Die international bekannte Künstlerin Katharina Fritsch hat für diese Ausgabe von Quart den Umschlag gestaltet. Die Einladung der Redaktion, auch im Heftinneren eine Bildstrecke zu gestalten, hat sie völlig neu interpretiert: Auf den folgenden Seiten 29 bis 36 präsentiert sie keine eigenen Arbeiten, sondern Werke befreundeter Künstlerinnen und Künstler – und gibt damit erstmals einer Öffentlichkeit Einblick in ihre private Sammlung Carlo. Dazu hat Kay Heymer einen einleitenden Text geschrieben:
Katharina Fritsch ist im Jahr 1984 einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden, als sie – gerade von der Düsseldorfer Akademie gekommen – mit ihrer strengen und verführerischen Arbeit „Acht Tische mit acht Gegenständen“ in der von Kasper König kuratierten Ausstellung „von hier aus“ in den Düsseldorfer Messehallen einen vielbeachteten Auftritt hatte. In den folgenden Jahren setzte sie sich in der internationalen Kunstszene als eine der konsequentesten Stimmen der zeitgenössischen Skulptur durch und gehört heute zu den wichtigsten Künstlerinnen ihrer Zeit.
Mit ihrem Erfolg ist Katharina Fritsch immer sehr zurückhaltend umgegangen, sie hat sich niemals im Rampenlicht als Star präsentiert und besonderen Wert auf ihren Status gelegt. Sie hat sich dagegen eher unauffällig und diskret für andere Künstlerinnen und Künstler engagiert. Seit ihrer Zeit als Studentin an der Akademie unterhielt sie zahlreiche Freundschaften mit anderen Künstlerinnen und Künstlern, mit denen sie sich intensiv auseinandersetzte, diskutierte und mit denen sie gemeinsame Projekte und Ausstellungen verwirklichte. Zum Beispiel die mit dem Künstler Alexej Koschkarow organisierten Ausstellungen in der Kunsthalle Düsseldorf 1999 („Damenwahl“) und im Schaulager Basel 2016 („Zita – IIIapa, Chamber Piece“). 2019 kuratierte
Katharina Fritsch eine Gruppenausstellung mit Angela Fette, Matthias Lahme und Alexej Koschkarow in der Galerie Schönewald und Beuse in Düsseldorf.
Bisher in der Öffentlichkeit nicht bekannt ist die sehr umfangreiche und seit Jahren anwachsende Sammlung Carlo, mit der Katharina Fritsch nun in Erscheinung tritt. Es ist die Sammlung einer Künstlerin. Sie folgt keinen kunsthistorischen oder „musealen“ Kriterien im üblichen Sinne. Was sie besonders inspirierend macht, ist ihre bedingungslose Subjektivität und eine völlige Unabhängigkeit von spekulativen Entscheidungen, wie sie vielleicht bei vermögenden Privatpersonen zu beobachten wären. Viele der Kunstwerke in ihrer Sammlung sind impulsiv erworben worden, allein aufgrund ihrer emotionalen Wirkung und der ästhetischen Qualität, die für die Künstlerin entscheidend ist. Es gibt in der Sammlung so unterschiedliche Werke wie südostasiatische Figuren oder Klassiker der Fotografiegeschichte des 20. Jahrhunderts, die wichtigste Rolle spielen jedoch Werke von Künstlerinnen und Künstlern, mit denen sie befreundet ist und die als ihre ständigen Gesprächspartner dazu beitragen, ihre eigene Kunst weiterzuentwickeln, sie zu verfeinern und gelegentlich auch zu korrigieren. Ebenso entwickelt sich das Werk dieser Künstlerinnen und Künstler unter gelegentlicher gegenseitiger Beobachtung. In diesem Beitrag werden acht Arbeiten präsentiert, deren kleine Formate einen Kabinettcharakter suggerieren, der als erster Hinweis auf die Existenz dieser Sammlung im Medium der Zeitschrift durchaus angemessen ist, ihre tatsächliche Größe allerdings noch nicht preisgibt. Die Sammlung Carlo wird einen eigenen Ort finden, an dem sie in ihrer Gesamtheit präsentiert werden kann.
In der Sammlung Carlo – so könnte man schlussfolgern – spiegelt sich das Werk der Künstlerin Katharina Fritsch. Dies ist allerdings nicht der Fall. Die in diesem kurzen Beitrag vorgestellten Arbeiten zeigen deutlich, dass es Katharina Fritsch gerade nicht darum geht, formale Ähnlichkeiten zusammenzustellen und gleichsam als Steinbruch für ihre eigene Arbeit zu nutzen. Zwar gibt es einige Werke, die eine gewisse Affinität zu ihrer eigenen Arbeit aufweisen, der eigentliche Zusammenhang besteht jedoch auf einer grundlegenden Ebene. Was die Künstlerinnen und Künstler auszeichnet, die in der Sammlung Carlo vertreten sind, ist eine bedingungslose und kompromisslose Individualität, die sich nie an vorherrschenden Trends oder sozial erwünschten Moralvorstellungen orientiert. Aus dieser bedingungslosen Individualität erwächst in den Arbeiten eine universelle Kraft.
Es gibt also keinen vorherrschenden Stil und auch keine vorherrschende Gattung – Malerei und Zeichnung, Skulptur, Rauminstallation (ein unangenehmes Wort, mit dem Kunstwerke beschrieben werden, die skulpturales Handeln in einen ganzen Raum ausweiten und sich nicht auf ein einzelnes Objekt beschränken), Fotografie und Arbeiten aus anderen Materialien. Schon die wenigen hier vorgestellten Künstlerinnen und Künstler verdeutlichen eine erhebliche Vielfalt, in stilistischer wie in biografischer Hinsicht – sie sind alle bereits erfahrene Kunstschaffende und zwischen 52 und 76 Jahre alt.
Für die Zeitschrift Quart wurden Werke ausgewählt, die sich sehr klar vor einem neutralen Hintergrund präsentieren. Auf dem Cover ist eine Vase von Katharina Fritsch selbst zu sehen, die gleichsam den Charakter der Präsentation vorgibt. Das schwarze Gefäß wirkt in seiner Gestaltung perfekt und anonym. Die zwingende Formgebung lässt vergessen, dass es sich um eine handgearbeitete Skulptur handelt.
Bei aller Verschiedenheit ist den hier abgebildeten Kunstwerken dieses Changieren zwischen persönlicher Gestaltung und anonymer, scheinbar industriell produzierter Perfektion gemeinsam, diese Künstlerinnen und Künstler wollen nicht durch vordergründige Expressivität auffallen.
Angela Fettes (*1970 in Hamburg) Gemälde „Die Blume des Es“ von 2019 stellt eine geometrische Konfiguration vor Augen, die fast an die Darstellung eines aus Papier gefalteten Kragens erinnert, in dessen Mitte die beiden Großbuchstaben ES in einer Serifenschrift präsentiert werden. Es weckt Assoziationen an eine Tradition konstruktivistischer Malerei der Jahre zwischen den beiden Weltkriegen, und das „ES“ kann zum einen auf den Klang dieses kurzen Wortes verweisen – Angela Fette hat eine besondere Beziehung zur Sprache, sie schreibt neben pointierten Essays auch Gedichte, in denen der Klang der Worte eine wesentliche Rolle spielt. Zum anderen kann sich ein Betrachter durchaus auf Sigmund Freud beziehen, dessen psychoanalytische Triade aus Es, Ich und Über-Ich für die Surrealisten eine wichtige Rolle spielte. Auf das Unbewusste wird in diesem Bild angespielt, seine einfache Formensprache formuliert eine rätselhafte Offenheit. Angela Fette interessiert sich allerdings weniger für Psychoanalyse als vielmehr für Fragen der Metaphysik und die kosmische Dimension bildender Kunst.
Das kleine Hinterglasbild von Peter Josef Abels (*1954 in Köln) scheint durch seinen Titel bereits erschöpfend beschrieben: „Palmen in Ozeanien“. Es handelt sich um einen zweifarbigen Tintenstrahldruck hinter Glas von 2020, der wie eine Buchillustration aus dem 19. oder frühen 20. Jahrhundert wirkt. Abels ist Bildhauer, und in Malereien wie dieser kleinen „2-D-Skulptur“ geht es ihm um Schichtungen, die eine dreidimensionale Wirkung entfalten. Der Surrealist Max Ernst verwendete ähnliche Vorlagen für seine Collagenromane wie „Une semaine de bonté“ (1934). Abels’ kleines Bild evoziert eine vielleicht idyllische und exotische Welt aus der Vergangenheit und trägt sie durch die Farbigkeit und den Rahmen aus hellem Holz dabei gleichzeitig in die Gegenwart. Dabei spielt er bewusst mit Klischeevorstellungen von Landschaftsmalerei.
Größenverhältnisse verschieben sich gelegentlich, und die beiden Arbeiten von Nina Ahlers (*1958 in Bremen) mit dem Titel „Lidschatten“ (2017) sind dafür gute Beispiele. Lidschattenpaletten sind üblicherweise zwischen 10 und 15 cm groß, diese beiden aus Wollfilz, Styropor und Pappe nachgebildeten Paletten messen dagegen einen ganzen Meter in der Höhe. Ohne den Werktitel zu kennen, könnte man die beiden Objekte auch für abstrakte Reliefs in der Tradition der Minimal Art halten, tatsächlich sind sie aber extreme Vergrößerungen, wie sie in der Kunstgeschichte seit Claes Oldenburg immer wieder vorgekommen sind. Die spezifische Verfremdung der Arbeiten von Nina Ahlers erzeugt eine verführerische Verunsicherung, die besonders stark wirkt, weil die Arbeiten auch eine anonyme Perfektion ausstrahlen. Die intensive Farbigkeit erzielt sie durch eine besondere Strukturierung des Filzes, der bei ihr eine ganz eigene Spannung zwischen klarer Formgebung und weichem Material erzeugt, die Affinitäten zur Pop Art aufweist. Zwei parallele Arbeiten sind es, weil ihre gegenständliche Deutungsmöglichkeit zwischen den zwei Lesarten changiert: Es könnten Augen oder Lidschattenpaletten sein, auf die hier angespielt wird.
Die unbetitelte Zeichnung von Alexej Koschkarow (*1972 in Minsk) dagegen ist eine Demonstration künstlerischer Virtuosität von großer Selbstsicherheit und Humor. Die Zeichnung beeindruckt durch die große Schnelligkeit und Ökonomie der Ausführung – keine Linie ist überflüssig, und mit einem Minimum an Formen bringt er das Wesentliche seines Motivs zum Ausdruck. Seine Zeichnungen sind häufig Studien für bildhauerische Arbeiten, aber mit ihrer eigenwilligen Handschrift sind sie vollkommen autonom. Die Zeichnung erzählt offenbar eine märchenhafte und groteske Episode – ein kleines Monster wird von einem Mann in der Hand gehalten, während es sein Gehirn aus dem geöffneten Schädel greifen will. Koschkarows Zeichnungen schildern regelmäßig solche gleichzeitig fantasievollen und unwirklichen Geschichten, die witzig und schockierend zugleich wirken. Er spricht mit derartigen Bildern unsere eigenen atavistischen Impulse an, die wir meistens verdrängen möchten.
Die Arbeit von Heinz Hausmann (*1959 in Ederen, NRW) wurde als Kombination von Konzeptkunst und Malerei beschrieben. Dieses sehr kleine Werk von 2015 trägt den Titel „ca. 25 mg Hornisse an Marie Bonaparte“ und stammt aus der Serie „Prinzessinnen in Käseschachteln“. Es zeigt die Schauspielerin Catherine Deneuve in der Rolle der Marie Bonaparte auf der Couch in der Praxis von Sigmund Freud liegend. Die Szene ist ein Zitat aus dem deutsch-französischen Fernsehfilm „Marie und Freud“ von 2004. Naivität, Witz und äußerste Raffinesse mischen sich in dieser unprätentiösen Arbeit.
„Melo Corona 02“ ist der Titel dieser 2018 aus Seide gefertigten Arbeit von Anita Oettershagen (*1946 in Waldbröl). Es ist schwer zu sagen, was genau dieses Objekt ist – es wirkt wie natürlich gewachsen, ist aber mit hoher Kunstfertigkeit hergestellt worden. Die Sphären von Natur und Kultur treten hier in ein mehrfach gebrochenes Verhältnis. Das Naturhafte der Arbeit entrückt sie auch aus der Tagesaktualität und lässt sie zeitlos wirken. Auch hier fallen Rätselhaftigkeit und Verführung in eins und konfrontieren uns mit einer Wirklichkeit, die neu und gleichzeitig uralt zu sein scheint.
Und was kann man mit den beiden Porträts der Brüder Grimm anfangen, die der Maler Michael van Ofen (*1956 in Essen) hier als helle, sphärische Erscheinungen wiedergegeben hat? Es ist eine überzeugende Malerei, Abbildungen der physischen Erscheinung der beiden großen Sprachforscher des 19. Jahrhunderts sind sie sicher nicht. Der Reichtum ihrer Literatur kann als Ansporn dienen, der Komplexität dieser oberflächlich betrachtet einfachen Bilder auf die Spur zu kommen. Kunst zeigt bei näherer Betrachtung oft viel mehr, als man auf den ersten Blick sieht. Dafür sind diese beiden Gemälde – wie auch die anderen Werke dieser Auswahl – treffende Beispiele.
Eine Keramik der russischen Künstlerin Janna Grak (*1971 in Minsk) bildet den Abschluss dieser Auswahl. Es ist die stark vergrößerte Darstellung eines Käfers, mit großer Detailfreude und Sorgfalt aus glasierter Keramik hergestellt. Die Künstlerin selbst sieht in ihren Skulpturen „Transformer (…), mit denen die Wahrnehmung der Betrachter stimuliert wird, unendliche mögliche Kombinationen im Bewusstsein freizusetzen“. Sie möchte die Vielschichtigkeit des Raumes veranschaulichen. Auch ihre Arbeit eröffnet hinter der formal klaren und anscheinend leicht erfassbaren Oberfläche einen Raum anregender und vielleicht auch verwirrender Ambivalenzen.
Diese kleine Gruppe von Arbeiten ist nur ein erster Eindruck von der Vielfalt und dem Reichtum der Sammlung Carlo, die auch wesentlich großformatigere Werke und ganze Räume umfasst. Sie verdeutlichen jedoch schon einige der Grundlagen, auf denen diese im besten Sinne idiosynkratische Sammlung aufgebaut ist. Formale Klarheit vereint mit inhaltlicher Offenheit, poetischer Ausdruckskraft, Geheimnissen und Schönheit sind Bestandteile dieser außergewöhnlichen Zusammenstellung origineller und eigenständiger Künstlerinnen und Künstler unserer Zeit.
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