der Bäume integriert, und das Wort für Welt ist Wald. (Robert Macfarlane, Im Unterland)
Den kindlichen Blick schweifen lassend, standen die Bäume an der Waldgrenze wie in Grüppchen zusammen, dazwischen ein paar Einsame. Ihnen fühlte ich mich besonders nahe. Ah, da drüben steht der Großvater, im Schatten des Krieges. Und schon entstand eine Familienaufstellung, eine Methode in der Psychologie, die mit Projektionen arbeitet – wie das auch in der Kunst oft der Fall ist. Der Psychiater Hermann Rorschach versuchte mit Faltbildern, dem Inneren auf die Spur zu kommen; darin sah ich eine Ähnlichkeit zum Bilderaufklappen in einem Magazin. Eine Art Rätsel. Auf den nächsten Seiten kann man seinen Projektionen freien Lauf lassen: Ghosts of the Past, Platzhalterautos, Doppelgänger:innen, Anführungszeichen, Schuld, Sehnsucht, Gewalt, Nuklearfamilie, Kriegsschatten, Blauer Kuss, wütender Blick, Geschwister, Monster, Trauerweide, Busen?
Der Wald wird besonders gerne für Projektionen verwendet, man denke nur an den Stammbaum. Wie könnte eine Familie noch aussehen? Was kann man aus der eigenen Familiengeschichte lernen? Wie steht es um unsere Beziehung zur Landschaft? Einige Gletscher bestehen schon heute nur noch in der Erinnerung. Die Aquarelle sind eine Anlehnung an ein ‚Restructuring of inner Maps‘*. Idylle und Trauer liegen nah beieinander.
les choses de la terre
Elle se cache à l’intérieur
de racines d’arbres pour
nous parler autrement.
schreibt Etel Adnan in ‚Dans la forêt‘.
Frei übersetzt:
die Dinge der Erde
Sie versteckt sich im Inneren
der Baumwurzeln um
anders zu uns zu sprechen.“
* Vgl. Bessel van der Kolk, The Body Keeps the Score: Brain, Mind, and Body in the Healing of Trauma.