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Feldstudie Truden Umgebung Landvermessung No. 6, Sequenz 5 Von Neumarkt ins Fleimstal

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autorinnen und Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte). Wir befinden uns auf einer Geraden, die vom Südtiroler Vinschgau ins Trentino führt. An der Sprachgrenze ganz im Süden notiert Gabriele Petricek unentwegt Zahlen und Namen, kurvt die Berge hinauf und hinab, beschirmt von Pilzen und einer persönlichen Kartenleserin. Hier ihr Reisebericht:

Viele meiner Erzählungen gehen von Landkarten aus, verhandeln mit Windrichtungen, sprechen von Gegenden, in denen ich nie war oder im Gegenteil, oft, fließen mir fremde Gegenden, in denen ich zuweilen wochenlang sitze und schreibe-koche-esse-schlafe, unter der Hand völlig natürlich in den Text ein, an dem ich schreibe-koche-esse-schlafe.

Mein Kreis beginnt im Norden bei Auer / Ora, reicht im Süden bis unter Salurn / Salorno, erstreckt sich im Osten links neben der Etsch /Adige bis hinter Truden / Trudena und Altrei / Anterivo und baucht rechten Ufers an der Rückseite des Nonstals / Val di Non die Orte Tramin / Termeno, Kurtatsch / Cortaccia, Margreid / Magrè und Kurtinig / Cortina einfassend in die Gegend unterhalb der Salurner Klause / Chiusa di Salorno gegen Graun / Grauno. Sprachgrenze.

Ich besorgte eine Landkarte bei Freytag & Berndt, fragte, wer mich begleiten wolle. Schließlich nahm Isa – aus gemeinsamer Innsbrucker Kindheit, zuverlässige Kartenleserin – die Landvermessung mit mir auf.

Was mich bewogen hatte, auf der Landkarte mit meinem Zeigefinger beim Kloster Gschnon zu landen, weiß ich nicht mehr. Wohl, weil es zentral mitten im Naturpark Trudner Horn / Parco Naturale Monte Corno im Kreis Q42 sitzt, rundherum Wanderwege. Mir schien’s in der am Boden ausgebreiteten Zweidimensionalität als Ausgangspunkt in alle Richtungen ideal zu liegen. Ich wollte im Bergkloster Gschnon um Quartier ersuchen, negierte Höhenlinien, rief an.

Fuhr Mitte September nach Innsbruck, verbrachte Tage bei Quehenberger, meinem Protagonisten aus „Die Unerreichbarkeit von Innsbruck“1, und Stunden im Tiroler Volkskunstmuseum in den 1928 eingebauten gotischen Stuben aus dem Pustertal / Val Pusteria, dem Eisacktal / Valle Isarco, aus Sulzberg / Val di Sole und dem Vinschgau / Val Venosta, die ältesten sind von 1430. In Quehenbergers blauer Küche spielten wir Schach und blätterten durch seine Bände über Pilze, er kochte und ich sah seinen Balkonpflanzen beim Wachsen zu.

Als die Kartenleserin endlich eintraf, fuhren wir gleich nach Bozen / Bolzano und weiter nach Neumarkt / Egna – Tramin / Termeno. Der Bahnhof liegt zwischen den beiden Orten und rechts der Etsch. Es regnete nieselig, als wir ausstiegen. Pater Peter Prugger, der letzte noch im Kloster Neumarkt verbliebene Bruder, hatte angeboten, statt im Bergklösterchen Gschnon im Neumarkter Kloster zu nächtigen, und drauf bestanden, uns abzuholen. Er verblüffte mit konkret aufbereiteten Vorschlägen für unsre Neumarkter Tage, sogar das Büro der Touristeninformation würde, wiewohl in Umstrukturierung, anderntags um halb neun für uns aufsperren. Das Wetter werde bestes Wanderwetter sein, er schlug beim Abendessen im Refektorium vor, am nächsten Vormittag den Bus nach Truden zu nehmen, von dort den Cisloner Berg zu umwandern.

Nichts anderes hatte ich mir für den ersten Tag vorgenommen, die Fahrpläne umsichtig ausgedruckt: Linie 144 überwindet ab 6:41 Uhr alle zwei Stunden vom Busbahnhof unweit des Klosters in siebenundzwanzig Minuten die 900 Höhenmeter nach Truden und aus dem Wanderführer2 wusste ich vom mit je 370 Höhenmetern Anstieg und Abstieg bezeichneten Weg „47 Um den Cisloner Berg“, 3 Stunden Gehzeit.

Wir warfen alles übern Haufen, vielmehr – übern Cisloner Berg, als wir im Büro der Touristeninformation eine Broschüre über den „Schwarz-Weiß-Weg“, den „einzigen Weitwanderweg in Südtirols sonnigem Süden“ entdeckten, nahmen zwar den Bus nach Truden, wanderten jedoch am Westrand unseres Kreises von Norden nach Süden bis nach Altrei / Anterivo, zum Umkehrpunkt der Linie 144.

Wie Weg 48 in meinem Führer, nur nicht eine Schleife gehend nach Truden zurück. Der „Garten Eden zwischen Truden und Altrei“. Entsprechend, prosaisch, der „Schwarz-Weiß-Weg“-Hinweis: 3 h, 9,6 km, 434 Hm rauf, 372 Hm runter.

Wir kamen an großen Tafeln vorbei, die uns den Weg in DE, IT und E als „Saumpfad“ bezeichneten. Wiederentdeckte Altstraße, auf der früher mit Saumtieren Güter transportiert wurden. Das veraltete Wort Saum bedeute „Last“.

Wir rasteten bald an einem schattigen Plätzchen mit Holztisch und Bänken, Rungganö, blickten auf lichte Lärchenwälder und ferne imposante Bergzüge, ohne uns zu fragen, wie sie benannt, schnabulierten, Truden grad erst entgangen, vom mitgebrachten Proviant, vor uns idyllisch ein seerosenbesetzter Löschteich, gefiel uns im Weitergehen ein weglang ziehender Staketenzaun mit Weidenästchen handwerklich verflochten. Auf einer Tafel steht, dass dieser genau hier in den 70er Jahren ersonnene „Naturpark Trudener Horn“ fünf Gemeinden umfasse: Altrei, Montan, Neumarkt, Salurn und Truden – alle im mir zugezirkelten Gebiet – und mit 6851 ha der kleinste, zugleich artenreichste Südtiroler Naturpark ist. Wegweiser aus Holz mit Angaben zu Gehzeiten an jeder Weggabelung ließen die Kartenleserin unterbeschäftigt. Bald fiel ihr auf: Wir brauchten nahezu doppelt so viel Zeit wie angegeben.

Ohne jemandem zu begegnen, kamen wir an eine solide Hütte, „Schuaster-Schupf“ stand über der Tür, vielleicht jener im Wanderführer als „Pinterschupf“ bezeichnete „Unterstand mit Heulager für 7 Personen“? Die Kartenleserin faltete ihre Landschaft auf, mir die umliegenden Flurnamen vorzubeten. Zwitscherte uns am Wegweiser sitzend ein Singvogel den Weg zur „Peraschupf“, 1432 m, und zur „Krabes Alm“, 1540 m. Wir zogen über die Wiesenschulter empor zur „Peraschupf“, PRIVAT stand an einem Baum und ein Zeichen für VIDEO ÜBERWACHUNG. Wagten uns nicht näher ran.

Sanft bergauf Richtung Süden über Lärchenwiesen und am Saum sonndurchleuchteter Nadelwälder erreichten wir die „Righenschupfe“, 1476 m. Barocke Wolkenballen weilten am tiefblauen Prospekt überm Sattgrün gepflegt ausliegender Hügelweiten. Parklandschaft. Unsre Gedanken darin wurden den wohlgerat’nen Wolken ähnlich, leicht und heiter, Gedanken, wie sie sich bei solch’ Flanieren von selbst einstellen – und es war eher maßvoll großzügiges Flanieren denn eine bergsportliche Anstrengung – in einer von Unbill offenbar freigeräumten Landschaft befiel uns ein Zauber, Entzücken über das Glück der Natur. Nein, kein Kitsch.

Wir hielten gegen Südwesten, über moorig stille Wiesen, die bei jedem Schritt seufzten, kamen ans „Langmoos“ und die „Baita del Felice“, 1452 m. Übereinandergestapelt zwei Gebirgszüge überm Hochmoor. Imposant der oben gelagerte Wolkenstock, mächtiger als die almwiesengeprägte ruhende Bergkette darunter. Die Fleimstaler Alpen / Dolomiti di Fiemme, wusste die Kartenleserin und erklärte, wir befänden uns seit „Righenschupfe“ im italienischen Sprachraum, redete mir vom Auerhahn, der ruhige, helle Wälder mit reichlich Unterholz bevorzuge, sein Bestand jedoch auch hier zurückgehe, erläuterte noch die Wesensdifferenz der ungleichen Zwillinge Weißhorn / Corno Bianco, 2313 m, und Schwarzhorn / Corno Nero, 2439 m.

Das dunkle Horn aus rötlich grauem Bozner Quarzporphyr, vulkanischen Ursprungs, zeige die weichen, nicht minder steilen Almen. Auf einem Fundament aus Porphyr das helle Horn, erdgeschichtlich mehr als fünfzig Millionen Jahre darauf gestapelt, die, als Grödner Sandstein, Bellerophonschichten und Werfener Schichten ablesbar, von Meeresbedeckung zeugen, porös, durchlässig, und glänzt sein Gipfel von weißem Sarldolomit wie Zuckerguss, entzückt. Ziehe sich also noch eine Grenze durch hier, eine geologische, dozierte die Kartenleserin. Genug der angelesenen Erdbeschreibung an diesem Punkt. Weiter jetzt.

Rechts abzweigend, hinauf zur Jausenstation „Krabes Alm / Malghette“, 1540 m, steiler Güterweg, schweißtreibend, ein Pick-up bergab. War wohl der Wirt. „Di. Ruhetag“, im Wanderführer stand’s. Übersehen. Wir hatten ausreichend Proviant. Setzten uns auf eine Bank vor der Almhütte, kauten am Mitgebrachten und stierten in die fern dichtweidenden Wolken, die sich doch wegschoben und Weitblick gönnten: Ach, Dolomiten! Kalksteinriffe. Bevor der Geologe Déodat de Dolomieu (1750–1801) ihre Zusammensetzung analysierte, „Bleiche Berge“ – „monti pallidi“ genannt. Gleich verglich ich sie mit der daneben aufgestellten Schautafel, las Gipfel und Höhen laut vor: Cima del Focobon, 3045 m, Cima dei Bureloni, 3130 m, Cima della Vezzana, 3192 m, Cimon della Pala, 3196 m, Croda della Pala, 2960 m, Passo Rolle, 1970 m, Colbricon, 2603 m, und weitere Kalkspitzen, von der Wolkenbank noch nicht freigegeben. Waren zufrieden.

Und spurten, wanderführerabweichend auf Weg 9 nach Altrei runter. Kamen ab vom „Saumpfad“ in dünkleren Tann. Fichte, Mischwald. Stiller, wir wurden stiller, und im flotten Bergabschritt voran die Kartenleserin. Plötzlich, hätt’ ihn beinah umgetreten, stand einer direkt vor mir: Prachtexemplar! Pfiff die Kartenleserin zurück, legte mich auf den Waldboden, fotografierte ihm auch unter die Kappe, ließ ihn aber stehen. Verboten ohnehin, und war ob seiner Identität auch nicht völlig sicher. Wenige Minuten weiter der nächste Prachtkerl. Zweifelsfrei. Fliegenpilz, einer wie sonst nur im Märchen. Der belegte das Wesen des kapitalen porcino vorhin: Sind die Gesellen mit der roten Kappe gemeinhin der Fingerzeig auf Steinpilz-Dasein. Paar Schritte weiter lohte safrangelb stolz eine Pilzpersönlichkeit aus feinem Gras hervor, noppige Flachkappe, Manschette, und ich keine Ahnung, wer er war. Ich würde Pilze prinzipiell lieber der Fauna zuschreiben denn der Flora. Bevor wir aus dem Waldweg auf den „Saumpfad“ wieder traten, noch so eine fabelhafte Existenz: ochsenblutfarbig, hell geränderter Schirm eingebuchtet, spiegelbildlich zugewandt ein zweiter Fruchtspross, wie Meeresfrüchte, Rochen.

Fotografiert alle. In Altrei in einer Bar den Bus abwartend alle fragwürdigen funghi an Quehenberger nach Innsbruck whatsgeappt. Der antwortete, er könne die Identitäten des Safrangelben und des Ochsenblutroten leider nicht aufklären, dass ich – die Dame am Zug – wie er schrieb, diesen untadeligen Steinpilzkönig nicht in Gefolgschaft, ergo aus dem Spiel genommen – ein grober Fehler, unverzeihlich. Schachmatt eigentlich.

Halb fünf vorbei, war noch Zeit zum Bus. Altrei, einzige deutschsprachige Gemeinde im Fleimstal, 399 Seelen. Kirche, Friedhof, stattliche Bauernhäuser, Hotel, halbverwischt eine alte Inschrift an einer Hausmauer, unverständlich, der Kartenleserin zutraulich zugehende Katzen, eine Bar, Aperitivo, und führte der Ort leichte Luft, etwas Heiteres. Wir spürten den losen, tastfingrigen Wind, vento sottile, und fühlten uns nicht fremd. Tiefer Rundumblick in Täler, weitverlaufend gegen Gebirgsketten.

Die Busfahrt gegen Norden am östlichen Rand des Trudener Naturparks entlang. Kehrenreich. Ließ die Straße über St. Lugan / San Lugano tiefer ins Fleimstal / Val di Fiemme schauen. Vorbei am Stampfer Moos und hinter Truden südwestlich über enggewundene Straßen durch die an Felsschroffen und über Weinhügel ursprünglich verstreuten Bergdörfer Mühlen / Molini, Glen / Gleno, Montan / Montano, Pinzon / Pinzano gegen Neumarkt / Egna, Autostazione. Wir waren müde, ich hatte von den Drehungen, Wendungen, Abfahrten und Anstiegen Bildkaskaden im Kopf. Seekrank und sehkrank von den Richtungswechselstakkati. Hungrig war ich auch.

Im Refektorium wartete himmlischer Risotto auf uns. Von Signora Brigitta vorbereitet, an deren feinen, bodenständig italienischen Abendmahlen wir uns jeden Abend erfrischen konnten. Wir hatten so viel Fürsorge nicht erwartet, durften den Tisch mit Pater Peter und einem Gast teilen, der uns als „Josef, er hilft uns beim Beten“ bekannt gemacht. Die Kartenleserin und ich keine Pilgerinnen, leben in Gebeteabstinenz seit unsrer frühesten Kindheit in Innsbruck, als die Fresken von Max Weiler in der Theresienkirche auf der Hungerburg verhängt noch.

Ich sammelte meine müden Knochen früh ins Bett und sammelte meine Glieder müd’ wieder raus. Nahmen einen späteren Bus nach Salurn, Linie 120, dort eine Stunde abzuwarten, mit Linie 127 gegen Nordosten rauf nach Gfrill / Cauria, 1330 m, um von dort zum Bergkloster Gschnon zu finden, das Pater Peter angeboten hatte uns zu zeigen.

Die Salurner Klause: Geier / Monte di Salorno, 1084 m,
im Osten und Fennberg / Favogna, 1034 m, im Westen verengen der Etsch das Bett, Durchlass. Die Etschschifffahrt brachte der Gegend Wohlstand, Güter durften talwärts nur von heimischen Flößern befördert werden. Die Bergfahrt durch Schiffe, gezogen von Pferdegespannen über Treppelwege. Die 1859 eröffnete Brennerbahn verdrängte den Güterverkehr auf die Schiene. Neben Bahn und Fluss sortieren sich die Brennerautobahn und eine Staatsstraße durch die Engstelle. Diese Grenze zwischen Südtirol und Trient, Sprachengrenze auch.

In Salurn fielen uns Grüppchen jüngerer Männer in Trainingsanzügen auf, Asylanten, Geflüchtete. Einige warteten an der Bushaltestelle. Gegenüber an der Bar im Salurner Hof sagte ein Mann aus dem Ort, wenn er aus dem Fenster seines Büros schaue, sehe er viele ausländische Kinder in die Schule gehen, keine Italiener, Dunkle.

Die Männer stiegen bald aus, Erntehelfer wohl, auf dieser Höhe Trauben, nicht Äpfel. Die Busfahrt erneut ein Himmelfahrtskommando durch Kurven, Kehren, Kehrentriple und doppelte Kehrentriple, atemberaubend, schoss ich, höher und höher geschraubt, Fotos in die Salurner Klause hinein, brach sie vielmehr aus der Klause heraus: dieser Abbruch zu beiden Seiten in den Talboden. Von oben gefiel mir der dichte Zug der LKW-Ameisen auf der A22 / E45 nicht, unablässig eine Unruhe unten, stetes nie endendes Hin und Her.

Schüttelten busentlassen unsre Glieder aus, wir waren die Einzigen bis zur Endstation. Kein Durchzugsverkehr, verbellten kühle Windstöße die Ruhe. Verschlossenheit und ausgesetzt einer Atmosphäre des Gesehenwerdens: Schauen alle sechzig Gfriller aus ihren Höfen vielleicht? Keineswegs feindlich. Wir blickten bei der Kirche vom Friedhof aus gegen Wälder und muldige Wiesen, dreingestreut Dörfer, Bergbauernhöfe vereinzelt. Hielten uns nicht auf, waren verabredet spätnachmittags in Gschnon.

Die Kartenleserin gab den Takt vor. Verbot uns alles, was für einen Abstecher am Weg gelegen. Links die Abzweigung zur Königswiese / Prato del Re, 1642 m, laut Wegweiser in 1 h zu erreichen, war der von mir auf der Landkarte ermittelte Mittelpunkt des mir zugedachten Kreises. Lieber weiter Richtung Gfriller Sattel / Sella di Cauria, 1450 m. Dort rechts die Wegweiser zum Weißensee / Lago Bianco, 1671 m, Schwarzensee / Lago Nero, 1717 m, erreichbar in 1 h 10, ausgeschlagen. Hornalm / Malga Corno, 1715 m, in 1 h 50: nicht dran zu denken bei unserem Schneckentempo, sagte sie. Behielt Recht. Kennt meinen Sinn fürs Trödeln und für Ablenkungen. Ich nenne es Flanieren.

Hinterm Gfriller Sattel wurde der Wald dichter. Unwegsamer. An einer Stelle ragte ein Wegweiser nach Gschnon halb entwurzelt und verdreht ins Nirwana. Weiter steil bergab auf kaum entzifferbarem Grund. Schwenkten in einen sanfter abfallenden Weg, der auch an unser Ziel führen sollte, und strebten rascher eine Welle an, gefällig grasbedeckt und gerundet, schauten weit voraus das Etschtal unten im Glast und hielten darauf zu. Jäh riss ich die voranschreitende Kartenleserin grob zurück. Ob ich spinne, da wären noch paar Meter bis zum Abgrund.
 
Wir entschieden uns doch für den steilen Pfad bergab. Sahen dann ins Tal über die Erhebung der Rosszähne / Denti di Cavallo, 606 m, rechts an der Etsch, bis zum Kalterer See / Lago Caldaro. Schieben sich bis in den Horizont von der einen und von der anderen Seite etschabfallende Bergrücken ins bläulich verschleierte Bühnenbild. Prospekte. Weiter, weiter. Das Bergklösterchen, schlicht und kompakt aus Holz, ehemals ein Bauernhof, vierkant, nordseitig gegen einen Berg hockend, umschließt mit der ostseitig anliegenden Kapelle ein Atrium, westseitig ein schöner Obstgarten. Ein Brüderpaar hatte den Hof mit dem Kirchlein „Maria Schnee“ anno 1630 den Kapuzinern überlassen. Siesta. Dann kam Pater Peter in seinem kleinen Auto an, sperrte auf. Im Innenhof feingeschlichtet Holz und Gerätschaft unterm Traggebälk. Fensterchen mit grünen Läden im Obergeschoß. Vierzehn Mönchszellen, jede nach fürs kapuzinische Ordensleben wesentlichen Heiligen oder Adeligen benannt. Überlegte, in welcher ich schreiben könnte. Elfenbeinturm. Ohnehin illusorisch ohne Internet, vielleicht in einer der drei Kammern gegen Osten, zum Atrium, ohne Fernsicht. Aus allen anderen Kammern aufblickend, der LKW-Kolonnen im Tal ansichtig, die mich bedrängen: Aufbrechen nach Süden, nach Norden, sofort?

Am dritten Tag endlich das Programm des ersten realisiert. Den Kurvenfilm nach Truden raufgewickelt wieder, Linie 144. Hielten uns nicht länger auf im Dorf, zogen los. Die Kartenleserin hatte zu tun. Weg 2, 2B, wieder 2 und 3, führen viele Wege um den Cisloner Berg, einer, der längere (3 Std.), entlang von Steilabstürzen. An einer Kehre Postkartenblick auf die Eggentaler Hörner, sanft das Grimmhorn, ihr Sattel. Der Weg gepflastert aus dunklem Porphyr und hellem Dolomit. Wurd’ Truden im Anstieg schnell klein. Wuchsen Landstriche grünhügelig, dunkelgrün, blaugrau, dunkelblau der grauen Wolkendecke zu. Zwitscherten Vögel in windgefärbten Ästen von Regen. Schüchtern besonnt die Rast am Jägerkreuz, 1383 m, entzoomte uns den Ausblick fleimstalweit. Lichtdurchglänzt der Weg zur Aussicht Leger zum Tiefblick ins Etschtal übern Kalterer See gegens Nonstal. Auf der Rundkuppe moosig der Weg im Lärchenwald mitten durch eine geruhsam weidende Herde Kühe. Graufellige. Stirnfransen und Ohren blond, kesse Hörner. Ein Dutzend. Respektvoll und vorsichtig unser Schritt.

Der Rest rasch erzählt. Was haben wir nicht alles gesehen, gehört, erlebt. Gestreift bestenfalls, nachgelesen nur. Müsste eher heißen: Was alles haben wir nicht gesehen, gehört, erlebt? Flüchtig übersehen alle Orte, in die wir gelangten, von dort los zu wandern oder wandernd anzukommen. In Bussen geschaukelt, tangiert jene nur, durch die ihre Strecken führen. Eine Reise ist wie ein Streiflicht. Ich könnte erfüllende Dezennien in der Gegend verbringen. Ins Detail gehen.

Im Zug von Bozen nach Innsbruck schon. Rekapituliere, dass Südtirol für mich eine letztlich gelungene Mischkulanz / mesculanza / mixture aus Österreich – genaugenommen aus Tirol und Italien ist, aber eben Süd-Tirol blieb. Jedenfalls eine Zwischenlandschaft fürs internationale Gütertransportwesen. Transit. Abschnittweise neben der Bahntrasse, später talüberspannende Brückenstrecken der Brennerautobahn in Untersicht. Laufen in emsigen Ameisenreihen Schenker, FERCAM, GLS, Nothegger, Alpetrans, TRAGOR TRUCK, Spöhrlein Bus, Spedycija Transport, Spedex, Transitalia, Corsi Verona, ups, Gruber logistics, DSV, AQUILA, Gartner, Quehenberger (nicht verwandt), TRANSISTRA, FedEx und andere Laster in die Verdichtung am Grenzübergang Brenner / Brennero. Individualverkehr kaum. Erscheint mir das Etschtal auch ob seiner Apfelplantagen als ein Streifen logistisch perfektionierter Emsigkeit. Die übernetzten Spalierapfelträger wirkten auf mich wie Felder, wie Aufmärsche mit Regimentern von fruchtüberladenen Baumrekruten. Verschwunden die arkadischen Zustände. In Innsbruck stieg ich aus. Als die Kartenleserin Wien erreichte, waren Quehenberger und ich vom Ausflug auf die Hungerburg zurück wieder.

Werde Innsbruck ab nun aus jeder Richtung spielend erreichen und beschließe fix, auf jeder zukünftigen Reise zunächst Innsbruck anzupeilen, angekommen gleich mit Quehenberger auf die Hungerburg fahren, lustvoll die Fresken von Weiler bestaunen. Vor allem das eine am Eingang rechts, in dem ein Tiroler Schütze dem gekreuzigt Sterbenden eine Lanze in die Seite stößt und das Blut spritzt.

1    Gabriele Petricek: Die Unerreichbarkeit von Innsbruck, Sonderzahl, Wien 2018
2      Franz Hauleitner: Dolomiten – Band 2, Eggentaler Berge mit Latemar und Rosengarten, Rother Wanderführer, 9. aktualisierte Auflage, München 2022

 

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