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Marginaltext (15): An den Rand des Dorfes

Mit dem Wort Marginalie wird gewöhnlich Nebensächliches bezeichnet, etwas am Rande oder an der Grenze einer Sache Liegendes. In Quart werden unter diesem Titel zentrale Texte über das Leben an der Peripherie neu veröffentlicht, denen trotz ihrer herausragenden Qualität zu wenig Aufmerksamkeit beschieden ist. Sei es, dass sie schlicht zu wenig bekannt, längst vergriffen oder nur schwer zugänglich sind, sei es, dass sie an entlegenen Orten aufbewahrt oder gar in Archiven verschwunden sind. Folge 15: die frühe Erzählung „An den Rand des Dorfes“ des später mit Dramen wie „Kein Platz für Idioten“ und Drehbüchern wie „Die Piefke-Saga“ berühmt gewordenen Tiroler Autors Felix Mitterer.

Seit langem schon geht es Matthias wieder schlechter. Er benimmt sich seltsam. Mit eingezogenem Kopf schiebt er seinen Karren vor sich her, führt Selbstgespräche und verkriecht sich am Abend in seinem Zimmer. Als ihn neulich der alte Schuldirektor grüßte und nach seinem Befinden fragte, schaute Matthias erschrocken auf und sagte dann: „Mit dir red i nit! Weil di kenn i nit!“ Und ging schnell weiter. Nach ein paar Metern blieb er stehen und rief zurück: „Auf jeden Foll bist a Fisch! Des is sicher! Owa kennen tua i di nit! Weil i konn jo nit jeden kennen! Des wird ma jo z’viel mit da Zeit!“ Dasselbe passierte auch anderen alten Bekannten von Matthias. Und dann der Vorfall in der Kirche. Matthias kniet in der ersten Bank auf der Empore und betet mit geschlossenen Augen einen Rosenkranz. Steht dann plötzlich auf und schreit gegen den Altar: „Du wirst scho wissen, warum! Du wirst scho wissen, warum, nit!“ Die Leute im Kirchenschiff unten drehen die Köpfe, schauen herauf. Dem Pfarrer rutscht der Kelch vom Tablett. Einer der Bauern neben Matthias sagt leise: „Hock di nieder, Mascht!“ Und sofort setzt sich Matthias und verbirgt das Gesicht in den Händen. Der Bauer legt ihm die Hand auf den Arm, möchte etwas sagen und weiß nicht, was, und ist verlegen, weil er sieht, daß Matthias weint. Am meisten aber beunruhigt die alten Leute im Dorf, die an Matthias’ Schicksal seit seiner Jugendzeit Anteil genommen haben, daß er viele von ihnen nicht mehr erkennt, daß er es sogar ablehnt, mit ihnen zu sprechen, eben mit dem Hinweis darauf, daß sie ihm unbekannt seien.
Man hatte Matthias vor allem wegen seiner Fähigkeit bewundert, das Alter eines Menschen genau schätzen zu können. Auf den Monat genau. Früher hatte er selbst wildfremde Menschen auf der Straße angehalten, hatte sie prüfend angeschaut und gesagt: „Du bist a Stier, stimmts? Und a Sechsazwanzga, stimmts?“ Und es stimmte immer. Matthias genoß dieser Begabung wegen großes Ansehen, obwohl manche behaupteten, er habe sich einfach vorher erkundigt. Ein hervorragendes Gedächtnis konnten ihm allerdings auch diese Zweifler nicht absprechen. Immerhin war niemand unter den Bewohnern des Dorfes, dem er nicht irgendwann einmal das genaue Alter gesagt hatte.
Matthias hat es sich auch abgewöhnt, der Jugend des Dorfes seine selbsterfundenen Lieder vorzutragen. Begegnete ihm früher eine Gruppe von Kindern auf dem Schulweg, so legte er Besen und Schaufel in den Karren und sang seine Lieder, deren Texte niemand verstand, weil er Worte verwendete, die es nicht gibt. Es waren sehr schöne, aber auch sehr traurige Lieder. Die Leute nannten sie russische. Nicht nur die Kinder schätzten den Gesang von Matthias. Auch die Bauern blieben gerne stehen, wenn sie vorbeikamen, hörten zu und nickten beifällig mit dem Kopf.
Nun singt Matthias nicht mehr. Spricht auch kaum mehr. Hat offensichtlich Angst. Und kann nicht sagen, wovor. Weiß nur, daß etwas nicht mehr stimmt im Dorf. Daß etwas aus den Fugen geraten ist. Und so gerät auch Matthias wieder aus den Fugen. Seine Verstörung wächst.
Dabei hatte es so ausgesehen, als ob die Gefahr endgültig vorbei wäre. Jahrelang war es nun ganz gutgegangen. Als Matthias aus Hall zurückgekommen war, vor mehr als zwanzig Jahren, da hatten ihn alle gut behandelt. Das half ihm sehr, sich wieder in die Dorfgemeinschaft einzufügen, sich in der Freiheit langsam wieder zurechtzufinden. Man ist ihm mit einer gewissen Scheu begegnet, das sicher. Aber mit einer Art von Scheuheit, die man jemandem entgegenbringt, der etwas ganz Besonderes, Außergewöhnliches erlebt hat. Dieselbe Scheu hegte man vor einem Jungbauern, dessen Haare infolge eines unheimlichen Erlebnisses von einem Augenblick zum anderen fast schneeweiß geworden waren. An einem Morgen im Sommer ging dieser Bauer aufs Feld, um Gras zu mähen. Sein Vater befand sich seit drei Tagen auf der Alm, weil einer der Melcher mit gebrochenem Bein im Krankenhaus lag. Plötzlich – so erzählte der Bauernsohn – sei ihm der Vater durch den Morgennebel entgegengekommen. Er habe sich so langsam vorwärtsbewegt, als ob ihn etwas zurückhalten würde. Dann aber sei er ganz nahe, zum Greifen nahe gewesen. Der Vater habe die rechte Hand nach ihm ausgestreckt und habe anscheinend etwas sagen wollen. Als er – der Sohn – den Vater angesprochen habe und auf ihn zugehen, ihn fassen wollte, da sei der Vater wieder im Nebel verschwunden. Und er – der Sohn – habe sofort gewußt, daß der Vater tot war. Und tatsächlich – zwei Stunden später kam ein Senner mit der Nachricht, der alte Bauer sei in den frühen Morgenstunden verstorben. Die Leute im Dorf sprachen noch lange über dieses seltsame Ereignis. Wie diesem Bauernsohn, so brachte man also auch Matthias eine gewisse Scheu entgegen. Keiner machte je in seiner Gegenwart eine Anspielung auf den Ort, wo er die letzten sieben Jahre verbracht hatte. Auch er selbst schwieg davon. Der Gemeindesekretär, der Matthias wenige Monate vor seiner Entlassung besucht hatte, sprach im Wirtshaus einmal von Elektroschocks. Und vom Wasserbett. Die Leute konnten sich nichts Rechtes darunter vorstellen, und gerade deshalb lösten diese beiden Worte Bedrückung in ihnen aus. Das ungemein Friedfertige an Matthias erschien den Bewohnern des Dorfes unnatürlich. Seine traurige Sanftmut berührte sie.
Der erste Weg, nachdem er aus dem Zug gestiegen war, hatte Matthias zum Friedhof geführt. Den Gemeindesekretär, der ihn begleiten wollte, bat er, allein gehen zu dürfen. Der Gemeindesekretär willigte ein, folgte dann aber Matthias in angemessener Entfernung. Dieser fand das Grab seines Vaters sofort wieder. Eine Weile blieb er schweigend davor stehen, sank dann auf die Knie und sagte leise: „Griaß di, Dati. Dia hom mi erst jetzt auslossn. Sonst war i scho früher kemmen. – Jetzt brauchst koa Ongst mehr hom, Dati. Jetzt stör i di nimmer in deiner Ruah. – Vazeih mir, bitte! I hob nit gwußt, wos i tua. Vazeih mir, Dati!“ Matthias begann zu weinen. Der Gemeindesekretär trat hinzu und redete begütigend auf ihn ein. So wie er es vor sieben Jahren auch getan hatte. Als diese schreckliche Geschichte passiert war, deretwegen Matthias in die Nervenheilanstalt kam.
Einige Jahre schon hatte der Vater von Matthias im Unterleib Schmerzen verspürt. Aber am Land achtet man nicht so auf Schmerzen. Man geht nur zum Arzt, wenn es unbedingt nötig erscheint. Dem Vater von Matthias erschien es erst nötig, als der stechende Schmerz so unerträglich geworden war, daß er eine Woche lang nicht mehr hatte schlafen können. Der Gemeindearzt befürchtete Schlimmes und schickte den Mann in die Klinik nach Innsbruck. Dort schnitt man ihn auf und flickte ihn gleich wieder zu. Krebs im Endstadium. Nichts mehr zu machen. Man entließ ihn zum Sterben nach Hause. Unter furchtbaren Qualen vegetierte er noch sieben Wochen dahin. Er begann bei lebendigem Leibe zu verfaulen. Der Gestank zog aus seinem Zimmer und verbreitete sich im ganzen Haus. Es war nicht auszuhalten. Als man Matthias sagte, sein Vater liege im Sterben und wolle von ihm Abschied nehmen, weigerte er sich, das Zimmer zu betreten. Er lief davon und versteckte sich. An einem Donnerstagabend im August starb der Vater. Niemand war bei ihm. Auch der Pfarrer nicht. Beim Spenden der letzten Ölung hatte er sich übergeben müssen und kam nicht wieder. Da die hochsommerliche Hitze den Verwesungsprozeß beschleunigte, war das Begräbnis bereits für Freitag angesetzt. Inzwischen hatte jemand Matthias in einer Scheune gefunden und zurückgebracht. Man teilte ihm mit, daß sein Vater tot sei, aber er glaubte es nicht, wollte den Vater sehen. Dies wurde ihm in Anbetracht der Umstände verweigert. Auch war der Sarg bereits zugeschraubt. Matthias sagte darauf, er werde nicht zulassen, daß man seinen Vater lebendig begräbt. Er lief mit einer Axt in den Aufbahrungsraum und wollte den Sarg öffnen. Man hinderte ihn daran. Schlug ihn. Dann das Begräbnis. Matthias blaß und zitternd am Grab. Der Gemeindesekretär legt den Arm um seine Schulter, redet ihm gut zu. Heute ist Matthias’ sechzehnter Geburtstag. Keiner denkt daran. Als der Sarg in die Grube hinuntergelassen wird, springt Matthias nach, klammert sich am Sarg fest, schreit nach seinem Vater. Man holt Matthias heraus, bringt ihn nach Hause und sperrt ihn im Keller ein. Gegen Abend läßt man ihn wieder frei, und er scheint sich beruhigt zu haben. Sagt kein Wort und ißt nichts. Geht in das Zimmer des Vaters und legt sich auf dessen Bett. Um zwei Uhr nachts wird der Mesner durch Geräusche aufgeweckt. Er tritt ans Fenster und schaut auf den Friedhof hinunter. Sieht dort jemanden mit einer Schaufel arbeiten. Er geht mit der Taschenlampe hinaus und ertappt Matthias dabei, wie er das Grab seines Vaters wieder öffnet. Als der Mesner Matthias fragt, was er denn um Gottes willen hier mache, schlägt ihm Matthias die Schaufel über den Kopf. Der Mesner flüchtet und klopft den Gendarm heraus, daß er ihm helfe. Als er mit diesem den Friedhof wieder betritt, kommt ihnen Matthias entgegen. Auf den Armen trägt er den Körper seines Vaters. Wenn der Gendarm später im Wirtshaus von diesem Erlebnis erzählt, pflegt er immer zu sagen, daß der ganze Friedhof in Aufruhr gewesen sei. Niemals habe er sich gefürchtet, selbst im Krieg nicht, aber in jener Nacht seien ihm die Haare zu Berge gestanden. Nicht einmal seinem schlimmsten Todfeind möchte er so etwas wünschen. Als Matthias die beiden Männer sieht, legt er den Vater sachte auf den Boden und sagt: „Mein Dati tats ma es nit lewentiga eingrom, des sog i enk! No amol brauchts ma des nimmer probieren! Des mecht i enk grod gsogg hom! Weil sonst daschlog i enk! Wenns ma des no amol mochts!“ Die beiden Männer versuchen Matthias klarzumachen, daß sein Vater wirklich tot sei, aber es nützt nichts. Matthias nimmt ein Taschenmesser heraus, öffnet es und sagt: „Vaschwinds! Sonst stich i enk o!“ Der Gendarm geht, während er weiterredet, auf Matthias zu, faßt ihn blitzschnell beim Handgelenk, dreht ihm den Arm auf den Rücken, nimmt ihm das Messer weg. Dann zerrt er den verzweifelt sich wehrenden Jungen mit Hilfe des Mesners in den Gemeindekotter hinüber. Am nächsten Tag wird Matthias abgeholt und in die Heilanstalt gebracht.
Nach sieben Jahren war Matthias nun wieder heimgekehrt. Hatte bei seinem Vater Abbitte geleistet, und die Bewohner des Dorfes hießen ihn willkommen. Da er keine näheren Verwandten mehr hatte, übernahm die Gemeinde die Sorge für ihn. Er bekam Arbeit als Straßenkehrer und ein kleines Zimmer über dem Probelokal der Musikkapelle. Matthias begann sich wohl zu fühlen. Begann zu vergessen. Ging dann auch manchmal ins Wirtshaus, trank ein, zwei Glas Bier, schaute den Leuten beim Kartenspielen zu und sagte ihnen ihr Geburtsdatum. Den Bauern richtete er die Güterwege her und erhielt dafür Milch und Eier und gelegentlich ein schönes Stück Fleisch, wenn geschlachtet wurde. Als einmal die hochschwangere Frau eines Sägewerkarbeiters sich aus unbekannten Gründen vor den durchfahrenden Schnellzug warf und sowohl der Totengräber als auch der Gendarm sich weigerten, die verstreuten Teile des Körpers der Frau und des herausgerissenen Kindes einzusammeln, erklärte Matthias sich sofort dazu bereit. Sorgfältig suchte er alles mit bloßen Händen zusammen und legte es behutsam in den Plastiksack. Von da an holte man Matthias immer wieder für solche Aufgaben. Die Leute sagten: „Der Mascht is oana, dem graust vor gor nix! Der steht mitn Tod auf du und du!“ Auch das erhöhte zweifellos sein Ansehen.
So vergingen die Jahre, und mit Matthias schien alles in Ordnung zu sein. Doch dann geschah etwas, das Matthias verwirrte, unsicher machte, die Ordnung zerstörte, in der er lebte. Es kamen die Fremden. Sicher, auch früher hatten Urlaubsgäste das Dorf besucht. Aber es waren noch nicht so viele gewesen. Man bemerkte sie kaum. Nun aber kamen sie in Scharen. Wie Heuschreckenschwärme fielen sie ein. Früher war es auf den Straßen des Dorfes ziemlich ruhig gewesen – den Markttag und diverse Festlichkeiten ausgenommen. Matthias hatte ungehindert seine Tätigkeit verrichten können. Nun aber nahm der Verkehr immer mehr zu, überall am Straßenrand parkten Autos, und oftmals spazierten Hunderte von Menschen durch das Dorf. Matthias fühlte sich in seiner Arbeit behindert. Fühlte sich gestört von diesen fremden Leuten, die in einer Sprache redeten, die er meistens nicht verstand. Und Matthias stellte beunruhigt fest, daß sich das Dorf veränderte und mit ihm die Menschen. Die Bewohner des Dorfes hatten keine Zeit mehr. Sie mußten Pensionen bauen und Betten machen und Souvenirs verkaufen und die Gäste vom Bahnhof abholen. Kaum einer blieb noch bei Matthias stehen, um sich mit ihm zu unterhalten oder sich von ihm das Geburtsdatum sagen zu lassen. Nur die Bergbauern änderten sich nicht. Nach wie vor unterhielten sie sich freundlich und achtungsvoll mit Matthias, wenn sie ins Dorf herunterkamen, um Besorgungen zu machen.
Es ist nun soweit, daß Matthias sich überhaupt nicht mehr zurechtfindet. Er geht auch nicht mehr in die Wirtshäuser, um den Leuten beim Kartenspielen zuzuschauen. Man spielt nicht mehr viel Karten. Die jungen Burschen sind Schilehrer geworden und müssen sich am Abend den Gästen widmen. Sie schlüpfen in Lederhosen und lernen Tänze, die man den fremden Gästen gegenüber als Volkstänze ausgibt. Matthias erkennt auch die meisten Wirtshäuser nicht wieder. Sie wurden umgebaut, ausgebaut, modernisiert. Auf der Speisekarte findet Matthias Gerichte, von denen er nie im Leben gehört hat. Matthias fühlt sich nicht wohl in diesen Lokalen. Und zweimal schon hatte man ihm den Eintritt verwehrt. Der Wirt seines Stammlokals sagte eines Tages zu Matthias, er solle ihm nicht böse sein, aber mit den dreckigen Gummistiefeln lasse er ihn nicht in die Gaststube. Er habe den neuen Boden nicht hereinmachen lassen, damit er, der Matthias, mit seinen dreckigen Stiefeln darauf herumtrample. Auch seien die Stühle neu bezogen, und er wolle nicht, daß Matthias sich mit seiner staubigen Hose daraufsetze. In einem anderen Gasthaus sagte man ihm, er würde dauernd auf das Tischtuch trenzen, und das sei den Gästen nicht zumutbar. Außerdem sei man auf ihn nicht angewiesen. Er konsumiere ja sowieso nur ein Bier den ganzen Abend lang. Matthias war tief verletzt. Schämte sich seiner selbst. Verstand nicht, warum die Menschen im Dorf ihr Verhalten so geändert hatten.
Matthias reagierte auf seine Weise. Er hat nun den Spieß umgedreht. Er verkriecht sich in sich selber. Er verliert sein Gedächtnis. Sein Erinnerungsvermögen. Der alte Gemeindesekretär, längst pensioniert, ist einer der wenigen, mit denen Matthias noch spricht. Wenn er auch nicht zuhört, was dieser antwortet. „Woaßt“, sagte Matthias zum Gemeindesekretär, „woaßt, früher hob i an jeden kennt. An jeden. A dia, dia wos i nit kennt hob. Do wor ma koana fremd. Owa jetzt kenn i bold üwahaupt koan mehr. Dia vaschwinden olle! I woaß nit, wohin. Sterms oder wos. I woaß nit. I kenn holt immer weniger. I siech nur Fremde. Und dia megn mi nit. Koana mog mi mehr! Olle seins ma fremd! I kenn mi üwahaupt nimmer aus! Irgendwos geht vor, hinter mein Buggl. Irgendwos. Wenn i nur wißat, wos!“
Matthias macht auch wieder Dinge, die seit Jahren nicht mehr vorgekommen sind. In der Kirche kratzt er sich das Gesicht blutig, und wenn man ihn fragt, warum er das tue, antwortet er: „Da Herrgott hot no viel mehr leiden miassn!“
Es ist auch bekanntgeworden, daß Matthias seinen Lohn nicht mehr zu Hause aufbewahrt, sondern im Wald an verschiedenen Plätzen eingräbt. Er kennzeichnet die Stellen mit Steinen und Zweigen und irrt dann tagelang im Wald umher, weil er sich nicht mehr erinnern kann, wo er das Geld vergraben hat. Unter den Kindern ist deshalb ein regelrechtes Schatzsucherfieber ausgebrochen.
Dann die Geschichte des Jagdaufsehers. Dieser erzählte, daß er Matthias im Wald mit einem Strick in der Hand angetroffen habe. Und als er ihn gefragt habe, was er denn mit dem Strick wolle, habe Matthias diesen hinter dem Rücken verborgen und gesagt: „Mit dir red i nit! Weil di kenn i nit!“ Darauf habe er – der Jagdaufseher – das Gewehr von der Schulter genommen und habe im Spaß gesagt: „Geh her, Mascht, stell di auffi auf den Stock do, nocha schiaß i di ocha! Da sporst da s’Aufhängen!“ Worauf Matthias davongerannt sei.
Seltsamerweise erträgt Matthias auch die Blasmusik nicht mehr. Wenn die Kapelle Probe hat, verläßt er das Haus und kommt erst zurück, nachdem die letzten Musiker gegangen sind. Früher hatte es ihm großen Spaß gemacht, den von unten herauf erklingenden Märschen auf dem Bett liegend zuzuhören. „I brauch koan Radio in meiner Wohnung!“ pflegte er zu sagen. „Zwoamol in da Woch hob i a Gratiskonzert!“
Matthias beginnt nun schon immer um drei Uhr morgens mit der Straßenreinigung. Da ist er noch allein, und keiner stört ihn bei der Arbeit. Tagsüber hält Matthias sich vorwiegend am Rand des Dorfes auf. Stundenlang sitzt er auf einer kleinen Anhöhe und betrachtet seinen Heimatort. Er ist ihm fremd geworden.
Er fühlt, daß er sein Zuhause verloren hat. Für immer. Matthias steht auf und schreit seine Verzweiflung ins Dorf hinunter. Aber niemand hört ihn. Man baut Pensionen, macht die Betten, verkauft Souvenirs und holt die Gäste vom Bahnhof ab.

Erstmals veröffentlicht in Föhn, Heft 2, 1979

 

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